In 2011 berief der Bundesnachrichtendienst die „Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945 bis 1968“ – abgekürzt UHK. Der vom BND finanzierten Kommission gehören die Historiker Jost Dülffer, Klaus-Dietmar Henke, Wolfgang Krieger und Rolf-Dieter Müller an. Laut eigenen Angaben der UHK hat der BND ohne forschungsrelevante Einschränkungen seine unter Geheimhaltung stehenden Aktenbestände bis 1968 den Historikern und ihren wissenschaftlichen Mitarbeitern zugänglich gemacht.
Allerdings gelte diese Offenheit nicht für die „Partnerbeziehungen“ des BND im Untersuchungszeitraum. Hier liegt ein Knackpunkt des Projektes. Den BND als Auslandsnachrichtendienst der Bundesrepublik Deutschland gibt es erst seit 1956. Die Vorgängerorganisation des BND, die „Organisation Gehlen“, stand rechtlich und faktisch unter amerikanischer Kontrolle. Inwieweit der BND auch nach 1956 einen hybriden Charakter in Hinblick auf den amerikanischen Einfluss behielt, wäre ein spannender Untersuchungsgegenstand. Schließlich war die Bundesrepublik bis 1990 kein Staat mit voller Souveränität. Es scheint aber fraglich, dass in absehbarer Zeit von der Bundesregierung bzw. dem BND Aktenzugang für die Forschung zu dieser Thematik gewährt wird.
Die tatsächliche Eigenständigkeit der Org Gehlen bzw. des BND ist von zentraler Bedeutung für die große Frage, die explizit oder implizit hinter dem Forschungsprojekt zur Geschichte des BND steht: Die personelle Kontinuität von EliteAkteuren des NS-Regimes im deutschen Geheimdienstmilieu während des Untersuchungszeitraums. Die beiden Bände von Christoph Rass und Sabrina Nowack beschäftigen sich explizit mit dieser Frage.
Rass‘ Studie basiert auf einer quantitativen Methodik: Aus 11.567 Personalakten von hauptamtlichen BND-Mitarbeitern im Untersuchungszeitraum wurde eine repräsentative Stichprobe (30%) gezogen. Diese wurde in Hinblick auf das allgemeine Sozialprofil (Alter, Geschlecht, Schichtzugehörigkeit, Bildungsstand, Religion und geographische Herkunft) und die Zugehörigkeit zu Institutionen des NS-Staates analysiert. Rass’ Befund ist, dass im Untersuchungszeit im Durchschnitt 21% der Mitarbeiter von Org Gehlen/BND Mitglieder der NSDAP waren. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die (absolute) Zahl ehemaliger PGs bis Mitte der 1960er Jahre zunahm, während ihr prozentualer Anteil am Gesamtpersonalbestand stetig zurückging.
Weit wichtiger als die NSDAP-Zugehörigkeit ist der Anteil von Org Gehlen/BND-Mitarbeitern, die vor 1945 im NS-Repressions apparat tätig waren, also vor allem SS, SD und Gestapo.
Sabrina Nowack: Sicherheitsrisiko NSBelastung. Personalüberprüfungen im Bundesnachrichtendienst in den 1960er Jahren, Ch. Links Verlag: Berlin 2016
Ronny Heidenreich, Daniela Münkel, Elke StadelmannWenz: Geheimdienstkrieg in Deutschland. Die Konfrontation von DDRStaatssicherheit und Organisation Gehlen im Herbst 1953, Ch. Links Verlag: Berlin 2016
Gerhard Sälter: Phantome des Kalten Krieges. Die Organisation Gehlen und die Wiederbelebung des Gestapo-Feindbildes „Rote Kapelle”, Ch. Links Verlag: Berlin 2016.
Christoph Rass: Das Sozialprofil des Bundesnachrichtendienstes. Von den Anfängen bis 1968, Ch. Links Verlag: Berlin 2016
Hier hätte man in Rass‘ Untersuchung mehr Fokussierung und Analyse erwarten können, denn diese Personengruppe war mit Repressions- und Tötungstaten im Rahmen politischer und rassischer Verfolgung durch das NS-Regime befasst.
