Uwe Wesel: Rechtsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Verlag C. H. Beck, München 2019, ISBN 978-3-406-73439-7, 276 Seiten mit 11 Abbildungen, Hardcover (Leinen), € 29,80
Allenthalben hört man über die „Verrechtlichung“ der Gesellschaft, immer mehr Vorschriften, Regularien; alles und jenes wird vor Gericht gebracht, kaum ein Vorgang, aus dem sich nicht ein klagbarer Anspruch ableiten ließe. Man mag das beklagen oder nüchtern konstatieren: das Recht und dessen Anwendung spiegeln einen großen Teil unserer Lebenswirklichkeit. So wird, wer eines Tages die Rechtsgeschichte des Jahres 2020 schreibt, auf die derzeitige Flut von Entscheidungen zu den „Corona“-Maßnahmen stoßen. Oder: Im Kanon der Weltliteratur ist es fast schwieriger, unter den Dichtern und Denkern von Cicero bis Kafka einen Nicht-Juristen zu finden. Kurzum: Rechtsgeschichte ist Menschheitsgeschichte und nicht zu trennen von der Geschichte der Wirtschaft und Technik, dem Werden und Vergehen von Machtstrukturen, Krieg und Eroberungen, Zerstörung, Wiederaufbau.
Diese einfache Wahrheit ist sicher der Grund, warum Uwe Wesel nach „Geschichte des Rechts“ (2006) und „Geschichte des Rechts in Europa“ (2010) seine „Rechtsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland“ 2019 so und nicht anders geschrieben hat. Es sei schon manches zur Rechtsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland geschrieben worden, aber „es gibt noch keine Rechtsgeschichte der Bundesrepublik“, sagt er in seinem Vorwort. Die Aussage machte mich zunächst skeptisch. Als ich das Buch durchgelesen hatte, war ich jedoch überzeugt. Diese Rechtsgeschichte gab es noch nicht.
Nominell umfasst die Schilderung den Zeitraum von 1945 bis heute und ist in die vier Hauptteile (1) Besatzungszeit 1945–1949, (2) Von Adenauer bis Erhard 1949–1966, (3) Von der ersten großen Koalition bis zur Wiedervereinigung 1966–1990 und (4) Von der Wiedervereinigung bis heute gegliedert. Jeder Hauptteil hat zwischen 13 und 28 durchnummerierte Randnummern. Literaturangaben zu jeder Randnummer stehen an deren Ende. Ganz am Ende gibt es noch hilfreiche Hinweise zu allgemeiner Literatur, alphabetisch nach Verfassern sortiert, ein Abkürzungsverzeichnis und ein Personen- und Sachverzeichnis. Am Beginn jedes Hauptteils steht ein Kapitel „Geschichte und Wirtschaft“, in dem die wichtigsten politischen Ereignisse sowie die Eckdaten der Wirtschaftsentwicklung auf wenigen Seiten zusammengefasst werden. Schon wegen dieser Abschnitte lohnt sich die Lektüre. Randnummer 1 beginnt mit einem Zitat aus Carl Zuckmayers „Deutschlandbericht“ von 1946/47 an das Pentagon; auch sonst erlaubt sich Uwe Wesel manchen Ausflug in literarische Nachbargebiete. Randnummer 14 am Beginn von (2) schildert die berühmte „Teppichszene“, ebenfalls eine gern berichtete Anekdote, die es wegen ihrer Symbolkraft aber wert ist, wiederholt zu werden. Historisches Wissen braucht Ankerpunkte. In Randnummer 42 (3) werden die erste große Koalition Kiesinger/Brandt, die sozialliberale Wende und die Ära Kohl lebendig und in Randnummer 67 (4) die letzten 30 Jahre mit und nach der Wiedervereinigung dargestellt. Knapp und trotzdem plastisch, auch durch farbige Details, entfalten sich so die Rahmenbedingungen der Rechtsgeschichte im engeren Sinn. Das jeweils zweite Kapitel der Teile (2) bis (4) befasst sich mit der Entwicklung des Verfassungsrechts, Teil (1) dagegen enthält hier zunächst eine ebenso knappe wie verständliche Beschreibung des Besatzungsregimes- und -rechts, der völkerrechtlichen Situation Deutschlands, der Reorganisation des Bundesländer, des Wiederaufbaus von Justiz und Verwaltung. Die weiteren Kapitel widmen sich dann immer den wesentlichen Entwicklungen in der Justizorganisation, Gesetzgebung und Rechtsprechung. Wegen der historischen Besonderheiten unterscheidet sich Teil (1) stärker von den übrigen Teilen, obwohl auch hier die behandelten Entwicklungen im Strafrecht, Öffentlichen Recht, Verwaltungsrecht, Arbeits- und Sozialrecht, Steuerrecht, Familienrecht, Wirtschaftsrecht und Europarecht naturgemäß unterschiedlich gewichtet werden. Datenschutz und Umweltrecht kommen erst in Teil (4) vor. Relativ breiten Raum nehmen in (1) und (2) die Entnazifizierung und die juristische Auseinandersetzung mit den Verbrechen unter dem NS-Regime ein. Bekanntlich war es keine Erfolgsgeschichte. Mit interessanten Details schildert Wesel auch den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher und einige Folgeprozesse, vor allem den Juristenprozess, und am Beispiel von zwei spektakulären Fällen die Monstrosität der in der NS-Zeit begangenen Justizverbrechen.
