Biografien, Kunst

Frauen in der Kunst. Meisterinnen

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 4/2023

Katy Hessel: The story of art without men. Große Künstlerinnen und ihre Werke. München: Piper Verl., 2022. 458 S., 50 ungezählte Seiten Register. ISBN 978-3-492-05944-2. € 32.00

    „Beim Besuch einer Kunstmesse im Oktober 2015 machte ich eine ernüchternde Entdeckung: Keines von den vielen Werken dort stammte von einer Frau. Das gab mir zu denken. Konnte ich spontan 20 Malerinnen aufzählen? Zehn vor 1950? Irgendeine vor 1850? Nein. Hatte ich die Geschichte der Kunst im Grunde bis dahin immer aus einer männlichen Perspektive betrachtet? Ja.“ (S. 9) Das ist der Ausgangspunkt für dieses vorzügliche Buch von Kathy Hessel.

    Die US-amerikanische Kunsthistorikerin Linda Nochlin (1931–2017) legt den Grundstein für eine feministische Kunstgeschichtsschreibung u.a. mit ihrem 1971 in der Zeitschrift ARTnews erscheinenden Essay „Why have there been no ­great woman artists?“ Die 1994 geborene britische Kunsthistorikerin Kathy Hessel will nun in ihrer beeindruckenden The story of art without men die von Männern dominierte Sichtweise auf die Kunst zugunsten einer ausführlichen Präsentation erweitern. Schon vor dieser Veröffentlichung betreibt Hessel in Anlehnung an Nochlins Essay mit „The Great Women Artists“ einen Instagram-Account und Podcast.

    Das Buch „ist keine verbindliche Chronik, aber ich möchte einen Kanon aufbrechen, der mir in der Kultur, in der ich aufgewachsen bin, so oft im Weg stand“, es ist ein neuer Kanon auf „die sogenannte Bibel der Kunstgeschichte“ zu der 1950 erstmals erscheinenden Geschichte der Kunst von Ernst Gombrich (1909–2001). „Es ist ein wundervolles Werk mit einer entscheidenden Schwäche“ (S. 11), es kommt bis auf die 16. Auflage ganz ohne Frauen aus, in dieser 16. ist es aber nur eine einzige!

    Das Buch ist in fünf große Abschnitte mit 18 Kapiteln chronologisch gegliedert. Die Autorin durchstreift die Geschichte chronologisch: Wegbereiterinnen von 1500 bis 1900 – Das Moderne an der Kunst von 1870 bis 1950 – Nachkriegsfrauen von 1945 bis 1970 – Inbesitznahme von 1970 bis 2000 – Die Kunstgeschichte wird weitergeschrieben von 2000 bis heute. Auf Beispiele soll hier verzichtet werden. Neben den einzelnen Künstlerinnen und ihrer Einordnung in künstlerische Strömungen schildert die Autorin die politischen, gesellschaftlichen und vor allem sozialen Bedingungen, unter denen die Künstlerinnen arbeiten müssen und welchen Einfluss diese auf das jeweilige Schaffen haben.

    Diese flüssig unterhaltsam geschriebene, reich bebilderte Kunstgeschichte der Frauen ist eine Entdeckungsreise in eine für viele Leser unbekannte Welt der Kunst. Es wendet sich an einen großen Kreis von Interessenten, es setzt keine Vorkenntnisse voraus. Ein grandioses Buch!

     

    Michael Imhof: Frauen in der Kunst von Nofretete bis Marilyn Monroe. Petersberg: Michael Imhof Verl., 2021. 272 S. ISBN 978-3-7319-0827-2. € 29.95

      Michael Imhof dokumentiert in dem opulenten Bild-TextBand Frauen in der Kunst von Nofretete bis Marilyn Monroe die Darstellung der Frau in der Kunst in 271 Farbbildern und stellt die Frage: „ein häufiges Thema in der Malerei und Skulptur? Daraus resultierend gäbe es unzählige Abhandlungen zu diesem Themenbereich? Doch weit gefehlt.“ (S. 8) Eine kunsthistorische Übersicht zum Thema Frauendarstellung, so der Autor, findet sich nur in wenigen Ausstellungskatalogen, obwohl Bilder und Skulpturen mit der Darstellung von Frauen zu den berühmtesten Werken der Kunst gehören.

      Der Autor stellt die ganze Bandbreite von Motiven vor, in denen Frauen als Bildmotive in Erscheinung treten – von den Darstellungen antiker Göttinnen (Aphrodite, Venus, Nymphen), Frauen für die Geschichtsbücher (Nofretete, Kleopatra, Johanna von Orléans), Frauen in der Bibel (Eva, Judith, Maria Magdalena) und christlichen Tugenden (Nächstenliebe, Glauben) über die eleganten Damen (Die Toilette der Venus, Ankleiden, Der Tanzball) und die Künstlerinnen (Malerinnen, Musikerinnen, Filmschauspierinnen) bis zu den Liebenden (Amor & Psyche, Brautwerbung, Liebesbrief) und in besonderer Ausführlichkeit der Maler und sein Modell (Erfindung der Zeichenkunst, Evangelist Lukas malt die Gottesmutter, Raffael zeichnet die Madonna della Sedia, das Modell in der Akademie und im Atelier).

