Landeskunde

Südostasien und Indien

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 6/2017

Georg Winterberger: Myanmar. Durch die Linse der Menschen. Through the lens of people. Deutsch-englisch. Petersberg: Imhof Verlag 2017. Geb., 144 Seiten, 194 Farb- und 24 S/W-Abbildungen. Mit einer DVD. ISBN 978-3731904021, € 24,95

Es ist erstaunlich, welche Publizität ein so abgelegenes Land wie Myanmar, das ehemalige Burma oder Birma, mit seinen etwas über 50 Mio. Einwohnern, aber einem Staatsgebiet von der doppelten Größe Deutschlands, in den letzten Jahren auf sich gezogen hat. Das Land, das seit 1962 unter einer Militärherrschaft mit buddhistisch-theokratischen Vorzeichen regiert worden war, hat erst 2011 ein ziviles Staatsoberhaupt und öffnete sich seither vorsichtig den Einflüssen von außen. Das erklärt das erhöhte politische und wirtschaftliche Interesse an diesem Schlüsselland zwischen Süd-, Südost und Ostasien. Nun muss man wissen, dass neben dem namensgebenden Volk der buddhistischen Bamar (Birmanen), das 70% der Bevölkerung ausmacht, noch weitere 135 Ethnien in dem langgezogenen Staatsgebiet wohnen, von denen die thaisprachigen, teils animistischen, teils christlichen oder anderen Konfessionen zugehörigen Shan, die christlichen Karen, die Urbevölkerung der wiederum anderssprachigen Mon und die Bengali sprechenden muslimischen Rohingya, die derzeit allerdings lediglich den Status von Freiwild haben, nur einen Bruchteil der Ethnien des Landes ausmachen.

Trotz der Fragilität und der zahlreichen Probleme dieses Vielvölkerstaates, der lange Zeit mit harter Hand regiert wurde, ist der Demokratisierungs- und Öffnungsprozess bereits weit fortgeschritten. Wie weit, zeigt der vorliegende, durch seine eindrucksvollen Fotos bezaubernde Bildband, der im Rahmen eines ethnologischen Projekts der Universität Zürich entstand und hineinführt in eine dynamische, offene und lebendige Zivilgesellschaft, was vor Jahren noch undenkbar war. Von der Firma Olympus mit 20 nagelneuen Fotokameras ausgestattet, wurden im Rahmen eines von der UBS-Kulturstiftung, Olympus und der Universität Zürich finanzierten Projekts zwanzig „Informanten“ – so der Fachbegriff für befragte oder interviewte Personen –, selbst zu Feldforschern, indem sie unter Anleitung des erfahrenen Autors und Ethnologen Winterberger ihrerseits ihren Alltag und ihr tägliches Umfeld unter die Linse nahmen. Die dabei entstandenen Aufnahmen vereinigt der vorliegende Bildband. Ob nun in Mawlamyine, der drittgrößten Stadt im Süden des Landes an der Grenze zu Thailand, in der an der Küste im Süden gelegenen Landeshauptstadt Yangon (früher Rangoon) oder weiter im Norden in Mandalay auf dem Weg nach China – stets dokumentieren die technisch wie fotografisch gelungenen Bilder der zwanzig neugierigen Fotografen, wie sich die Bevölkerung im Alltag ihren Weg in die Welt bahnt.

Neben traditionellen Gewerben wie Blattgoldherstellung, Produktion von Mönchsroben, Buddhastatuen, Fischerei und Landwirtschaft rücken zahlreiche andere, ländliche wie städtische Gewerbe und Handwerke vor die Kamera, darunter viele, die am immer stärker zunehmenden Tourismus teilhaben. So führt der schön aufgemachte und vom Verlag vorzüglich ausgestattete Bildband mit leichter Hand durch die drei großen Städte des Landes und dokumentiert – wie die offen zugewandten Gesichter der fotografierten Personen zeigen – einen unverstellten Ausschnitt aus einem Land im Umbruch, das seinen Weg trotz vieler Hürden und Schwierigkeiten weitergehen will.