Hier ist – ganz im Gegensatz zur Zugehörigkeit zur Wehrmacht – die Wahrscheinlichkeit am größten, dass schwere oder schwerste Verbrechen begangen wurden. Rass‘ quantitative Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass bis Mitte der 1960er Jahre zwischen 4% und 6% des BND-Personals dem NS-Repressionsapparat angehört hatten – das waren immerhin Hunderte von Personen. Dabei wäre noch auf zweierlei hinzuweisen: Erstens, die Rekrutierung bzw. Weiterbeschäftigung schwer belasteter ehemaliger Angehöriger des NS-Repressionsapparates wäre ohne Auftrag bzw. Wissen der USamerikanischen Aufsicht über Org Gehlen und amerikanischer Einflussmöglichkeiten auf den BND kaum möglich gewesen.
Zweitens, Rass‘ Untersuchung bezieht sich nur auf hauptamtliche Mitarbeiter. Oft wurden schwer belastete ehemalige Angehörige des NS-Repressionsapparates von Org Gehlen/BND als „freie Mitarbeiter“ beschäftigt.
Bei der Lektüre der vier hier besprochenen Studien stößt auf, dass die Kategorisierung „NS-Funktionsträger“ ziemlich undifferenziert gebraucht wird. Das betrifft vor allem die Wehrmacht und insbesondere den militärischen Nachrichtendienst der Wehrmacht, das Amt Ausland/Abwehr unter Adm. Canaris. Die Abwehr war Teil der Funktionselite des Dritten Reiches, aber zugleich ein Hort des Widerstandes gegen das NaziRegime. Führende Persönlichkeiten der Abwehr, einschließlich Canaris, bezahlten für ihren Widerstand mit dem Leben. Im Frühjahr 1944 wurde die Abwehr auf Befehl Hitlers aufgelöst und ihr Personal in das SS-geführte Reichssicherheitshauptamt (RSHA) eingegliedert. Eine Gleichsetzung der so zwangsvereinnahmten Abwehr – nunmehr als „Amt Mil“ im RSHA bezeichnet – mit SS, SD und Gestapo verbietet sich aber. Einen weit substanzielleren Einblick als Rass‘ Untersuchung bietet Sabrina Nowacks Studie bezüglich schwer belasteter ehemaliger Angehörige des NS-Repressionsapparates in Org Gehlen/BND. Mit qualitativer Methodik analysiert Nowack die „Personalüberprüfungen“ im BND in den frühen 1960er Jahren. Nachdem Heinz Felfe, Leiter des Referats Gegenspionage Sowjetunion beim BND und ehemaliger SS-Obersturmführer, als sowjetischer Agent enttarnt worden war, wuchs das öffentliche Interesse an der NS-Vergangenheit von Mitarbeitern der Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik. Bei BND-Chef Reinhard Gehlen, der ein vertrauensvolles Verhältnis zu Felfe gepflegt hatte, gaben wohl weniger rechtlich-moralische Gründe als die Sorge vor der Erpressbarkeit von früheren Angehörigen des NS-Repressionsapparates durch östliche Geheimdienste den Ausschlag dafür, eine interne Untersuchung NS-belasteter BND-Mitarbeiter anzuordnen. 157 BND-Angehörige wurden überprüft, 68 von ihnen entlassen, andere frühverrentet oder „ausgelagert“. Die Kurzbeschreibungen der 157 Überprüfungsfälle in Nowacks Studie geben dem Leser eine zwar nur ungefähre, aber durchaus erhellende Vorstellung darüber, welche Charaktertypen in Org Gehlen/BND ihr Unter- und Auskommen finden konnten.
Wie oben erwähnt, bildeten schwer belastete ehemalige Angehörige des NS-Repressionsapparates nur eine kleine Minderheit im Personalbestand, aber es gab sie und sie wurden (viel zu lang) im Dienst akzeptiert. Man fragt sich, warum der BND bei seiner Konstituierung als Auslandsnachrichtendienst der Bundesrepublik nicht ähnlich vorgegangen ist, wie dies bei der fast gleichzeitigen Konstituierung der Bundeswehr der Fall war. Die Bewerber für die neu gebildete Bundeswehr wurden systematisch und gründlich auf ihre NS-Vergangenheit und mögliche Verwicklungen in Kriegsverbrechen überprüft und entsprechend ausgesondert.
