Recht

Eine ungewöhnliche Einführung in unser Rechtssystem

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 5/2022

Uwe Wesel: Fast Alles, was Recht ist. Jura für Nichtjuristen. München 2021, C.H.Beck, Hardcover (Leinen), 10. Auflage, 404 S., ISBN 978-3-406-73477-9, € 29,80.

    Der Erstdruck dieser ungewöhnlichen Einführung in unser Rechtssystem erschien vor dreißig Jahren als 92. Band der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen

    Anderen Bibliothek.

    Die 9. Vorauflage der hier zu besprechenden Neubearbeitung, wie die meisten anderen Bücher des Autors seit Jahren bei Beck erschienen, stammt von 2014. Wieder ist alles „typisch Wesel“: Die eigenwillige Systematik, der locker-ironische, dabei aber konzise Stil, das Denken in großen historischen und politischen Zusammenhängen. Der Umfang ist fast gleichgeblieben, Formales (Reihenfolge und Überschriften der Kapitel) wurde nur leicht verändert. Rechtgebiete wie Datenschutz oder Europarecht, denen bei der Erstauflage noch kein eigenes Kapitel gewidmet war, werden entsprechend ihrer gewachsenen Bedeutung ausführlicher behandelt. Hinter dem fast identischen Erscheinungsbild verbirgt sich aber eine durchgängig erkennbare sorgfältige inhaltliche Überarbeitung und Aktualisierung. Der Autor setzt mitunter andere Akzente, verändert die Auswahl und Gewichtung der zitierten Entscheidungen. Alle wesentlichen Entwicklungen in Gesetzgebung und Rechtsprechung sind berücksichtigt. Wie sehr seine Aussage, Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, vor dem auch Bürger osteuropäischer Staaten einschließlich Russlands Schutz suchen können, in diesen Ländern „zwar zähneknirschend befolgt, aber verschwiegen werden“, inzwischen überholt ist, hat nicht nur Uwe Wesel überrascht.

    Die prägnanten Zusammenfassungen, meist anhand wegweisender Fallbeispiele, vermitteln der ausdrücklich angesprochenen nicht-juristischen Leserschaft ein plastisches Bild des Istzustands der wesentlichen Facetten unseres Rechtssystems als historisch gewachsenes Gebilde. Dabei spießt Wesel in typischer Manier methodische Schwachstellen, dogmatische Ungereimtheiten, politische Hintergründe und soziale Missstände auf. Wo er Stellung bezieht, durchaus politisch urteilt, legt er dies offen und stellt sich dem Diskurs. Vor allem ist die Lektüre vergnüglich, da der bekannte Wesel-Stil sich eines reichen Schatzes an Spruchweisheiten, Wortspielen und literarisch-belletristischen Leihgaben, manchmal sogar bildlichen Illustrationen bedient. Wenige Fachautoren können auch gemeinhin als trocken verschriene Rechtsgebiete so spannend behandeln. Ab und zu scheint sich die Neigung zu spitzen und witzigen Sentenzen allerdings etwas zu verselbständigen (u.a. S. 139: „Kommt Zeit, kommt Rat, kommt Attentat“), jedoch überwiegt das Vergnügen an den letztlich meist treffenden, manchmal bittersüßen Überspitzungen. Auch sind manche Thesen arg steil (u.a. S. 141: Hjalmar Schacht und das allgemeine Persönlichkeitsrecht, S. 243: „Generalprävention als völlig unbewiesener Aberglaube“. S. 244: „… dass unser Strafrecht letztlich nichts anderes ist als Vergeltung.“). Demonstrative Gender-Sprache findet man nirgends.

    Uwe Wesel, der sich bekanntlich erst nach dem Studium der klassischen Philologie und alten Geschichte der Rechtswissenschaft zuwandte, erklärt jegliche rechtliche Regelung vor dem Hintergrund ihrer historischen Ursprünge. Auch wenn Rechtsgeschichte nicht zuletzt in der heutigen Juristenausbildung an Bedeutung verliert – für die Leser des hier besprochenen Werks ist Wesels allenthalben erkennbare rechtshistorische Brille der Schlüssel zum vertieften Verständnis nicht nur unseres Rechtssystems, sondern vieler anderer Facetten unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit. Aus den behandelten, teils spektakulären höchstrichterlichen Entscheidungen – siehe Lüth-Urteil, KPD-Verbot, Geliebtentestament, Google-Urteil – und umwälzenden Reformen, ergibt sich eine fundierte Gesamtschau des gesellschaftlichen und politischen Wandels bis zu unserem heutigen Rechtsstaat. Immer wieder gibt es Aha-Erlebnisse bzw. überraschende Erinnerungen, z.B. an die Ursprünge des sozialen Mietrechts im I. Weltkrieg (S. 216), die ziemlich durchsichtige Argumentation des BGH zur persönlichen Verantwortung in totalitären Staaten am Vorabend des großen Frankfurter Auschwitz-Prozesses (S. 246) oder das Eheverbot für den „Scheidungsgrund“ (S. 249). Den beeindruckenden Abschluss bildet das Kapitel „Recht und Gerechtigkeit“. Auf gerade 30 Seiten präsentiert Wesel ein Destillat von Sokrates, Platon, Aristoteles, Cicero, Grotius, Hobbes, Kant, Hegel, Weber, Kelsen, Radbruch, Luhmann, Rawls und sogar Habermas – luzide und brillant. Erleichtert habe ich zur Kenntnis genommen, dass Wesel die Lektüre von „Faktizität und Geltung“ des letztgenannten Philosophen als „Zumutung“ bezeichnet, nicht ohne eine durchaus verständliche Essenz bereitzustellen. Dass die Antwort auf die Frage, was Gerechtigkeit eigentlich ist und wie uns das Recht auf dem Weg dahin helfen könnte, letztlich unbefriedigend ausfällt, ist nicht seine Schuld, sondern liegt in der Natur des Untersuchungsgegenstands. Die formale Ausstattung entspricht dem sorgfältigen Beck-Standard. Minimale Druckfehler sind unbeachtlich. Nach dem kurzen Vorwort befindet sich das Inhaltsverzeichnis (wie bei Wesels Beck-Rechtsgeschichte in Fließtext), das jetzt auch Seitenzahlen für die Unterabschnitte enthält. Es folgt das Abkürzungsverzeichnis, während das Personen- und Sachregister ganz am Ende steht. Am Ende jedes Kapitels gibt es sehr sparsame Literaturhinweise, eher ausgewählte Quellenhinweise. Auf Fußnoten oder einen Anmerkungsapparat hat Wesel verzichtet. „Fast Alles, was Recht ist“ kann und will kein Nachschlagewerk oder Lehrbuch sein. Die Lektüre entspricht eher dem Besteigen eines Aussichtsturms mit begleitenden Schautafeln bis zur Plattform, wo sich der jetzt wissende Blick über eine zerklüftete Rechtslandschaft mit Licht, Schatten und auch ein paar dunklen Wolken erstreckt. Die Lektüre ist zu empfehlen, nicht nur für Nicht-Juristen. (ldm)

    Lena Dannenberg-Mletzko (ldm) war bis zu ihrem Ruhestand Notariatsvorsteherin in einer großen Wirtschaftskanzlei in Frankfurt am Main, bis 2003 Lehrbeauftragte des Landes Hessen für die Ausbildung von Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten, außerdem Autorin von Prüfungsbüchern zur Notariatskunde und Fachbeiträgen für verschiedene Zeitschriften.

    lena.dannenberg@t-online.de

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