Mögen die Aufnahmen der erste Schritt sein zu einer weiteren Normalisierung und Öffnung dieser interessanten Region, die sich so lange der Welt verschlossen hat. (tk)

 

Jens Uwe Parkitny (Fotos): Marked for Life. Myanmar’s Chin Woman and their Facial Tattoos. With a preface by Jan-Philip Sendker. Bielefeld, Berlin: Kerber 2017. 148 S., 104 farb. u. 16 sw. Abb., Bildbandformat 30 x 30 cm, Hardcover. ISBN 978-3735603555. € 45,00

Die Berggebiete im Nordwesten Myanmars an der Grenze zu Indien und Bangladesch gehören zu den unwegsamsten der Erde. Hier siedeln die Stämme der Chin. Als sich im Zweiten Weltkrieg Briten, Amerikaner und Japaner unter unsäglichen Strapazen und hohen Verlusten in dieser Region bekämpften, waren es die (oft noch kopfjagenden) Naga und die Chin, die den Alliierten zu Hilfe kamen und damit zum endgültigen Rückzug der Japaner beitrugen. Nach den militärischen Wagestücken des US-Generals Stilwell, der englischen Chinditoder der amerikanischen Marauder-Spezialtruppen geriet die Region für kurze Zeit in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit, um danach wieder in eine Art Dornröschenschlaf zu versinken – kein Wunder, denn bis zum heutigen Tag führt kein vernünftiger Landweg von Indien nach Myanmar und China; neuerdings heißt es allerdings, die Chinesen wollten die alte Ledo- und Burmastraße wieder reaktivieren.

Wer den vorliegenden, wunderbar aufgemachten und mit fantastischen Aufnahmen von Menschen, Landschaften und Textilien ausgestatteten Bildband zur Hand nimmt, darf nicht enttäuscht sein, wenn er nicht allzu viel über diese entlegene Region und ihre Menschen erfährt, was über das im Titel genannte enge Thema – „Gesichtstätowierung von Frauen der Chin“ – hinausgeht; über die Lebensweise und Verbreitung, Geschichte der Bergstämme oder die Stellung der Frau in der Stammesgesellschaft muss sich der interessierte Leser anderswo informieren. Das dürfte damit zu tun haben, dass die Fotos und ihre Texte ursprünglich auf eine Ausstellung des Goethe-Instituts in Myanmar zurückgehen – man hatte daher wohl diplomatische Rücksichten zu nehmen und Kontroverses und Heikles auszusparen.

Tatsächlich gehört der Umgang mit den vielen, oft weit versprengten Völkerschaften des ausgedehnten Landes, in dem es außer dem Staatsvolk der Bamar, das 80% der Bevölkerung stellt, noch zahlreiche andere Völkerschaften gibt, zu den großen Problemfeldern. Ein föderales Gleichgewicht zu den in sieben States organisierten anderen Nationalitäten, Sprach- und Religionsgruppen des Landes auszutarieren gleicht nahezu der Quadratur des Kreises und wurde unter der von 1988 bis 2011 herrschenden Militärherrschaft durch schiere Gewalt hergestellt, um etwaigen Unabhängigkeitsbewegungen zuvorzukommen. So wurden auch die Chin bis vor wenigen Jahren durch die Militärjunta von der Außenwelt isoliert, verfolgt und ins benachbarte Ausland, aber auch nach Übersee gedrängt. Erst seit einigen Jahren dringen vermehrt Fremde und Touristen zu den Chin vor, darunter der Autor und Fotograf des vorliegenden Bandes, der in Seligenstadt geborene Deutsche Jens Uwe Parkitny. Er, der mit einer Birmanin verheiratet ist und in Myanmar lebt, entdeckte 2005 die unzugängliche Welt der Berge im Nordwesten und ließ sich von der dort üblichen Praxis der Gesichtstätowierung der Frauen faszinieren. Und was für Aufnahmen er von dort mitgebracht hat! Die Beschränkung auf die Abbildung der tätowierten Gesichter und – parallel dazu – der außerordentlich ansprechenden traditionellen Baumwolltextilien der Chin gewinnt in diesem Zusammenhang einen Sinn: das Ästhetische, das in der Formund Farbwahl der Tätowierungen und der Stoffe zum Ausdruck kommt, spricht Menschen aller Schichten und Herkunft unmittelbar an und vermag – ohne Rücksicht auf Ideologien oder eine belastende Vergangenheit – Brücken zwischen Menschen zu bauen. Angesichts der heiklen Menschenrechtslage war die Beschränkung auf das Ästhetische und AllgemeinMenschliche im Konzept des Goethe-Instituts vielleicht keine schlechte Wahl.