      Die Zeitspanne reicht von Nofretete aus der Zeit 1330 v.Chr. und einem ägyptischen Mumienporträt einer jungen Dame aus Ägypten erste Hälfte des 2. Jahrhundert n.Chr. über Albrecht Dürers Porträt seiner Mutter von 1515 bis zur Federzeichnung einer 17jährigen Schönheit von Peter Henryk Blum aus dem Jahr 1987.

      Es ist nicht nur ein Kaleidoskop bester Farbfotos in großartiger Auswahl, sondern auch eine exzellente Vorstufe zu einer umfassenden Kunstgeschichte der Frau.

       

      CLOSE-UP 7 / Hrsg. Theodora Vischer für die Fonda­ tion Beyeler. Berlin: Hatje Cantz Verl., 2021. 340 S. ISBN 978-3-7757-4756-1. € 54.00

        In der Foto- und Filmtechnik bezeichnet Close-Up eine Naheinstellung, die bei Gesichtsaufnahmen die Mimik und die Emotionen deutlicher hervortreten lässt als bei herkömmlichen Aufnahmen. Die gleichnamige Ausstellung in der Fondation Beyeler untersucht den näheren Blick von Künstlerinnen auf ihr Gegenüber, sie „zeigt Werke von neun Künstlerinnen, deren Schaffen für herausragende und profilierte Positionen innerhalb der Geschichte der Moderne seit 1870 steht.“ (S. 9) Dies sind chronologisch die Französin Berthe Morisot, die Amerikanerin Mary Cassatt, die Deutschen Paula Modersohn-Becker und Lotte Laserstein, die Mexikanerin Frida Kahlo, die Amerikanerin Alice Neel, die Südafrikanerin und später in Amsterdam ansässige Marlene Dumas, die Amerikanerinnen Cindy Sherman und Elizabeth Peyton. Den ausgewählten Künstlerinnen ist die Auseinandersetzung mit dem Porträt und dem Selbstporträt gemeinsam.

        Den Auftakt der Ausstellung macht die in Paris lebende russische Künstlerin Marie Bashkirtseff (1858–1884), die dank ihres nach ihrem frühen Tod veröffentlichten Tagebuchs und des berühmten Gemäldes der Damenklasse in der Académie Julien von großem dokumentarischem Wert ist. Ihr Tagebuch wird zu einem Kultbuch ihrer Frauengeneration.

        Die über 100 ausgestellten Porträts ermöglichen einen Einblick, wie sich der Blick der Künstlerinnen auf ihr Gegenüber – auf die Personen, die sie porträtieren oder auf sich im Selbstporträt – in einem Zeitraum von 120 Jahren wandelt, „was sich in ihm widerspiegelt und was ihn auszeichnet“. (S. 9)

        Close-up soll zeigen, „dass die mit der Ausstellung verknüpfte Erzählung sich im Kontext einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Entwicklung abspielt, die mit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingesetzt hat und deren Folgen bis heute wirksam sind.“ (S. 14) Es beginnt damit, dass die Frauen kaum Möglichkeiten haben, professionell künstlerisch tätig zu sein, und es führt in die heutige Zeit, „seit den 1990er Jahren gilt es als Selbstverständlichkeit, dass Kunst von Künstlern und Künstlerinnen gleichermaßen geschaffen wird.“ (S. 14)

        Am Beginn der Ausstellung stehen Morisot und Cassatt, die zu wichtigen Vorbildern für die nachfolgenden Generationen von Künstlerinnen werden. An ihrem Ende stehen mit Sherman (geb. 1954) und Peyton (geb. 1965) Frauen, die mit dem Selbstbewusstsein der emanzipierten Frau und den neuen Technologien und Institutionen wie Kino, Fernsehen und Social Media aufwachsen.

        Der sehr gut gestaltete Ausstellungskatalog enthält neben zahlreichen Abbildungen und den Chronologien zu den Künstlerinnen eine wundervolle Einführung zum Thema.

         

        Anna Sophia Messner: Palästina/Israel im Blick. Bildgeographien deutsch-jüdischer Fotografinnen nach 1933. Göttingen: Wallstein Verl., 2023. 376 S. (Israel-Studien Kultur – Geschichte – Politik. Band 6) ISBN 978-3-8353-5205-6. € 47.00

          „Vor etwa 15 Jahren wurde ein mit Fotografien und Dokumenten gefüllter Koffer auf einem Müllhaufen in Haifa gefunden und einem Privatsammler in der Nähe von Jerusalem übergeben. Der Inhalt des Koffers gewährt Einblicke in das Leben und Werk der Fotografin Alice Hausdorff“ (S. 11), die weder in Publikationen zur Geschichte der Fotografie in Deutschland noch in Israel erwähnt wird. Das betrifft auch weitere neun heute weitgehend vergessene deutschjüdische Fotografinnen, die nach 1933 aus Deutschland fliehen müssen und nach Palästina/Israel emigrieren: Marianne Breslauer, Lou Landauer, Aenne Mosbacher, Ellen Auerbach, Marli Shamir, Ricarda Schwerin (ihr Mann Heinz Schwerin ist Jude, sie selbst ist nichtjüdischer Herkunft, beide sind Absolventen des Bauhauses und Kommunisten), Liselotte Grschebina und die Schwestern Charlotte und Gerda Meyer.

