Editorial

Trüffelsucher

Das jahrzehntelang für uns in Europa Undenkbare ist seit einem Jahr Realität: Krieg. Die Auswirkungen sind immens. Und die Probleme machen natürlich auch vor den Verlagen nicht halt. „Nach der kaum überwundenen Pandemie sieht sich die gesamte Buchbranche, sehen sich insbesondere die kleineren unabhängigen Verlage, mit Inflation, rasant steigenden Energiekosten und Papierpreisen konfrontiert.“ Dieses Statement der Kurt Wolff Stiftung, die die Interessen unabhängiger, in der Regel inhabergeführter deutscher Verlage vertritt, ist alarmierend, der Ruf nach einer „existenzsichernden, strukturellen Verlagsförderung“ deutlicher und dringlicher denn je: „Es war in den vergangenen Jahren oft bereits schwer, Bücher zu verkaufen; die derzeitigen Herausforderungen werden für viele Verlage nun existenzbedrohend.“

Auch der Berliner Verleger Sebastian Guggolz, der dieses Mal den Fragebogen auf unserer letzten Seite beantwortet, plädiert für strukturelle Verlagsförderung. Dann fordert er aber noch etwas, was gar kein Geld kostet: „Mehr Mut, mehr Selbstbewusstsein für die Literatur und die Vermittlung von Literatur“. Der 41-Jährige gründete 2014 einen Verlag; mutig, selbstbewusst und mit dem Ziel, Neuund Wiederentdeckungen vergessener Klassiker aus Nord- und Osteuropa in neuer Übersetzung herauszugeben, „Bücher, die aufgrund von politischen oder historischen Umständen heute nicht mehr präsent, aber literarisch außerordentlich gut sind. Nichts an ihrem Vergessen ist literarisch begründet.“ Für seine Arbeit wurde er mit Preisen ausgezeichnet: Übersetzerbarke, Kurt Wolff Förderpreis, Deutscher Verlagspreis. Seit Ende 2022 ist er – neben seinem nicht lukrativen Leben als Kleinverleger – Teamleiter Klassiker im Literaturlektorat bei S. Fischer in Frankfurt.

Es sind nicht allein die Inhalte, die Texte, die dieser leidenschaftliche „Trüffelsucher“ – wie so viele seiner Kolleginnen und Kollegen aus der Kleinverlegerszene – findet, in seinem Fall begeistert auch die Kompromisslosigkeit in der Buchherstellung. Seine Bücher sind handwerklich herausragend gut gemacht – und einfach in wirklich jeder Hinsicht schön. Guggolz hat den Anspruch, Bücher zu verlegen, die auch noch in vielen Jahrzehnten inhaltlich bedeutend und eine Augenweide sein werden. Er strahlt bei der Vorstellung, dass seine Bücher in 50 Jahren in einem Antiquariat gefunden werden können. Traumjob Verleger? Beruf oder Berufung? „Es ist mein Leben“, antwortet Sebastian Guggolz. Eine Buchbranche ohne diese eigenwilligen und eindrucksvollen Verlegerpersönlichkeiten? Langweilig.

Meine besondere Buchempfehlung finden Sie wieder auf der Seite gleich vorne beim Inhalt. Die Lyrikerin Sarah Kirsch, die als Erstunterzeichnerin der Protesterklärung gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 aus der SED und dem Vorstand der Schriftstellervereinigung der DDR ausgeschlossen worden war, erhielt 1977 die Ausreisegenehmigung nach West-Berlin. Ab 1983 lebte sie zurückgezogen in einem alten Schulhaus an der Eider in Schleswig-Holstein. Sarah Kirsch hat immer ausführlich Tagebuch geschrieben. In ihrem Tagebuch aus der Wendezeit kommentiert sie die weltgeschichtlichen Ereignisse sehr persönlich und mitfühlend, gleichzeitig schonungslos offen und kompromisslos. Die Schweizer Weltwoche bringt es auf den Punkt: „Da ist ein faszinierendes, weil sehr persönliches Stück brillanter literarischer Geschichtsbetrachtung entstanden, ein Gewinn sowohl für sich erinnernde Zeitzeugen als auch ein authentischer Zugang für die Jüngeren.“ Ich erinnere mich. Das war auch eine Zeitenwende, damals.

Natürlich gibt es weitere Themen in dieser Ausgabe. In unserem zeitgeschichtlichen Teil stellen wir Literatur zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit im Bundesministerium der Justiz vor. Bei der Landeskunde empfehlen wir u.a. das neue Standardwerk zur Geschichte Japans. Außerdem gibt es einen sehr umfangreichen arbeitsrechtlichen Schwerpunkt. Und bei den Kinder- und Jugendbüchern hielten wir Ausschau nach Büchern zum Thema Krieg. Denn natürlich wirft auch bei Kindern und Jugendlichen der Angriffskrieg gegen die Ukraine Fragen auf. Auch sie suchen nach Antworten. Wir fanden zu der Frage „Was ist Krieg?“ Bücher, die das Unfassbare kindgerecht zu thematisieren versuchen.

Angelika Beyreuther

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