Die vorliegenden Fotografien – mit einer vorzüglichen, analogen Kamera aufgenommen – gehören sicher zu dem Aufregendsten, was Mode, Textil- und Körperdesign derzeit zu bieten haben, und das mag über den Mangel an historischsozialer Hintergrundinformation hinwegtrösten. Die Tätowierungen, die in mehreren Sitzungen, oft über Jahre hinweg, mit Bambusnadeln in Gesicht und Nacken der jungen Frauen eingraviert werden, sind äußerst schmerzhaft und markieren den Übergang vom Kinder- ins Erwachsenenalter. Stolz und Selbstbewusstsein zeichnen die Trägerinnen aus, deren Kinder und Enkel heute allerdings mehr und mehr die Torturen des als rückständig geltenden Tätowierens meiden (das zudem bis heute offiziell immer noch verboten ist) und nur noch die übliche birmanische Gesichtspaste zur Verschönerung auftragen. Ein hervorragend gemachter Bildband eines Landeskenners, der dazu einlädt, über eingefleischte Urteile nachzudenken und neue Pfade zu beschreiten. (tk)

Dr. Thomas Kohl (tk) war bis 2016 im Universitäts- und Fachbuchhandel tätig und bereist Südasien seit vielen Jahren regelmäßig.

thkohl@t-online.de

 

Heinrich Zimmer: Myths and Symbols in Indian Art and Civilization. Edited by Joseph Campbell. Princeton University Press 2017. Paperback, 264 S., ISBN 9780691176048. $ 17.95

„Auf ewig hab ich sie vertrieben, Vielköpfige Götter trifft mein Bann, So Wischnu, Kama, Brahma, Schiven, Sogar den Affen Hannemann“, Goethes Urteil über die bildenden Künste Indiens war harsch: er, der die klassischen indischen Dichtungen Kalidasas, Shakuntala und Meghaduta, durchaus schätzte und sich sogar in der Devanagarischrift übte, konnte dem Skulpturenschatz des Subkontinents wenig abgewinnen: „In Indien möcht’ ich selber leben, Hätt es nur keine Steinhauer gegeben. … Und so will ich, ein für allemal, Keine Bestien in dem Götter-Saal!“1

Darin war sich der Dichterfürst mit Winckelmann einig, jenem Kunstgelehrten, der ein halbes Jahrhundert zuvor die „edle Einfalt und stille Größe“ der alten Griechen zum Schönheitsideal erhoben hatte, und noch im Jahr 1910 meinte der Brite G.C.M. Birdwood – übrigens ein Asienkenner von Rang, der in Indien geboren war –, die leidenschaftslose Seelenruhe asiatischer meditativ-religiöser Skulpturen mit der eines „gekochten Talgpuddings“ (boiled suet pudding) vergleichen zu müssen. Die am ästhetischen Ideal des klassischen Humanismus geschulte Welt konnte und wollte sich mit den monströsen Mischgebilden aus Mensch, Tier und Pflanze, die auf und in den Tempeln und Schreinen Süd- und Südostasiens wie Pilze wucherten, keineswegs abfinden. Eine „Fundgrube des Aparten, Skurrilen und Geheimnisvollen“ – das war noch das am wenigsten Negative, was sich zur religiösen Bilderwelt Asiens sagen ließ.2 Enter ZIMMER… Schon Zimmers Frühwerk Kunstform und Yoga (1926) hatte – erstmals in der Kunstgeschichte – ein Verständnis der indischen Ikonographie gezeigt, das weit über die bloße Beschreibung hinausging. Hier war jemand, der auf der sicheren Grundlage tradierter Sanskrit-Texte die Mitte hielt zwischen pedantischer Sprach- und Textanalyse einerseits und schwärmerischer, aber unkritischer und verständnisloser Verehrung für alles Indische andererseits. Mit den altindischen Puranas und Texten des Tantra hatte sich Zimmer darüber hinaus zwei bis dahin kaum beachtete Quellengruppen erschlossen, die er in den folgenden Jahren mehr und mehr zur Interpretation einsetzte. Bei den Puranas handelte es sich – anders als bei den hochheiligen Veden und Upanischaden (shruti – „Gehörtes“) – um volkstümlichere Kompendien der religiösen, mythologischen und historischen Überlieferung (smriti – „Erinnertes“), während die Tantrik, die bis heute mit zahlreichen Texten, Ritualen und Kunstgegenständen das Leben vieler Asiaten von Indien bis Japan, von Tibet bis Sri Lanka bestimmt, auf der Überzeugung beruht, dass die physische und die spirituelle Welt auf vielerlei Weise unlösbar miteinander verschränkt und frei untereinander zugänglich seien.