          Diese Fotografinnen sind Teil der avantgardistischen Strömungen der Weimarer Republik und gestalten diese maßgeblich mit, und sie sind auch ein „Teil der sich in der Weimarer Republik herausbildenden emanzipatorischen Bestrebungen und der damit einhergehenden neuen weiblichen Identität, der Neuen Frau, die in ihrem Leben und Werk auf vielfältige Art und Weise Ausdruck“ (S. 337) finden. Dies erfährt 1933 ein jähes Ende. Da dies de facto einem Berufsverbot gleichkommt und die Bedrohungen zunehmen, verlassen sie Deutschland und emigrieren im Laufe der 1930er Jahre nach Palästina. Dort finden sie eine Foto-Domäne vor, deren Geschichte bis 1839 zurückreicht. Unter schwierigen Bedingungen gelingt ihnen die Fortsetzung ihrer fotografischen Tätigkeit.

          Das erste Kapitel umfasst Forschungsstand, Methoden, Theorien und Fragestellungen, die Stellung der Fotografinnen in der Weimarer Republik und eine kurze Geschichte der Fotografie in Palästina und im frühen Staat Israel. Das zweite Kapitel „zeigt am Beispiel unterschiedlicher Medien, wie dem Fotoalbum, dem Fotobuch und fotografischen Postkarten, die in Deutschland zirkulierten, auf welche Art und Weise sich die visuelle Rezeption Palästinas im Kontext der kulturhistorischen Entwicklungen verändert hat“ (S. 345), im Mittelpunkt die Fotografinnen Breslauer, Landauer und Mosbacher. Das dritte Kapitel zeichnet den Weg der Fotografinnen Auerbach, Shamir und Schwerin nach Palästina nach und untersucht deren Verhältnis zu ihrer neuen Heimat. Das vierte Kapitel widmet sich den Themen und Motiven, denen sich die Fotografinnen Grschebina, Charlotte und Gerda Meyer, Landauer und Hausdorff „im Auftrag zionistischer Institutionen und im Hinblick auf die Herausbildung einer israelischen Kunst- und Kulturlandschaft gewidmet haben“ (S. 348). Es gibt 100 Abbildungen, zu den die exzellenten Porträts von Arnold Zweig, Golda Meir, Martin Buber und seines Freundes Elijahu Rappeport (nicht Rapperport Abb. 99) gehören.

          Die Autorin zeigt in akribischer Forschungsarbeit den bedeutenden Kultur- und Kunsttransfer der Avantgarde-Fotografie von Deutschland nach Palästina/Israel. So entsteht eine neue Sichtweise auf die Geschichte der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, auf Flucht und Exil und den sog. Nation-Building Prozess in Palästina und im frühen Staat Israel. Chapeau!

           

          Friedl Dicker-Brandeis. Bauhaus-Schülerin, ­Avant­garde-Malerin, Kunstpädagogin. Hrsg. Hemma Schmutz, Brigitte Reutner-Doneus. München: Hirmer, 2022. 269 S. ISBN 978-3-7774-3846-7. € 38,00</b

            Im Zusammenhang mit dem Bauhaus-Zentenarium 2019 findet eine Neubewertung der bis dato wenig beachteten Künstlerin Friedl Dicker-Brandeis (1898–1944) statt; Würdigungen finden sich auch in Rezensionen des fachbuchjournals (u.a. 12 (2020) 1, S. 71-72).

            Friedl Dicker wird 1898 in Wien geboren, absolviert zunächst in ihrer Geburtsstadt an der Graphischen Lehrund Versuchsanstalt eine Lehre in Fotografie und Reproduktionstechnik, an der Kunstgewerbeschule besucht sie die Textilklasse, dann studiert sie an der Privatschule von Johannes Itten, mit dem sie 1919 an das neugegründete Bauhaus in Weimar geht. Dort sind ihre Lehrer neben Itten Paul Klee, Wassily Kandinsky und Lyonel Feininger, sie studiert Weberei, Architektur, Innenarchitektur, Druck, Buchbinderei, Bühnenbild und Kostümbildnerei. Friedl gilt als eine der talentiertesten Schülerinnen des Bauhauses. Als Itten 1923 seine Lehrtätigkeit am Bauhaus beendet, verlassen auch Friedl und der mit ihr befreundete BauhausSchüler Fritz Singer Weimar. Sie gründen in Berlin die bis 1926 bestehenden „Werkstätten Bildender Kunst“. 1925 kehrt Friedl nach Wien zurück und betreibt ein erfolgreiches Büro für Architektur und Innenarchitektur. Friedl wird Kommunistin, sie wird für ihre Arbeiten für die Kommunistische Partei 1931 zu einer mehrmonatigen Haftstrafe verurteilt. Danach zieht sie nach Prag, lernt dort ihren Cousin Pavel Brandeis kennen, den sie wenig später heiratet. Nun widmet sie sich hauptsächlich der Malerei. Nach dem Münchner Abkommen von 1938 wechselt das Ehepaar mehrfach den Wohnort, 1942 werden sie nach Theresienstadt deportiert, wo Friedl im Kinderheim des Ghettos als Lehrerin arbeitet. 1944 wird sie in Auschwitz ermordet, ihr Mann überlebt. Aus Theresienstadt sind 5000 Kinderzeichnungen überliefert, die Mehrzahl von ihnen aus den von Dicker-Brandeis durchgeführten Kursen. Friedl Dicker-Brandeis ist eine umfassende Retrospektive im Lentos Museum in Linz gewidmet, die einen Überblick über das vielseitige Schaffen der Künstlerin gibt. Sie präsentiert Zeichnungen und Gemälde, Fotocollagen, Webmuster, Textilentwürfe und Buchbinderarbeiten, Entwürfe für Gebäude, Wohnräume und Möbel, politisch-motivierte Bilder, Porträts und Landschaften im Stil der Neuen Sachlichkeit sowie großformatige Plakate für den Klassenkampf im Rahmen der Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei. Zur Ausstellung erscheint die vorliegende ausführliche Publikation, die den aktuellen Forschungsstand zu Leben und Werk der Künstlerin wiedergibt. Neben einem umfangreichen Bildteil (S. 132241) finden sich eine ausgezeichnete Einführung in Leben und Werk und zehn Beiträge zu einzelnen Aspekten wie die Architekturentwürfe aus dem Berliner Atelier, ihre Zeichnungen und Gemälde sowie die Kunsttherapie nach Dicker-Brandeis.

