René Holenstein: „Mein goldenes Bengalen“. Gespräche in Bangladesch. Zürich: Chronos Verlag 2021. 256 S., 32 s/w Abb., geb., ISBN 978-3-0340-1643-8, € 38,00.
Wer hätte das gedacht? Ausgerechnet Bangladesch, das Kummerkind unter den Entwicklungsländern, hat sich in den letzten Jahren zu einem veritablen Star unter den Staaten Süd- und Südostasiens gemausert. 1947 ging es aus der Erbmasse Britisch-Indiens als „Ostpakistan“ und damit als Teil eines muslimischen Gesamtstaates hervor; es war der Sprachenstreit – Urdu oder Bengali? –, an dem sich 1971 der blutige Bürgerkrieg entzündete, der mit der Abnabelung von Pakistan endete: so startete das kleine Land – gerade einmal halb so groß wie Deutschland, jedoch fast mit der doppelten Einwohnerzahl – bettelarm und kaum lebensfähig in die Unabhängigkeit, kurz gesagt, der Start war „harzig“, wie die Schweizer sagen. Heute, fünfzig Jahre später, nach Militärputschen und erneuter Demokratisierung, hat das Land im Mündungsdelta der großen Ströme Brahmaputra, Meghna und Jumna seinen großen Nachbarn Indien wirtschaftlich überholt – eine Erfolgsstory ohnegleichen also?
René Holenstein, von 2017 bis 2020 Botschafter der Schweiz in Dhaka, geht dem Phänomen des „goldenen Bengalen“, wie Rabindranath Tagore seine Heimat nannte, auf den Grund, und als Experte mehrerer Schweizer Organisationen zur Entwicklungszusammenarbeit weiß er, wovon er spricht. Holenstein ist kein Vertreter der klassischen Diplomatie, der als Jurist, Politikwissenschaftler oder Volkswirt sein bürokratisches Steckenpferd tummelt; sein Kernanliegen ist die „Hilfe zur Selbsthilfe“, wie sie die Schweiz – mit durchaus überschaubaren Beträgen – von Anbeginn an fördert. Im Unterschied zu anderen Staaten, die mit Milliardensummen Industrieförderung betreiben und dabei mit der großen Gießkanne Oligarchien in den Empfängerländern heranzüchten, setzen die Schweizer auf kleine, effektive Programme zur Stärkung von good governance, Transparenz und Selbstentwicklung. In den 27 klug zusammengefassten und spannend zu lesenden Interviews mit Journalisten, Menschenrechtlern, Kulturschaffenden und Ex-Politikern des Landes männlichen wie weiblichen Geschlechts lässt Holenstein das Land mit all seinen Stärken, aber auch unübersehbaren Schwächen Revue passieren; hinter der „chaotischen Oberfläche“ von Bangladesch zeichnen sich die Konturen einer Bevölkerung ab, deren Eigeninitiative und Widerstandsfähigkeit – das geht aus den Interviews deutlich hervor – den eigentlichen Motor der Entwicklung darstellen. Anders als in China war und ist es die Innovationskraft des Einzelnen, die dem Land zu seinem erstaunlichen Aufstieg verholfen hat.
Hinter der Fassade des wirtschaftlichen Booms drohen aber auch Probleme, und in großer Übereinstimmung nennen die Interviewten vor allem Autoritarismus, Diktatur der Mehrheit, mangelnde Transparenz, Politisierung von Justiz und Verwaltung und die daraus erwachsende Korruption als die Grundübel des heutigen Bangladesch. „Entwicklung und Stabilität haben Vorrang vor Demokratie“, heißt es; der Trend zu Einparteienherrschaft, Korruption, schwachem Rechtsstaat, Bürokratie, Rentendenken und Ineffizienz bedrohen auf längere Sicht das Erfolgsmodell des Landes.
In großer Offenheit und mit intellektueller Gedankenschärfe vermögen es die weiblichen und männlichen Gegenüber unseres Autors, über ihr Land zu reflektieren und als verantwortliche Vertreter ihrer Organisationen und Graswurzelbewegungen Wege zur Hilfe und zur Lösung der wirtschaftlichen, juristischen oder psychologischen Probleme anzubieten. Noch immer nicht überwunden sind die klaffenden Wunden, die der von Pakistan geführte Krieg hinterlassen hat – die Schäden wirken bis heute in Form politischer Polarisierung und menschlicher Traumatisierung nach, eine Aufarbeitung ist erst in Grundzügen erkennbar. „Wissen Sie, die Menschen in Bangladesch sind eng mit der Welt verbunden“; die Bangladeschis sind weltoffen, und anders als die Inder begrüßen sie mit offenen Armen die Öffnung der Märkte, die dem Land den wirtschaftlichen Aufstieg vom Rohstoffexporteur zu einem der größten Textilverarbeiter der Erde ermöglichten. Aber selbst für so ein erfolgreiches Land stellen die im Lande wohnhaften, anderssprachigen Minderheiten – urdusprachige Bihari s, indigene Völkerschaften wie die Chakma oder die Santals – eine Herausforderung dar. Eine besondere Erfolgsgeschichte ist die Aufwertung der Frauen, deren Lebensumstände sich enorm verbessert haben, sei es, was Bildung, Wirtschaftskraft oder persönliche Freiheit angeht. In den Gesprächen und Zwischenkapiteln entfaltet sich ein breites, profiliertes Bild des Landes am Golf von Bengalen. Das hohe intellektuelle Niveau der Beiträger ist nicht untypisch für die Bengalen, die auf eine lange kulturelle Tradition zurückblicken. Es ist René Holenstein zu danken, ein aktuelles, ungeschminktes und empathisches Bild des Landes gezeichnet und dabei die „kleinen Leute“, auf die sich Entwicklungsarbeit ja bezieht, nicht außer Acht gelassen zu haben.
Der Band ist solide aufgemacht, flüssig zu lesen und gründlich recherchiert; eine Chronologie, Kurzbiographien der Interviewten, ein Glossar, ein Datenblatt und eine Bibliographie vervollständigen die Lektüre. Fazit: Schweizer Wertarbeit auf hohem Niveau. (tk)
Dr. Thomas Kohl (tk) war bis 2016 im Universitäts- und Fachbuchhandel tätig und bereist Südasien seit vielen Jahren regelmäßig.
thkohl@t-online.de