Exemplarisch behandelte, wegweisende Urteile des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs in Zivil- und Strafsachen, gesetzgeberische Großprojekte und Reformen beleuchten schlaglichtartig die politischen Grundsatzdebatten. Stets werden die großen Linien erkennbar: Die Schwierigkeiten und Widersprüche der unmittelbaren Nachkriegszeit, Liberalisierungstendenzen und neue Einschränkungen, Herausbildung neuer Rechtsinstitute und eigenständiger Rechtsgebiete. Mitunter fuhren Politik und Gesetzgebung einen Zick-Zack-Kurs, wie im Familienrecht, aber auch der wird dann gut erklärt. Wenn er es für nötig hält, greift Uwe Wesel auf weit vor 1949 liegende historische Wurzeln zurück, um z.B. die Entstehungsgeschichte des Verwaltungsrechts und der Verwaltungsgerichtsbarkeit, des Baurechts, Sozialrechts oder Steuerrechts zu erläutern. Selbst Juristen dürften nicht sämtlich die eigentliche Herkunft des Sprichworts „judex non calculat“ oder das bewegende Schicksal von Matthias Erzberger kennen. Oft eröffnet sich eine neue Sicht, wie z.B. auf das in letzter Zeit in die Kritik geratene Ehegattensplitting als seinerzeit wesentliche Verbesserung gegenüber der bis 1958 geltenden Haushaltsbesteuerung. Überhaupt scheint es Wesel geradezu Vergnügen zu machen, wirtschaftliche Grundtatsachen und -begriffe geduldig zu erklären, z.B. das im Zuge der Amerikanisierung der Bundesrepublik importierte „Leasing“, „Factoring“ und „Franchising“.
Sehr informativ und vergleichsweise ausführlich stellt Wesel die Geschichte der Europäischen Union und der europäischen Institutionen dar, die Genesis der wichtigsten Vertragswerke und die Umgestaltung des europäischen Primärrechts. Gerade bei diesem Thema wird verständlich, wo erheblicher Reformbedarf besteht, aber auch, welche Probleme uns noch lange wenn nicht dauerhaft erhalten bleiben werden.
Stellenweise gibt es kritische Töne. Nicht nur die Darstellung der juristischen Auseinandersetzung mit der DDRVergangenheit, nicht zuletzt im Vergleich mit der Behandlung der nationalsozialistischen Verbrechen, stimmt nachdenklich. Betreffend jüngere Entwicklungen bemängelt Uwe Wesel die „Flickschusterei“ im Ausländer- und Asylrecht. Angesichts der zunächst keineswegs einhelligen Ablehnung der „Rettungsfolter“ unter unseren Verfassungsjuristen warnt er: „Das Ganze bleibt gefährlich.“ Kritische Rezensenten werfen Uwe Wesel oftmals zugespitzte Vereinfachungen, zu wenige Nachweise und ungenügende Berücksichtigung des Forschungsstandes vor. Etwas abschätzig hieß es auch, der Beck-Verlag habe ein wohlfeiles Weihnachtsgeschenk für Juristenkollegen auf den Markt gebracht.
Vielleicht in weiser Voraussicht auf solche Kritik heißt es ebenfalls im Vorwort: „History is what historians do.“ Selbstverständlich liegt in jeder Auswahl auch eine Wertung, und bei der bis heute angehäuften Wissensfülle wäre der Anspruch auf Vollständigkeit Größenwahn. Uwe Wesel folgt einer selten gewordenen Wissenschaftstradition. Seine Arbeitsweise, das Manuskript im Wortsinne „mit der Hand“ zu schreiben, befähigt ihn zur ebenso strukturierten wie lebendigen Darstellung. Der immer wieder aufblitzende Sprachwitz steigert nicht nur das Lesevergnügen, er trägt auch viel zum mühelosen Verständnis bei. Die bei der Übertragung des handschriftlichen Texts entstandenen, teils ärgerlichen und gegen Ende leicht zunehmenden Fehler sollten bei einer wünschenswerten Neuauflage korrigiert werden.