            Eine würdige Ehrung der Kunstpädagogin, Malerin und Designerin und ihrer Leistungen für Kunst, Pädagogik und Politik.

             

            Emmy Haesele. 1894-1987. Ferdinand Altnöder, Brigitte Reutner-Doneus et al. Salzburg: Verl. Anton Pustet, 2021. 120 S. ISBN 978-3-7025-1035-0. € 22.00

              Emmy Haesele (1894–1987) ist eine heute weitgehend vergessene Expressionistin Österreichs, eine Ausstellung im Lentos Kunstmuseum Linz zeigt die gezeichnete Welt der Emmy Haesele.

              Emma Helene Göhring wird in Wien geboren, ihr Vater betreibt eine Arztpraxis. 1919 heiratet sie ihren Jugendfreund, den Arzt Hans Haesele, der im Ersten Weltkrieg nach Ost­ ungarn abkommandiert wird. Emmy kommt nach und arbeitet als Rot-Kreuz-Schwester in einem Lazarett. 1917 und 1918 werden ihre beiden Kinder geboren. 1919 wird ihr Mann Sprengelarzt in der kleinen Salzburger Landgemeinde Unken bei Lofer. Die kulturinteressierte Emmy reist nach Paris, Salzburg und Darmstadt, hier zur „Schule der Weisheit“ von Hermann Graf Keyserling. An Theo-

              sophie und Philosophie interessiert, beginnt sie im Alter von 36 Jahren, ihre Träume und Bilder des Unbewussten zu zeichnen. Bald darauf arrangiert der mit ihr befreundete deutsche Schriftsteller Oscar A. H. Schmitz ein Treffen mit seinem Schwager Alfred Kubin, deren Liebhaberin sie von 1933 bis 1936 wird. Durch den intensiven Austausch mit Kubin ändert sich Emmys Zeichenstil tiefgreifend. Es entstehen in Bezug auf Jungs Archetypenlehre expressive, märchenhafte und skurrile Sinnbilder. Politisch sympathisiert sie mit den Nationalsozialisten und wird 1938 Mitglied der NSDAP. Im Zweiten Weltkrieg verliert sie Sohn und Ehemann. Nach Kriegsende wird sie wegen unerlaubten Waffenbesitzes für ein Jahr inhaftiert. Diese tragischen Schicksalsschläge versucht sie zeichnerisch zu verarbeiten. Sie zieht 1948 zu ihrer Schwester nach Bad Aussee, 1956 übersiedelt sie nach Wien, bevor sie 1979 zu ihrer Tochter nach Bad Leonfelden zieht. Ihr unstetes Leben spiegelt sich in ihren Werken wider.

              Das ausgezeichnet gestaltete Buch enthält eine Auswahl aus den über 700 erhaltenen Zeichnungen, ergänzt um drei umfassende Beiträge zu Leben und Werk von Emmy Haesele und einen biografisch-bibliografischen Anhang. Es vermittelt uns Haeseles zeichnerisches Werk, das zu den großen Schöpfungen des Spätexpressionismus in Österreich zählt, auf großartige Weise.

               

              Ida Maly 1894-1941 / Hrsg. Hemma Schmutz, Anna Lehninger. Petersberg: Michael Imhof Verl., 2021. 128 S. ISBN 978-3-7319-1137-1. € 22.00

                „Die Ausstellung und das Buch setzen dieser außergewöhnlich begabten und starken Künstlerin ein Denkmal, erinnern an ihre Geschichte und feiern die Qualität ihrer Werke … Mit der Aufarbeitung bedeutender Künstlerinnen leisten die Museen der Stadt Linz einen wichtigen Beitrag zur Neuformulierung der österreichischen Kunstgeschichte.“ (S. 7) Nach Emmy Haesele und Friedl Dicker-Brandeis ist es Ida Maly.

