Editorial

Lesen ist schön und – erlaubt

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 2/2021

Ein Viertel dieser Ausgabe, fast 20 Seiten, widmen wir landeskundlichen Neuerscheinungen, Büchern über China, ­Indien, Russland und Indonesien. „China erfindet sich neu – und verändert die Welt? “ Zu dieser provokanten These präsentiert unser Rezensent allein schon 18 Bücher. „In solchen Zeiten ist China-Kompetenz gefragt“, fordert er zu Recht: „Diese ist nicht durch Wiederholung von Gemeinplätzen zu gewinnen, sondern nur durch das Sich-Einlassen auf komplexe Zusammenhänge.“ Das verspricht Erkenntnisgewinn.

Und zum Zauber Indiens tragen immer schon dessen farbenfrohe und wunderbare textile Kostbarkeiten bei. Wir stellen zwei Bücher vor. Besonders beeindruckt hat mich aber das Buch Murdahiya. Der Autor Tulsi Ram, Angehöriger der Volksgemeinschaft der Dalits, der „Unberührbaren“, der Kastenlosen, schaut darin als emeritierter Professor für Internationale Beziehungen der Jawaharlal Nehru University in Delhi keineswegs verbittert auf seine Jugend in den 1950er/60er Jahren in einem kleinen Dorf Nordindiens zurück. „Es liegt im Auge des Betrachters“, schreibt unser Rezensent, „ob man den ersten Band dieser bezaubernden Autobiographie als leidvolle Erfahrung eines Angehörigen der benachteiligten Gruppe der Dalits liest, als Anklage gegen die soziale Benachteiligung, wie sie in Indien auch heute noch gang und gäbe ist, oder ob man angesichts der realistischen, aber humor- und liebevollen Schilderung des Alltags dieser kleinen Leute nicht einen neuen Blick auf die eigene Lebenswelt gewinnt.“

Im volkswirtschaftlichen Teil stellen wir u.a. ein Erstlingswerk vor. „Mit Die Stunde der Ökonomen hat der Wirtschaftsjournalist Binyamin Appelbaum eine kenntnisreiche, detail­freudige, quellengesättigte und glänzend geschriebene Geschichte vom Aufstieg der Ökonomen und ihrem Denken in der ­Politik vorgelegt“, lobt unser Rezensent. „Die Marktwirtschaft bleibt eine der großartigsten Erfindungen der Menschheit, eine mächtige Maschine zur Schaffung von Wohlstand. Der Maßstab für eine Gesellschaft ist jedoch die Lebensqualität am unteren Ende der Pyramide, nicht an der Spitze“, ­betont Appelbaum: „Die in den letzten 50 Jahren demonstrierte vorsätzliche Gleichgültigkeit gegenüber der Verteilung von Reichtum hat entscheidend dazu beigetragen, dass ­heute nichts weniger als die Überlebensfähigkeit der liber ­ alen ­Demokratie von nationalistischen Demagogen auf die ­Probe gestellt wird, so wie schon in den 1930er-Jahren.“

Dieses ­ Resümee klingt lange nach. „Seine Mahnung ist ernst ­zu ­nehmen“, so unser Rezensent.

Und genau dazu liefern die detailreichen Besprechungen über Hitlers Parteigenossen und Hitlers Wähler und die aufrüttelnden und berührenden Bücher über Chronistinnen des Nationalsozialismus Wissen. Der Rezensent zitiert Lucie Adelsberger, Autorin des 1956 veröffentlichten Berichts Auschwitz: „Wenn Haß und Verleumdung leise keimen, dann, schon dann heißt es wach und bereit zu sein. Das ist das Vermächtnis der ­er von Auschwitz.“

Es gibt natürlich wieder viele weitere Themen und aufregende Entdeckungen in dieser Ausgabe, die Sie beim Durchblättern finden werden.

Ein ganz besonderes Buch will ich Ihnen aber noch von meiner Seite ans Herz legen: ­

Von den ersten und denl­etzten Dingen. Enrique Martínez Celaya & Käthe ­Kollwitz. Anlässlich einer Ausstellung in der Berliner Galerie ­Judin ­hat ­Martínez Celaya eine großformatige ­Werkgruppe als Essenz seiner Auseinander ­setzung mit Werken aus der bedeutenden ­Kollwitz-Sammlung des Ehepaars Fritsch geschaffen. ­Martìnez Celaya begann die Arbeit im Sommer 2019. ­Existenzielle Fragen, wie sie im Werk der Kollwitz aufgeworfen werden, standen damals nicht vorrangig auf der Tagesordnung. Dann verlor fast über Nacht durch die Corona-Pandemie Alltägliches seine Selbstverständlichkeit. „In diesem außergewöhnlichen Kontext“, schreiben Gudrun Fritsch und Pay Matthias Karstens in ihrem Buchbeitrag über die Wahlverwandtschaft der beiden Künstler, „schafft Martínez ­Celaya seine Adaptionen ausgewählter Kollwitz-Werke. In Zeiten von globaler Pandemie, Flüchtlingskrise, Klima­krise und ­politischer ­Radikalisierung aktualisiert er die humanistischen ­Botschaften der Kollwitz und revanchiert sich auf diese Weise bei ihr. So wie Kollwitz dem Künstler einst dazu verhalf, ­seinen gesellschaftlichen Auftrag zu formulieren, so verhilft er ihrem Wirken nun in eine neue Zeit. Wie die Höheund Tiefpunkte menschlichen Lebens überzeitlich sind, so ist es auch deren ergreifende Reflexion durch die Künstlerin und den Künstler.“

Ein Trost. Das Lesen, das Durchdenken und in Augenschein nehmen solcher Bücher bleibt schön und – ist erlaubt.

Angelika Beyreuther

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