Der Beck-Verlag sieht „Juristen in Ausbildung und Beruf“ aber auch ein breites Lesepublikum als Zielgruppe. Also eigentlich: Alle, Interesse für unsere Gesellschaft und ihre Geschichte vorausgesetzt. Und wie man an einem der Fehler sieht, die der Übertragung aus der analogen in die digitale Welt geschuldet sind: Auch manchem Juristen ist entgangen, wo Adolf Eichmann verhaftet wurde. Schließlich: Dieses Buch zu verschenken, ist alles andere als eine Verlegenheitslösung. (ldm)
Sibylle Hofer: Leitfaden der Rechtsgeschichte. Quellen und Grundzüge der Rechtsordnung, Originalverlag Böhlau, Köln, ISBN 978-3-8252-5223-6, UTB-Titelnummer 5223, 324 Seiten, kartoniert, Print-Ausgabe € 29,99, Online-Ausgabe oder ePUBFormat € 23,99, Buch und Online-Zugang € 35,99
„Rechtsgeschichte? Damit befasse ich mich allenfalls einmal im Urlaub“, so der fast spöttische Kommentar eines Anwaltsnotars zu meinem Versuch, vor einigen Jahren ein Thema aus rechtshistorischer Sicht zu betrachten. Für die alltägliche Rechtsanwendung mag Rechtsgeschichte gemeinhin ohne praktische Relevanz zu sein. Wie lohnenswert die Beschäftigung mit diesem Gebiet sein kann, erfährt der Leser von Sibylle Hofers hier besprochenem „Leitfaden“. Glaubt man der Verlagsankündigung und dem Umschlagtext, käme das Buch als trockene Pflichtlektüre fürs juristische Seminar daher. Tatsächlich entpuppt es sich aber schnell als faszinierende Tour d’Horizon durch 2500 Jahre Recht in Kontinentaleuropa. Der Schwerpunkt liegt auf den Entwicklungen in den Ländern, die heute zu Deutschland, Österreich und der Schweiz gehören. Der Autorin, Ordinaria für Rechtsgeschichte und Privatrecht am Institut für Rechtsgeschichte der Universität Bern, ist es gelungen, im wahrsten Sinne einen Leitfaden zu spinnen, der den Leser von der ersten bis zur letzten Zeile sicher durch die immense Materialfülle dieses Wissensgebiets führt.
Die Lektüre des ersten Kapitels ist obligatorisch. Hier wird das Konzept der Darstellung eingehend erläutert. Es geht um die Vorstellung bedeutsamer historischer Rechtstexte in den Rechtsordnungen verschiedener Epochen. Eine Zäsur werde „immer dann gesetzt, wenn neue Arten von Rechtstexten – sei es im Hinblick auf Urheber, Formen oder Inhalte – in den Vordergrund treten.“ Daraus ergibt sich eine Einteilung in acht Epochen: Zunächst die tausend Jahre vom 5. Jhdt. v. Chr. bis zum 5. Jhdt. n. Chr. unter der Überschrift „Juristenrecht und Rechtssammlungen“, dann das von Stammesrechten und Kapitularien geprägte 5. bis 9. Jhdt., der erste Teil der frühen Neuzeit im 10. bis 15. Jhdt., das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, Reformation und Polizeiordnungen 1495 bis 1648, die Zeit nach dem 30jährigen Krieg bis zum Rheinbund 1648 bis 1806, das „lange“ 19. Jhdt. 1806 bis 1914, Erster Weltkrieg, Zwischenkriegszeit und Zweiter Weltkrieg 1914 bis 1945 und schließlich die von der Proklamation von Grundrechten und zunehmender Liberalisierung sowie supranationalen Rechtsetzungen geprägte Zeit von 1945 bis 1993.
Zu Beginn jedes dieser acht Kapitel 2 bis 9 steht ein knapper historischer Abriss des allgemeinen geschichtlichen Rahmens, immer gefolgt von den zwei Hauptteilen „Quellen“ und „Rechtsordnung“. Das Inhaltsverzeichnis enthält ebenfalls die jeweiligen Unterabschnitte mit ihren ins truktiven Überschriften und numerischer Gliederung. Hier kann bereits Gelesenes leicht rekapituliert werden. Außerdem strukturieren Randnummern mit inhaltlichen Stichpunkten den Text.