                Ida Maly (1894–1941) wächst in Graz in einer bürgerlichen, künstlerischen Interessen aufgeschlossenen Familie auf. Erste Station ihrer künstlerischen Reise ist die Kunstgewerbeschule Wien. Es folgen zwischen 1918 und 1925 München, Berlin, Dresden und Paris. Sie treibt Sport und arbeitet als freischaffende Künstlerin. Ihr Freiheitsdrang, ihre emanzipatorischen Ziele, ihre künstlerische Begabung, die Aufgaben einer alleinerziehenden Mutter, sie wird 1921 Mutter einer unehelichen Tochter, und die finanziellen Engpässe überfordern sie. Sie wird krank, kehrt nach Graz zurück und erhält 1928 die Diagnose Schizophrenie, verbunden mit der Einlieferung in die „Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Geisteskranke am Feldhof“ in Graz. Nachdem die Nationalsozialisten Österreich besetzen, wird sie im Rahmen des Euthanasie-Programms Aktion T4 im Februar 1941 in die Tötungsanstalt Hartheim abtransportiert und vergast. Ihre Werke geraten in Vergessenheit, erst 1996 wird ihr Name für eine Ausstellung ausgeforscht.

                Die Herausgeber weisen nach, dass mit dem vielschichtigen Werk, das Ida Maly hinterlässt, neue Aspekte des österreichischen Kunstschaffens der Zwischenkriegszeit sichtbar werden. Die Ausstellung trägt zurecht den Titel Ida Maly. Zwischen den Stilen, denn ihre Arbeiten zeigen eine Nähe zu unterschiedlichen Strömungen wie Jugendstil, Expressionismus, Art déco und Neue Sachlichkeit. „Zentrales Motiv im Schaffen der Künstlerin ist der Mensch“ (S. 11), die Landschaft spielt eine untergeordnete Rolle. Sie gestaltet Exlibris, Stillleben, Frauenakte und vieles andere mehr. Am meisten beeindrucken den Rezensenten die in der psychiatrischen Anstalt mit dem Bleistift angefertigten Porträts, in denen die Künstlerin den Insassen Würde und Raum gibt.

                „Dem künstlerischen Schaffen wie auch der Lebensgeschichte der österreichischen Künstlerin Ida Maly kann man sich nur schwer entziehen, beides lässt uns nicht gleichgültig.“ (S. 9) Eine ausgezeichnete Publikation, die nicht nur über 80 Abbildungen enthält, sondern auch eine ausführliche Würdigung von Leben und Werk der Ida Maly.

                 

                Uwe M. Schneede: Paula Modersohn-Becker. Die Malerin, die in die Moderne aufbrach. München: Verl. C.H.Beck, 2021. 239 S. ISBN 978-3-406-76045-7. € 29.95

                  „Sie war, wie wir heute wissen, eine der großen Künstlerpersönlichkeiten der Moderne. Als sie 1907 im Alter von 31 Jahren starb, hatte sie mit einem gewichtigen Werk die kurze Epoche zwischen dem Alten und dem Neuen, dem 19. und dem 20. Jahrhundert künstlerisch wesentlich geprägt, eine Phase, in der die Kunst stagnierte, jedenfalls in Deutschland. Erst nach ihr begannen die Avantgarden wie die Brücke und der Blaue Reiter die weiterreichende Erneuerungsarbeit“ (S. 9): Paula Modersohn-Becker. Die Malerin, die in die Moderne aufbrach. Nun liegt die lang erwartete Biographie vor, verfasst von dem Kunstwissenschaftler Uwe Schneede, einem der besten Kenner von Leben und Werk der Künstlerin.

                  Minna Hermine Paula Becker (1876–1907), Tochter eines Bauinspektors, besucht von 1893 bis 1895 das Lehrerinnenseminar in Bremen und nimmt Mal- und Zeichenunterricht bei dem Maler und Bühnenbildner Bernhard ­Wiegandt, anschließend studiert sie an der Mal- und Zeichenschule des Vereins der Berliner Künstlerinnen und Kunstfreundinnen. Nach einem ersten Besuch in Worpswede 1897 lässt sie sich ein Jahr später dort nieder, besucht Museen und Ateliers u.a. in der Schweiz, in München, Nürnberg, Dresden und Paris, oft begleitet von ihrer Freundin Clara Westhoff, der Bildhauerin und späteren Frau von Rainer Maria Rilke. Sie begegnet u.a. Heinrich Vogeler, Carl Hauptmann und Werner Sombart. 1901 heiratet sie Otto Modersohn. Danach folgen weitere Reisen, u.a. nach Paris zu Rodin und Denis. In all diesen Zeiten malt sie, die Hauptwerke entstehen erst 1906, nach ihrer Trennung von Modersohn und ihrem Umzug nach Paris. Ein Jahr später stirbt sie, zurückgekehrt nach Worpswede, nach der Geburt ihrer Tochter, an einer Embolie.

