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Sarah Kirsch: Ich will nicht mehr höflich sein – Tagebuch aus der Wendezeit

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 1/2023

Sarah Kirsch, Ich will nicht mehr höflich sein. Tagebuch aus der Wendezeit. 31. August 1989 bis 18. März 1990. Nachwort Moritz Kirsch, Essay Frank Trende. Eckernförde: Edition Eichthal 2022. 264 S., 10. Abb., ISBN 978-3-9817066-7-3. € 28,00.

    9. Oktober 1989. Gestern wieder Demos in verschiedenen Städten. In Berlin war die Sondertruppe „Feliks Djersincki“ eingesetzt, besonders brutal. … Es läuteten die Kirchenglocken. Die Leute wurden fortwährend zu Verhören abgeführt. Die Leute riefen: Wir sind das Volk! Und wurden verprügelt.
    12. Oktober 1989. Die Forum-Leute müssen sehr wachsam sein. Nicht nur Verhandeln hoch über alles stellen. Ein richtiger Streik z.B. wäre angebracht.
    24. Oktober 1989. Ich friere vor Entsetzen über Krenz in seinen sämtlichen Ämtern, besonders auch als Armeechef.
    26. Oktober 1989. Ich höre ab heute nur noch dreimal Nachrichten. Sonst werd ich verrückt.
    31. Oktober 1989. Ich hab so ein Leben: Morgens wecken mich Zaunkönig und/oder Esel, ich füttere Hunde und Katzen, höre die 6-Uhr Nachrichten, dann Schattenboxen, mit Robert (Kirschs Neufundländer-Rüde, d. Red.) dann im Schnellgang 2 km spazieren, Dann etwas Post – ca. 2 Briewe um locker zu werden. Es folgt die richtige Arbeit. Bis 1400h. Dann anderes, Garten- und Hausarbeiten. Wenn nix Besonderes ansteht. Ich bin sehr glücklich, wenn nix Besonderes geschieht. Immer.
    9. November 1989. Gerade heißt es, die Ausreise sei nun überall möglich. Da werden die Berliner sich schnell mal besuchen, so war es denn auch. Sogar durchs Brandenburger Tor ging es. Viele Besucher aber auch Flichtlinge. Ergreifende Szenen im Fernsehen drin. Es gab Sekt auf der Straße. Es war so einfach, die Leute so heiter. Improvisierte Sendungen, improvisierte Besuche.
    10. November 1989. Dauernd bimmeln die Telefone, sie wollen Talk-shows oder Stellungnahmen, aber ich geh nicht mehr ran. Und bleibe bei meinen Schafen. Bin eine gute Hirtin.
    23. November 1989. In Prag hätten sie gestern fast noch geschossen.
    25. November 1989. In Prag aber ist am Abend noch das gesamte Politbüro zähneknirschend zurückgetreten! Und Dubcek hat gesprochen im Schneeregen ohne Mantel und es war wunderbar und auch rührend. Nun müssen sie auch alles packen, freie Wahlen etc.
    21. Decembrius 1989. Hab meine Aquareller gemacht. Manchmal kann ich bloß das wenn meine Seele etwas traurig ist. Sie ist es nicht privat. Immer kommt es von Außen. Eu Gott. Dies ist ein Jahr.
    22. Dezembrius 1989. Mir ging es gestern nicht so besonders. Krieg dann keine Luft, es kommt aber alles vom Kopp oder vom Herzen. Wenn ich höre sie gehen in die Uni führen 20 Studenten aus dem Seminar, stellen sie an die Wand und erschießen sie – dann reicht es mir. Diese Securitate-Polizei macht es so.
    23. Decembrius 1989. Sie haben in Temeschwar 45 Kinder erschossen die von einem Puppenspiel kamen. Gezielt, nicht etwa durch einen tragischen Unglücksfall oder so. Die Securitate.
    27. Decembrius 1989. Will der Politik etwas abschwören, gestern war mir physisch so schlecht als ich die Tagesschau sah.
    8. Januar 1990. Die Regierung Modrow kontrolliert den Abbau d. alten Stasi – das ist wunderbar. Der Bock als Gärtner.
    21. Januar 1990. O dieses wunderbare mich umgebende beschützende Flachland mit diesem alten verständlichen Haus, den Rabenflügeln darüber am Morgen am Abend, dem ungebrochenen Wind, den stillen Maulwürfen.
    18. März 1990. Die Blödmänner in der DDR haben alle nur das Westgeld gewählt. Die Leute denken, wenn sie heute CDU wählen, dann haben sie morgen einen Mercedes vor der Tür. Können sie suchen. Ich bin wütend.
    Die Lyrikerin Sarah Kirsch (1935–2013), die als Erstunterzeichnerin der Protesterklärung gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 aus der SED und dem Vorstand der Schriftstellervereinigung der DDR ausgeschlossen worden war, erhielt 1977 die Ausreisegenehmigung nach West-Berlin. 1983 kaufte sie das alte Schulhaus von Tielenhemme an der Eider in Schleswig-Holstein und lebte dort zurückgezogen in einer „Wohngemeinschaft von Tieren und Menschen“; mit ihrem Sohn, ihrem Lebenspartner und mit ihren tierischen Mitbewohnern: ein Neufundländer-Rüde, Katzen, ein Esel, Schafe, eine Schildkröte (alle namentlich noch vor dem Personenverzeichnis im Buch aufgeführt). Sie genießt ihren selbstgewählten Rückzugsort in Tielenhemme „am Rande der Welt“, „gänzlich abgeschnitten vom eitlen Pulsiern des Planeten“.
    Sarah Kirsch hat immer ausführlich Tagebuch geschrieben. Die weltgeschichtlichen Ereignisse der Wendezeit 1989/90 kommentiert sie in eigenwilliger Rechtschreibung und Zeichensetzung sehr persönlich, sehr mitfühlend, gleichzeitig schonungslos offen, kompromisslos.
    „Da ist ein faszinierendes, weil sehr persönliches Stück brillanter literarischer Geschichtsbetrachtung entstanden, ein Gewinn sowohl für sich erinnernde Zeitzeugen als auch ein authentischer Zugang für die Jüngeren.“ So befindet die Schweizer Weltwoche. Das außergewöhnliche Buch ist sehr empfehlenswert. (ab)
    (links: kurze Auszüge aus den täglich sehr ausführlichen Tagebuchnotizen)

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