Landeskunde

Indien

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 1/2023

Michael Homberg: Digitale Unabhängigkeit. Indiens Weg ins Computerzeitalter – eine internationale Geschichte. 581 S., 25 Abb., Göttingen: Wallstein 2022. Geb., ISBN 978-3-8353-5267-4. € 48,00.

Ja, es gibt sie – Bücher, bei denen der Rezensent sich wünscht, er besäße eine jener morgensternschen „Brillen, deren Energien / ihm den Text zusammenziehen“. Bei dem vorliegenden Band, einer Habilitationsschrift, die für den Druck nur leicht überarbeitet wurde, ist man (und frau) gut beraten, den ausufernden Anmerkungsapparat der anderthalbtausend Fußnoten samt siebzig Seiten Literatur erst einmal völlig zu ignorieren, dann gewinnt das Buch rasch an Fahrt.

Forscherdrang und Kenntnisse des Autors, der am LeibnizZentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam arbeitet, stehen ohnehin außer Frage; der 1987 geborene Michael Homburg erhielt schon für seine Dissertation eine Auszeichnung, und dass er sich seit langem mit der Medien- und Kulturgeschichte der digitalen Neuzeit beschäftigt, merkt man der Studie an.

Das „sprechende“ Umschlagbild aus dem Jahr 1962 zeigt einen skeptisch dreinblickenden Staatspräsidenten Nehru mit dem Chef des indi ­schen Atomforschungsprogramms, Homi J. Bhabha, um dessen plötzlichen Tod bei einem Flugzeugabsturz sich bis heute Verschwörungsmythen ranken. Bhabha war jedoch kein Informatiker, sondern Physiker und Atomwaffenexperte, und der Computer seines Institutes hatte als reine Rechenmaschine vor allem Routineaufgaben der Kernphysik zu lösen. So verweist die frühe Aufnahme auf die Geburt der Digitalwirtschaft aus dem Geist der Machtpolitik, der Atombombe und der Planwirtschaft – und das ausgerechnet im Heimatland Gandhis.

Den „Quellcode“ der indischen Digitalwirtschaft, das Streben nach Autonomie, identifiziert Homberg schon in den 1940er Jahren. Von dort aus geht die Darstellung über zu den „Programmen und Programmierern“ der 1950er und 1960er Jahre hin zur Gründung der Indian Institutes of Technology (IIT), jenen Ingenieurs-Kaderschmieden nach dem Muster des amerikanischen MIT, die mit den praktischer ausgerichteten deutschen Ingenieurhochschulen kaum zu vergleichen sind und der indischen Neigung zu abstraktem Denken eher entgegenkommen. Kein Wunder, dass von den deutschen Entwicklungshilfe-Milliarden nur noch eine abgelegene „Bonn“-Straße auf dem Campus des IIT Chennai zeugt… Hier, beim Zusammenprall von Industrie, Technik, Wissenschaft und Auslandsinvestitionen, nicht ohne Pleiten, Pech und Pannen, gewinnt die Darstellung an Leben; der Abschnitt über die Auseinandersetzung mit dem übermächtigen Computerriesen IBM zählt sicher zu den packendsten des Buches.

Mit Interesse verfolgt man den „Takeoff“ der 1980er Jahre, die Öffnung Indiens unter Rajiv Gandhi, mit der sich das Land vom Licence Raj, dem Prokrustesbett bürokratischer Regulierungen und Beschränkungen, verabschiedet. Die Befreiung von den Fesseln politischer und administrativer Vorgaben wird damit zur zweiten Geburtsstunde der modernen indischen Computerindustrie, vor allem jener globalen IT-Services, für die der Subkontinent bis heute bekannt ist und die der Wirtschaft des Landes einen großen Schub versetzten. Nebenwirkungen blieben leider nicht aus: die Abwanderung hoch qualifizierter IT-Kräfte, vor allem ins gelobte Land der Computertechnik, in die Vereinigten Staaten, führte seit den 1990er Jahren zum Entstehen „indischer Auslandskolonien“, mit denen sich der Autor im letzten Kapitel befasst.