                  Der Autor verortet sie als eine Einzelgängerin, die aus der provinziellen Enge der norddeutschen Kolonie Worpswede flieht und versucht, ihre Erfüllung in Paris zu finden. Aus der für die Künstlerin maßgeblichen Pariser Perspektive entsteht in nur zehn Jahren „ein eigenständiges, allein dastehendes Werk … eine Malerin, die eigensinnig in die Moderne aufbrach“. (S. 10) Und so erschient die Künstlerin heute „als eine singuläre, letztlich in Paris anzusiedelnde Künstlerpersönlichkeit, als die Schöpferin einer neuen Ikonographie und als epochale Wegbereiterin der Moderne unmittelbar vor dem Auftritt der deutschen Avantgarden.“ (S. 10) 120 äußerst gelungen reproduzierte Abbildungen, darunter viele unbekannte Arbeiten, begleiten den Text. Ein wunderbar geschriebenes und vorzüglich gestaltetes Buch erwartet den Leser.

                   

                  der augenblick – die fotografin annelise kretschmer. Köln: Wienand Verl., 2022. 271 S. ISBN 978-386832-679-6. € 32.00

                    Die in Dortmund geborene Annelise Silberbach (1903– 1987) studiert von 1920 bis 1922 an der Kunstgewerbeschule in München Buchbinderei und Zeichnen. Es folgt ein Volontariat im Porträtatelier des Schweizer Fotografen Leon von Kaenel in Essen. 1924 wechselt sie nach Dresden und wird Meisterschülerin von Franz Fiedler, sie beginnt, ihre Fotografien regelmäßig in Illustrierten und Zeitungen zu publizieren. 1928 heiratet sie den Bildhauer Sigmund Kretschmer. 1929 eröffnet sie in ihrer Heimatstadt ein Atelier und widmet sich vor allem der Porträtfotografie. Sie findet bei Reisen nach Paris mit Florence Henri und Ilse Bing Gleichgesinnte. Nach 1933 wird sie wegen der jüdischen Herkunft ihres Vaters Anfeindungen und Schikanen ausgesetzt, bleibt bis zum Kriegsende von Schlimmerem verschont, ihre Karriere aber endet schlagartig. 1950 eröffnet sie ihr zerstörtes Studio neu, fotografiert für Kunden aus Industrie und Wirtschaft und erschafft zahlreiche Porträtaufnahmen. Erst in den 1990er Jahren erfolgt eine umfassende Würdigung ihrer Arbeit und werden Vergleiche mit Gerda Taro und Lotte Jacobi gezogen. Ihr Nachlass, bestehend aus 2600 Fotografien als Originalvergrößerungen und 13000 Schwarzweiß-Negativen, befindet sich seit 2019 im LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster.

                    Der Band, bestehend aus elf thematischen Essays, belegt, dass Annelise Kretschmer zu den bedeutenden deutschen Fotografinnen des vergangenen Jahrhunderts gehört. Ihre Arbeiten geraten durch die Ereignisse von 1933 bis 1945 in Vergessenheit, obwohl die Künstlerin schon in der Weimarer Republik einen Namen hat. Die Abbildungen zeigen u.a. die frühen Modefotografien, Stadt- und Reisebilder mit ungewöhnlichen Motiven abseits der lebendigen Straßen und Plätze, zahlreiche Porträts von Künstlern und Wissenschaftlern (z.B. Fotograf Franz Fiedler, Textilkünstlerin Elisabeth Kadow, Pianist Carl Seemann, Bildender Künstler Gerhard von Graevenitz, Bildhauer Ewald Mataré, Astronom Karl-Otto Kiepenheuer), von Arbeitern und Bauern (z.B. Büglerin, Wäscherin, Bauerkind, Maschinist) sowie Industriellen (Friedrich Stiegler, Hugo Vedder). Eine gelungene Publikation.

                     

                    Meret Oppenheim. Mein Album. Das autobiografische Album Von der Kindheit bis 1943 und ihre handgeschriebene Biografie / Hrsg. Lisa Wenger, Martina Corgnati. Zürich: Verl. Scheidegger & Spiess, 2022. 324 S. ISBN 978-3-03942-093-3. € 48.00

                       

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                      Simon Baur: Meret Oppenheim Geheimnisse. Eine Reise durch Leben und Werk. Zürich: Verl. Scheidegger & Spiess, 2021. 223 S. ISBN 978-3-03942-063-9. € 48.00