1 Zahme Xenien II 2 Klappentext zu Zimmer, Spiel um den Elefanten (1979)

Hinzu kam Zimmers enger Kontakt zur Mythenforschung, die sein Vater, der aus einer Bauernfamilie im Hunsrück stammende Keltologe Heinrich Zimmer, mitbegründet hatte. Er vermochte hinter der bis dahin unverständlichen und scheinbar konfusen Bilderwelt Asiens Formen und Vorstellungen zu erblicken, die die Mythenforschung auch in anderen Kulturen vorgefunden hatte. Kein Wunder daher, dass sich Zimmer magisch von der gerade entstehenden Psychologie C.G. Jungs angezogen fühlte, die in Märchen, Mythen und im einzelnen Menschen solche „Urformen“ zu erkennen glaubte, „Archetypen“, die gemeinsam das „kollektive Unterbewusstsein“ der Menschheit bildeten. Sanskrittexte, Mythenforschung und analytische Psychologie erschlossen Zimmer einen Zugang zur indischen Bilderwelt, der sämtliche ästhetischen Ideale und Vorschriften Europas hinter sich ließ und dem „heiligen Bild“ Asiens zum ersten Mal seine eigene Qualität zubilligte. Wie der überaus sprachmächtige Zimmer – auf Englisch – in fünf klar gegliederten Kapiteln seiner Vorlesung, die er im Exil, in seinem letzten Lebensjahr 1943, vor Studenten der New Yorker Columbia Universität hielt, unter Zuhilfenahme zahlreicher Abbildungen die Formen- und Symbolsprache der indischen Mythologie erläuterte, ist bis heute faszinierend zu lesen – die Lektüre ist tatsächlich „bewusstseinserweiternd ohne Drogen“… Seine epochemachenden Aufzeichnungen wurden freilich erst 1946, drei Jahre nach seinem frühen Tod, von seinem Schüler Joseph Campbell herausgegeben und schlugen sofort wie eine Bombe ein – Ausgabe folgte auf Ausgabe, und auch auf Deutsch erschienen seit 1951 zahlreiche Auflagen, die dem Autor weitaus größere Popularität verschafften als noch zu Lebzeiten.

Zimmers kurzes, aber überaus bewegtes Leben3, sein reichhaltiges Werk und vor allem sein vorliegendes letztes Opus Magnum werfen zahlreiche Fragen auf: was an dem vorliegenden Buch stammt von Zimmer selbst, was von seinem Schüler und Herausgeber Joseph Campbell, der damit eine fulminante Karriere als Mythenforscher begründete, die ihn schließlich in den 1980er Jahren zum gefragten „Talkshow-Star“ (Wendy Doniger) machte? Zimmer, Schwiegersohn des Schriftstellers von Hofmannsthal, hätte als Sanskritist und Sprachwissenschaftler die Popularisierung und die damit verbundenen Verallgemeinerungen, wie Campbell sie vornahm, wohl missbilligt. Die Indologenzunft blickt nicht ganz ohne Scheelsucht auf diesen genialen Grenzgänger, der – ähnlich wie sein Zeitgenosse Glasenapp – weit über den Tellerrand hinausblickte. Die Parabel vom Rabbi Eisik und dem Schatz (Martin Buber), die Zimmer im Schlusswort zitiert, enthält vielleicht den Schlüssel zum Verständnis seiner Bemühungen: wie sich da der Rabbi Jekel Eisick aus Krakau, durch Träume dazu bewegt, auf die beschwerliche Suche nach einem Schatz begibt, der schließlich hinter dem heimischen Ofen verborgen liegt, aber nur durch sein Nachfragen in der Fremde ans Licht befördert werden konnte.

Den Schatz der indischen Bilderwelten hat Zimmer durch seine Forschungen sicher ein Stück weit mit gehoben – Goethes Verdikt hin oder her. (tk)

3 Siehe zuletzt dazu: Katharina Geiser, Vierfleck oder Das Glück (2015)

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