Soweit eine spannende Geschichte, vor allem für EntscheiderInnen in Politik und Wirtschaft, zeigt sich doch am Beispiel Indiens, wie entscheidend rechtliche und politisch-administrative Rahmenbedingungen für Wohlstand und Entwicklungsmöglichkeiten eines Landes sind. Doch so informativ der darstellende Teil auch ist – es fehlen handfeste Statistiken, etwa zum Anteil der IT-Branche am Sozialprodukt, zu den Größenordnungen, zu Entwicklungen pro Dekade und so weiter. Auch nach biographischen Angaben hält man zumeist vergeblich Ausschau; ausgerechnet der einzige ausführlich dargestellte Lebenslauf, der des IT-Unternehmers und Rajiv-Gandhi-Vertrauten Gangaram „Sam“ Pitroda, zählt zu den Highlights des Bandes. Und dass „Digitalisierung“ noch lange nicht „Automation“ oder „Industrie 5.0“ bedeutet, hätte zumindest einer Anmerkung bedurft, denn auf diesem Feld hat Indien aufgrund der geringen Wertschätzung manueller Arbeit, grundständiger Technik und schlichtem HandwerksKnowhow immer noch ein gewaltiges Handicap. Viele andere Fragen bleiben unbeantwortet: gab es Voraussetzungen, die ausgerechnet Indien den Start ins Digitalzeitalter ermöglichten, ja das Land geradezu dafür prädestinierten? Was ist mit dem Hindunationalismus, der eine Gefahr für Niveau und Manpower der IT-Branche darstellt? Wie wollen die wenigen Eliteinstitute mit ihrer Handvoll Absolventen weiter den Entwicklungs- und Personalbedarf des riesigen Landes abdecken? Außerdem: hat die Omnipräsenz von Handy und Internet nicht schon längst eine neue Ära eingeleitet? Doch das kommt in dem Band, der – leider, leider – nur bis 2005 reicht, nicht mehr vor. Dadurch fallen zwei digitale Großtaten unter den Tisch: der Zensus des Milliardenvolks im Jahre 2011 und die allindischen Wahlen von 2019: technisch-organisatorische Spitzenleistungen, auf die auch manch westliche Nation stolz sein könnte.

Michael Homberg ist ein Kenner der indischen Gesellschaft, und gerade darum wünscht man sich mehr Zusammenfassung, Bewertung und Frageansätze sowie ein Gran weniger Chronologie und Darstellung. Zum Ausgleich dafür dürfte gerne die eine oder andere Fußnote entfallen. Summa summarum: ein Buch mit Schattenseiten über ein spannendes Thema. Da geht noch was, Herr Prof. Homberg! (tk)

 

GAURI GILL. Acts of Resistance and Repair 13. Oktober 2022 – 8. Januar 2023. Hgb. von Esther Schlicht mit Beiträgen von Alexander Keefe, Luise Leyer, Jisha Menon und Esther Schlicht sowie einem Vorwort des Direktors der Schirn Kunsthalle Frankfurt, Sebastian Baden. Dt.-engl. Ausgabe, 268 S., 245 Abb., Heidelberg: Kehrer 2022. Softcover, ISBN 978-3-96900-099-1. € 45,00.

Der vorliegende Katalog war als Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung in der Frankfurter Schirn konzipiert und zeigt die Fotoarbeiten der indischen Fotografin Gauri Gill – Bilder, die man unter dem Titel Resistance and Repair, also Widerstand und Wiedergutmachung, zusammengefasst hat. Derartige Überschriften sind oft Schall und Rauch und mehr dem Marketing als dem Inhalt geschuldet, sie verrätseln mehr als sie verraten. So auch hier, wie es überhaupt die Krux bei solchen Foto-Ausstellungskatalogen ist, dass die Bilder, die Optik, den Gesetzen der menschlichen Wahrnehmung folgend, allzeit ein Übergewicht über die intellektuelle Verarbeitung hat. In dieser Unmittelbarkeit liegt jedoch auch die Stärke des Bandes, in dem etwa ein vierteltausend Fotos aus dem Schaffen der Fotografin während der letzten beiden Jahrzehnte unter verschiedenen Themengruppen versammelt sind. Frauen, Randgruppen und „Ermächtigung“ – diese Triade bildet das durchgängige Thema, ob es sich um ein Jungmädchentreffen (Balika Mela) handelt, um künstlerische Äußerungen von Adivasigruppen (Acts of Appearance) oder die Langzeitstudie einer kleinen Familie in der Wüste (Jannat).