                        Meret Oppenheim (1913–1985) ist die Tochter des deutsch-jüdischen Arztes Erich Alfons Oppenheim und seiner Schweizer Frau Eva Wenger, einer Tochter von Lisa Wenger, der großen Schweizer Kinderbuchautorin und Malerin. Nach schulischer Ausbildung beschließt sie 1931 Malerin zu werden. Sie geht nach Paris und trifft dort Alberto Giacometti, Hans Arp, Max Ernst und Man Ray; in Kreisen von André Breton und Marcel Duchamp entstehen einige bedeutende Kunstobjekte, u.a. die pelzbezogene Kaffeetasse. Meret wird zur Muse der Surrealisten. Ein früher, wohl zu früher Ruhm, der eine 17 Jahre andauernde Schaffenskrise auslöst. 1949 heiratet sie den Kaufmann Wolfgang La Roche. Erst ab 1954 findet sie zu Kreativität und Experimentierfreude zurück. Es folgt ein intensives Schaffen: surrealistisch verfremdete Objekte, Kostüme, Masken, Schmuck und Möbel und das wenig bekannte poetische Spätwerk. Sie lebt in Paris, Bern und Carona TI. Sie gehört mit André Breton, Luis Buñuel und Max Ernst zu den wichtigsten Vertretern des Surrealismus. Ihr Werk wird immer überstrahlt bleiben von der berühmten in Paris 1936 entstandenen pelzbezogenen Kaffeetasse und dem 1983 errichteten Brunnen in Bern. 2013 erscheint im Verlag Scheidegger & Spiess ein Band mit unveröffentlichten Briefwechseln von Meret Oppenheim unter dem Titel Worte nicht in giftige Buchstaben einwickeln (Rez. in: fachbuchjournal 5 (2013) 6, S. 62). Darin enthalten sind auch das Faksimile des autobiografischen Albums Von der Kindheit bis 1943. Das letztere liegt in einer Neuausgabe unter dem Titel Mein Album. Das autobiografische Album Von der Kindheit bis 1943 und ihre handgeschriebene Biografie vor. Der große Reichtum an Informationen, den das 1958 zusammengestellte Album birgt, weckt den Wunsch der Herausgeber, den Inhalt gesondert und einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Das ist Verlag und Herausgebern in hervorragender Weise gelungen. „Worum es sich bei diesem Album handelt, ist schwer zu definieren: Tagebuch, Gesamtkunstwerk, Collage von Fotografien, Briefen und Notizen, Entwurf einer Autobiografie oder besser: Antibiografie.“ (S. 7) Für den Rezensenten ist es schlicht und einfach ein Künstlerbuch. Ergänzt wird diese Ausgabe durch ein Faksimile eines bislang unveröffentlichten handgeschriebenen Lebenslaufs nebst Transkription, endend 1970, ergänzt durch die Herausgeber bis zum Todesjahr 1985 und einem Verzeichnis der Ausstellungen nach ihrem Tod. Einfach in diesem Album blättern und genießen!

                        Der wunderschön gestaltete Band Meret Oppenheim Geheimnisse von Simon Baur ist eine besondere Hommage an die Künstlerin. Der Autor ist einer der besten Kenner von Merets Leben und Werk. In acht Kapiteln taucht der Autor in die geheimnisvolle Welt von Meret ein, neue Sichtweisen tun sich auf. Neben biografischen Kapiteln sind dies die Text-Bild-Verhältnisse, und die Naturbezüge in ihrem Werk, ihre Reisen in die angewandte Kunst, die Verwendung von Materialien sowie Vögel und Vogelflug in Bildern und Texten. „Lassen Sie sich … von der Lust und Freude an neuen Entdeckungen im Werk Meret Oppenheims begeistern. Schauen Sie genau hin, kombinieren Sie, fantasieren Sie.“ (S. 10) Dem ist der Rezensent gern nachgekommen. Ein Tipp für Liebhaber des schönen Buches.

                         

                        Maria Lassnig: Wach bleiben. Staying Alert. Köln: Wienand Verl., 2022. 172 S. ISBN 978-3-86832-681-9. € 35.00

                          Maria Lassnig geb. Gregorz (1919–2014) wird in Kärnten geboren, sie beginnt schon als Kind zu malen und tut dies bis zu ihrem Lebensende. Nach Ausbildung und Arbeit als Volksschullehrerin und Studium der Malerei an der Akademie der Bildenden Künste in Wien beginnt ein unstetes Leben mit Wechsel der Orte (Klagenfurt, Wien, Paris, New York, Berlin) und Personen. Sie fühlt sich zu jüngeren Künstlern hingezogen und lebt u.a. mit Arnulf Rainer, Padhi Frieberger und Oswald Wiener leidenschaftlich, aber glücklos zusammen. Sie ist die Weggefährtin von Paul Celan, Louise Bourgeois und Ingeborg Bachmann, hat intensive Kontakte zu den Literaten der „Wiener Gruppe“ um H.C. Artmann. Lassnig zeichnet sich durch eine extreme Form der Hochsensitivität aus, immer ist sie von Selbstzweifeln geplagt. Nach surrealistischen Anfängen gilt sie mit Arnulf Rainer als Begründerin der informellen Malerei in Österreich. Durch ihre Hochsensitivität ist sie in der Lage, intime Körperbewusstseinsbilder zu gestalten, und genau diese Bilder machen sie weltberühmt: der nackte Mensch kniend, sich umarmend, mit einem Tiger schlafend mit Pistole in der Hand. 1980 kehrt sie nach Wien zurück und wird an der Hochschule für angewandte Kunst Professorin für Malerei und experimentelles Gestalten. Sie wartet lange auf Anerkennung und Ruhm, vertritt Österreich auf der Biennale di Venezia, es gibt eine große Retrospektive 2014 im New Yorker MoMA, es gibt Auszeichnungen, Ehrungen und Preise. Das alles und noch viel mehr erfahren wir aus Natalie Lettner: Maria Lassnig. Die Biografie (Rez. in: fachbuchjournal 10 (2018) 5, S. 34).