Alle vier bislang von der BND-Historikerkommission vorgelegten Bände zeigen die Problematik der im Untersuchungszeitraum präferierten Rekrutierungsmethode von Org Gehlen/ BND. Abgesehen von Bundeswehrpersonal, das zum BND abgeordnet wurde, „kooptierte“ der Dienst vorzugsweise neue Mitarbeiter aufgrund von „Empfehlungen“ seitens eigener Mitarbeiter, die meist im eigenen Verwandten-, Freundesund Bekanntenkreis fündig wurden. Dies erzeugte zwangsläufig eine mentalitätsmäßige und auch ideologische Eindimensionalität und Kontinuität. Kaum überrascht dann, dass ehemalige Angehörige des NS-Repressionsapparates dies für sich auszunutzen wussten.
Der Einfluss ehemaliger Kader des NS-Repressionsapparates in Org Gehlen/BND wird auch in dem Band „Phantome des Kalten Krieges. Die Organisation Gehlen und die Wiederbelebung des Gestapo-Feindbildes Rote Kapelle‘“ von Gerhard Sälter deutlich. Dabei geht es um dreierlei: Erstens, Gestapo und SD postulierten während des Zweiten Weltkriegs die Existenz eines weitverzweigten und durchstrukturierten Agentennetzwerkes des sowjetischen Geheimdienstes GRU in Mittel- und Westeuropa, indem reale, professionelle Geheimagenten der GRU mit verschiedenen Kleingruppen von Nazigegnern in einen Topf geworfen wurden. Dieses Konstrukt einer grandiosen Geheimorganisation firmierte als „Rote Kapelle“. Kader des NS-Repressionsapparates in Org Gehlen/BND transferierten nicht nur das Konstrukt „Rote Kapelle“ in die Nachkriegszeit, sondern benutzten es zur Diskreditierung überlebender Nazigegner. Nicht sonderlich erfolgreich bei der Enttarnung von realen sowjetischen oder ostdeutschen Geheim- und Doppelagenten, wurden von der Org Gehlen ehemalige Widerständler aus dem linken wie rechten Lager ausgespäht und mit sowjetischen Spionage- und Subversionsaktivitäten in Verbindung gebracht.
Eine weitere (tragische) Episode aus dem Geheimdienstkrieg des Kalten Krieges ist das Thema der Studie „Die Konfrontation von DDR-Staatssicherheit und Organisation Gehlen im Herbst 1953“. Das Besondere der Studie ist ihr komparativer Ansatz durch die Auswertung von Aktenmaterial nicht nur der Org Gehlen, sondern auch des MfS. Durch die Penetration von Doppelagenten in der Org Gehlen war es dem MfS gelungen, das Agentennetzwerk der Org Gehlen in der DDR weitgehend zu identifizieren. Daraufhin wurden im Herbst 1953 in der DDR 217 vermeintliche und tatsächliche Agenten verhaftet und nach Schauprozessen drakonisch bestraft – Todesurteile und langjährige Haftstrafen. Das DDR-Regime versuchte, die enttarnten Agenten der Org Gehlen als „Nazi-Faschisten“ abzustempeln, die im Auftrag von „Alt-Nazis“ in Pullach agierten. Diese Propaganda des kommunistischen Regimes in Ost-Berlin passte spiegelbildlich zum undifferenzierenden, ideologischen Antikommunismus in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre.
Die hier besprochenen vier UHK-Bände sind naturgemäß keine leichte Lektüre. Ihre Zielgruppe sind primär auf Zeitgeschichte fokussierte Historiker und Politikwissenschaftler, deren Forschungsinteresse bei Intelligence Studies liegt. Dennoch sind diese Bände jedem zu empfehlen, der an Zeitgeschichte und der Rolle von Nachrichtendiensten in ihr interessiert ist. Weitere Bände mit Forschungsergebnissen über die Org Gehlen und den BND sind angekündigt – man darf auf sie gespannt sein. (ml)
Dr. Michael Liebig (ml) ist Politikwissenschaftler. Intelligence Studies ist eines seiner Forschungsfelder. Er ist Lehrbeauftragter der Abteilung Politikwissenschaft, Südasien Institut, Universität Heidelberg.
michael.liebig1@gmx.de