Dass es sich bei den Warli- und Kokna-Stämmen, die nördlich von Mumbai siedeln und die die Fotografin mit Masken oder hinter einer in einer spielerisch-künstlerisch verfremdeten Umgebung zeigt, um sozial benachteiligte, ja verarmte Gruppen der indischen Gesellschaft handelt, wie es in einem Nachwort heißt, ist wohl eher ein von westlichen Wohlstandsvorstellungen induzierter Trugschluss. Die Kokna fühlen sich durch ihre landwirtschaftlichen Einnahmen den anderen Stämmen weit überlegen; viele der Dargestellten sind well-to-do-people, die es zu etwas gebracht haben, und auch die Warli haben sich mit ihren Wandmalereien vom einstigen Underdog-Status emanzipiert: ihre Werke finden sich inzwischen an den Wänden von internationalen Flughäfen und in Krankenhäusern.

Ganz anders geartet ist die Fotoserie Jannat (1999–2007) aus der Wüste Tharr, einer für ihre Folklore und ihre Traditionen bekannte Region im äußersten Nordwesten Indiens, knapp an der Grenze zu Pakistan. Die spontan wirkenden Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen Armut, ja Elend, aber auch den Zusammenhalt einer Familie – der von ihrem Mann verlassenen Muslimin Izmat Bai und ihrer beiden halbwüchsigen Töchter. Ganz am Rande der Gesellschaft schlägt sich die kleine Gruppe gegen die habgierige Verwandtschaft, Geldmangel und die Beschwerlichkeiten des Alltags durch. Jannat – der Name der ältesten Tochter bedeutet „Garten, Paradies“ – geht in diesem ungleichen Kampf jedoch zugrunde, sie stirbt 2007 im Alter von 23 Jahren. Die Briefe der Mutter an die Fotografin und die lokalen Behörden – die Worte der Analphabetin hatte ein Dorfschreiber auf Hindi aufgezeichnet, sie werden von der englischen Übersetzung überblendet – zeugen von Unbildung, Armut und Not, aber auch von Zuwendung, Liebe und Tatkraft. Wie das Leben in einem solchen Umfeld beginnt, dokumentiert Gill in den Birth Series – eine Geburt unter einfachsten Verhältnissen. Große Bilder.

Ebenfalls um eine Randgruppe – aber auf einem ganz anderen Niveau – handelt es sich bei den Auslandsindern in den Vereinigten Staaten, die die Fotografin mehrere Jahre lang mit der Kamera beobachtet hat. Wie lebt man als Inder in einem völlig anders gearteten Land, dessen Wohlstand ihre Landsleute jährlich zu Tausenden anlockt und in dem vielen von ihnen eine steile Karriere gelingt? Gills Farbserie The Americans (2002–2007) zeigt die Attribute des Aufstiegs – Möbel, Hochzeitsfeste, Häuser, Gärten, Swimmingpools –, aber auch das Alter im Ausland: ein Leben zwischen Anpassung und Tradition – a fine balance, um es mit Rohinton Mistrys Bestsellertitel auszudrücken. Gauri Gill ist hartnäckig und ausdauernd. Sie begnügt sich nicht mit Schnappschüssen, sondern denkt, wie ihre Fotoserien zeigen, in langen Zeiträumen. Schon ihr Vater, Manohar Singh Gill, fotografierte gerne und viel; der Sikh war Mitglied des angesehenen Indian Administrative Service und in höchsten Staatsämtern; er war es auch, der 1998 als Landeswahlleiter die Wahlautomaten auf dem Subkontinent einführte und damit zahlreichen Betrügereien den Boden entzog. Als es 1984 im Zusammenhang mit der Ermordung Indira Gandhis durch ihre Sikh-Leibwächter zu einem Progrom gegen diese Religionsgruppe kam, hatten auch die Gills ein Familienmitglied zu beklagen. Die im Jahr 1970 geborene Fotografin bezeichnet dies als den ersten Anstoß, sich kritisch mit ihrem Umfeld auseinanderzusetzen und Empathie mit Randgruppen zu empfinden.

Gauri Gill gehört zu jenen Menschen, die Tatsachen dokumentieren, sich engagieren und durch ihre künstlerischen Projekte aktiv in die Zukunft wirken – und denen man Vertrauen entgegenbringt. Davon kann ein Land nie genug haben, und das gilt nicht nur für Indien. (tk)

Dr. Thomas Kohl (tk) war bis 2016 im Universitäts- und Fachbuchhandel tätig und bereist Südasien seit vielen Jahren regelmäßig.

thkohl@t-online.de

 

Diese Seite benutzt Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmen Sie dem zu.

Datenschutzerklärung