                          In der Ausstellung des Kunstmuseums Bonn und in dem Katalogbuch Wachbleiben geht es um die intimen Körperbewusstseinsbilder, es ist die künstlerische Auseinandersetzung mit sich selbst, 40 Bilder von frühen, kubistisch beeinflussten Werken bis zu den letzten großformatigen Bildern, begleitet von drei Essays und einer Einführung. Fast alle sind Selbstporträts. Es sind „feine und zugleich drastische Beobachtungen ihrer selbst, ihres Körpers, aber auch ihre Be-Ziehungen zu „Anderen“ … Die Darstellungen der Isolation und Selbstbeobachtung, die Implikationen der BeZiehungen und ihrer Unmöglichkeit, die Komplikationen der Kommunikation führen auch uns als Betrachter:innen in jene existenziellen Gefahrenzonen, die Maria Lassnig mit ihren Arbeiten quasi als Entdeckerin ihrer selbst beständig durchschritten hat.“ (S. 9, 11) Ein verstörendes Buch.

                           

                          Vivian Maier. Das Meisterwerk der unbekannten Photogr ­ aphin. 1926-2009. Die sensationelle Entdeckung von John Maloof / Hrsg. Howard Greenberg. 4. Aufl. München: Schirmer/Mosel, 2021. 285 S. ISBN 978-3-8296-0686-8. € 58.00

                            Über das Leben von Vivian Maier (1926–2009) ist wenig bekannt. Sie wird in der Bronx von New York City als Tochter französisch-österreichischer Eltern geboren. Nach schwieriger Kindheit führt sie ein unvermögendes Leben in unqualifizierten Beschäftigungsverhältnissen meistens als Kindermädchen oder Haushälterin in New York, Los Angeles und Chicago (hier arbeitet sie 40 Jahre als Kindermädchen), abgesehen von einem kleinen Abstecher nach Frankreich und einer fünfmonatigen Weltreise. Vivian ist eine zurückgezogen und bescheiden lebende Außenseiterin. Ihre Passion – und später Obsession – ist die fotografische Dokumentation des Lebens in den Großstädten New York und Chicago, begleitet vom zwanghaften Aufbewahren ihrer belichteten, jedoch häufig unentwickelt gebliebenen Filmrollen. Die Bilder dieser Autodidaktin haben keinen Auftraggeber und keine Erwartungshaltung, und sie sind keinem Genre verpflichtet, ein Vorteil gegenüber jeder Art von Bildjournalismus. Der größte Teil ihres fotografischen Besitzes befindet sich in einem von ihr angemieteten Lager und wird dort noch zu ihren Lebenszeiten 2007 von einem Auktionshaus versteigert, weitere Teile finden sich nach ihrem Tod in ihrer vermüllten Wohnung. Wenige Monate nach ihrem Tod präsentiert der Historiker, Autor und Straßenfotograf John Maloof die ersten Bilder von Vivian. Er entdeckt die Negative bei Recherchen über die Geschichte Chicagos und ersteigert einen Teil ihres Bildarchivs. Es zeigt sich, dass der Stellenwert dieser Sammlung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, es sind kulturhistorisch einmalige Zeitdokumente. Der gewaltige Fundus umfasst rund 150.000 Bilder – Negative, Dias, Abzüge und unentwickelte Filmrollen. Und es gibt weder ein Testament noch einen Erben

                            Die große Monografie Vivian Maier. Das Meisterwerk der unbekannten Photographin. 1926-2009. Die sensationelle Entdeckung von John Maloof bietet erstmals einen repräsentativen Überblick über das Gesamtwerk und ist die erste fundierte Biografie einer ungewöhnlichen, bis zu ihrem Tod vollkommen unbekannten Frau. Einführend von Marvin Lippman ein Essay zu Leben und Werk von Vivian Maier (30 Seiten), gefolgt von 233 großformatigen Fotografien (240 Seiten). „Ihre Aufnahmen aus längst vergangenen Jahrzehnten sagen uns auf sehr aufschlussreiche Art erstaunlich viel darüber, wo wir heute stehen, in einer Zeit, in der viele von uns einen ähnlichen Wunsch zu photographieren empfinden und wir dank der stets verfügbaren Technik diesem Wunsch auch nachgehen können.“ (S. 11, 13)

                            Es sind die Menschen auf der Straße, an den Kiosken, in den Museen, in den Parks, am Strand. Es sind die Schönen am Straßenrand. Es ist der Unrat in der Gosse. Es sind die monumentalen Gebäude und die heruntergekommenen Quartiere. Es sind die kunstvollen Selbstporträts, Prominente geraten eher zufällig vor die Kamera, in erster Linie bei Schnappschüssen von Filmpremieren (Ava Gardner, Lena Horn, Audrey Hepburn). Eine großartige Bildauswahl und Bildzusammenstellung! Ein wichtiges Buch über eine bedeutende Fotografin. (ds)

                            Prof. em. Dieter Schmidmaier (ds), geb. 1938 in Leipzig, ­studierte Bibliothekswissenschaft und Physik an der ­Humboldt-Universität Berlin, war von 1967 bis 1988 Bi­bliotheks­direktor an der Berg­ aka­demie Freiberg und von 1989 bis 1990 General­direktor der Deutschen Staatsbibliothek Berlin. ­

                            dieter.schmidmaier@schmidma.com

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