Schon aus dem nüchternen Inhaltsverzeichnis sind unschwer wesentliche Entwicklungslinien erkennbar: Bei den Quellen werden die unterschiedlichen Rechtstexte genannt, die Herausbildung institutioneller Rechtsetzung wird deutlich, auch das Entstehen einer gewissen Rechtswissenschaft bereits im 3. Jhdt. v. Chr. (2. Kapitel) bzw. deren Verschwinden in der Zeit der Völkerwanderungen und des Fränkischen Reichs (3. Kapitel). Nach der Darstellung der „Grundzüge“ der jeweiligen Epoche widmen sich die dann folgenden Abschnitte des zweiten Hauptteils den immer gleichen drei als exemplarisch herausgegriffenen Themenbereichen „Private Rechtsgestaltung“, „Gerichtswesen“ und „Verfolgung von Straftaten“. Hier ist an der im Verlauf des Buches wachsenden Zahl von Unterabschnitten die zunehmende Ausdifferenzierung und Regelungsdichte erkennbar. Die Festlegung auf diese drei zentralen Themenbereiche aus unterschiedlichen Rechtsgebieten soll, so das einleitende Kapitel, auch deutlich machen, „dass im Hinblick auf die Grundkonzeption Verbindungslinien zwischen häufig getrennt betrachteten Rechtsgebieten bestehen.“
Bereits aus den Rechtstexten und Rechtsetzungen des klassischen Altertums und selbst den bloßen Aufzeichnungen von Rechtspraktiken ergibt sich das Bemühen um Rechtsfrieden, zumindest um Anreize zur Vermeidung individueller Racheaktionen, weiterhin das Zusammenspiel von Recht und Machtstrukturen, die Bedeutung des rechtlichen Rahmens für die Entwicklung von Wirtschaft und Technik und das immerwährende Wechselspiel zwischen Privatautonomie und staatlichen Eingriffen. Die klug ausgewählten Details und Quellenzitate liefern immer wieder farbige Details, ohne dass die klare Struktur der Darstellung aus dem Blickfeld gerät. So führt die beiläufige Aufklärung über die wahre Herkunft einer ganzen Reihe geläufiger Begriffe (z.B. Kammergericht, Landfriedensbruch, Inquisition, „policey“, Machtspruch, Kabinettsjustiz, Kathedersozialismus, Daseinsvorsorge usw.) zu teils überraschenden Erkenntnissen bzw. Beseitigung verbreiteter Irrtümer.
Sibylle Hofer beherrscht die hohe und auch in der Juristerei seltene Kunst, komplexe Zusammenhänge bestechend klar und dabei ausnehmend spannend darzustellen. Im Durchschnitt sind jeder der acht behandelten Epochen zwar nur knapp 40 Seiten gewidmet, dennoch gewinnt der Leser mehr als nur einen skizzenhaften Überblick über Naturrecht vs. Positivismus, Romanisten vs. Germanisten, Justiz im Nationalsozialismus und in der DDR, Rechtsetzung europäischer Institutionen. Nicht nur die Zusammenfassung der zentralen Argumentationslinien in der Auseinandersetzung um den juristischen Umgang mit den unter NS- und SED-Herrschaft begangenen Taten ist brillant. Dabei erinnert die stringente Struktur immer daran, dass hier eine Überblicksdarstellung vorliegt, die die in Bezug genommenen Rechtstexte zwar erschließt, deren Lektüre jedoch keineswegs ersetzt.
Zu vermerken sind nur ein paar winzige Minuspunkte: Das Sachregister enthält nicht alle behandelten Begriffe. Die Hinweise zu Quellentexten im Anhang jedes Kapitels sind durch die optische Gestaltung etwas unübersichtlich geraten. Die Gründung Roms wird im „7. Jahrhundert v. Chr.“ vermutet, diese Zählweise zum Glück aber nicht beibehalten. Angesichts der beschriebenen Vorzüge fallen diese Kleinigkeiten aber rein gar nicht ins Gewicht, zumal auf allen 326 Seiten nur ein einziger Schreibfehler auftaucht. Fazit: Sibylle Hofer ist ein großer Wurf gelungen! Der Verlagsprospekt von Vandenhoeck & Ruprecht nennt als Interessenten „Rechtshistorikerinnen, Historiker“. Hier widerspreche ich entschieden: Alle, die sich mit wesentlichen Fragen der Rechtsordnung, den Regeln menschlichen Zusammenlebens und ihrem geschichtlichen Ursprung beschäftigen, werden dieses Buch mit großem Gewinn lesen. (ldm) ˜
Lena Dannenberg-Mletzko (ldm) war bis zu ihrem Ruhestand Notariatsvorsteherin in einer großen Wirtschaftskanzlei in Frankfurt am Main, bis 2003 Lehrbeauftragte des Landes Hessen für die Ausbildung von Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten, außerdem Autorin von Prüfungsbüchern zur Notariatskunde und Fachbeiträgen für verschiedene Zeitschriften.
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