Landeskunde

Ist Indien bald ein besserer Investitionsstandort als China?

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 1/2022

Vor Corona war Indien die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Derzeit liegt der Subkontinent auf Platz 6. Hat die mit Abstand bevölkerungsreichste Demokratie der Welt das Zeug, in zehn bis zwanzig Jahren mit seinem Erzrivalen China gleichzuziehen und ein ebenso überragend wichtiger Geschäftspartner für Deutschland (und die EU) zu werden? Oder werden Hindernisse wie Bürokratie, Korruption, Gewalt gegen Frauen und ethnisch-religiöse Konflikte die Entwicklung weiterhin hemmen? Diesen Fragen gehen folgende Bücher nach.

Michael Braun Alexander, Indien Superpower. Aufstieg einer Wirtschaftsmacht, Finanzbuchverlag, 2020, 400 S., ISBN 978-3-95972-136-3, € 22,99.

Der Autor, Jahrgang 1968, studierte in Oxford, Bologna und Washington D.C. Wirtschaftswissenschaften, Politik und Philosophie. Anschließend arbeitete er als Wirtschafts- und Finanzjournalist. Dabei entstanden mehrere Sachbücher mit griffigen Titeln wie „So geht Geld“, aber auch Romane. Ab 2014 lebte Braun Alexander in Mumbai und arbeitete als Südasien-Korrespondent. Sein Indien-Buch kombiniert persönliche Eindrücke mit kompakten Sachinformationen zu Indiens Landeskunde, Geschichte, politischer Situation und Unternehmenswelt. Zielgruppe ist eine eher ahnungslose deutsche Leserschaft. Im Vorwort beschreibt Braun Alexander einige persönliche Eindrücke. Bei allem Positiven schimmert der anstrengende Alltag doch deutlich durch, was Bürokratie und Menschenmassen, Lärm und Dreck betrifft. Das erste Kapitel namens „Indien, eine neue Wirtschaftsmacht“ ist optimistisch. Alles gar nicht so schlimm, so auch Kapitel 2 zu Indiens Imageproblemen. Der Autor arbeitet sich hier an Stereotypen wie beispielsweise Slums oder Mutter Teresa ab: Slums seien weniger schlimm, als hierzulande gedacht. Mutter Teresa habe dagegen eine verheerende Rolle für Kalkuttas Image in der Welt gespielt. Die folgenden vier Kapitel erklären geographische Grundlagen, Indiens Geschichte bis zur Unabhängigkeit und die Entwicklung zwischen 1947 und heute. Das ist griffig zusammengefasst, aber kein Alleinstellungsmerkmal des Buches. Zumal Begriffe wie „Raj“ (britische Kolonialherrschaft in Indien während des viktorianischen Zeitalters) oder „Partition“ (die indisch-pakistanische Trennung) sogar hierzulande im Englisch- und Geschichtsunterricht behandelt werden bzw. wurden. Interessant ist aber zum Beispiel die umstrittene Gesamtbewertung der britischen Kolonialherrschaft durch verschiedene Experten: Laut Niall Ferguson bereitete das Empire den Weg zu freien Märkten, Recht und Ordnung. Nach Shashi Tharoor erwies sich dagegen die britische Präsenz für Indien als katastrophal. Auch der Blick auf Gandhi wirkt erfrischend neu: Zum Glück habe er nie die Regierungsgeschäfte geleitet, denn seine „rückwärtsgewandte, fortschrittsfeindliche Vision“ wäre für Indien noch schlimmer gewesen als Nehrus „weniger extremes sozialistisches Ideal“ (S. 200).

Kapitel 7 beschäftigt sich mit dem heutigen Indien. Es erklärt die Parteienlandschaft, Ministerpräsident Modi und dessen Wirtschaftsreformen. Modis Politik kommt bemerkenswert gut weg, was Braun Alexander insbesondere von der britischen Wochenzeitschrift The Economist unterscheidet. Beispielsweise habe „Notebandi“, die plötzliche und radikale Bargeldeinschränkung im November 2016, letztlich die finanzielle Inklusion gestärkt. Auch habe Modi 2018 eine soziale Basisversorgung für fast 40 Prozent der Bevölkerung eingeführt, die Infrastruktur ausgebaut, die Umsatzsteuer sinnvoll reformiert und in ländlichen Gebieten dafür gesorgt, dass wesentlich mehr Haushalte Zugang zu Sanitäranlagen erhalten hätten. Es sind Details wie diese „Klo-Initiative“ (S. 252), die Erkenntnis stiften. Denn was es insbesondere für die tägliche (Un-)Sicherheit und Hygiene indischer Mädchen und Frauen bedeutet, keinen Zugang zu Bedürfnisanstalten zu haben, wird in aller Brutalität deutlich. Kapitel 8 stellt Indiens Unternehmenslandschaft vor. Allein das weltbekannte Tata-Konglomerat wird auf fast sieben Textseiten beschrieben. Dabei erklärt der Autor, warum gerade Parsen in Indiens Wirtschaft so erfolgreich sind. Ausführlich geht er daneben auf die außerordentliche IT-Kompetenz des Landes ein. Etwas nebulös bleibt allerdings, wie Indien damit langfristig Geld verdienen will, wenn die Hochqualifizierten mit Spezialprogrammen durch das H-1B-Visum der USA und die Blaue Karte der EU abgeworben werden. Schlusskapitel 9 bietet optimistische Entwicklungsthesen für „Indien im 21. Jahrhundert“.

Braun Alexander bettet seine Indien-Analyse gesamtasiatisch ein, vergleicht also insbesondere auch mit China. Sein Buch ist lesenswert, weil er oft gegen den Strom argumentiert (siehe oben Gandhi oder Mutter Teresa), interessante Gegenüberstellungen findet (z.B. Mumbai – New York) und seine umfangreichen Quellen sorgfältig dokumentiert. Hilfreich sind die farbige Landkarte und Fotos in der Buchmitte, lustig erscheint die Selbstironie des Verfassers – etwa seine Erkenntnis, als 45-Jähriger in Indien ein Senior zu sein. Leider klammerte Braun Alexander aber Corona aus, obwohl sein Buch noch Informationen von Mai 2020 enthält. Die Pandemie hätte sein optimistisches Narrativ zu Indiens wirtschaftlicher Zukunft vielleicht relativiert. Einige Textpassagen wirken daneben recht banal (z.B. „China versus Indien“, S. 50-52), verdünnt (z.B. Eindrücke der Autorin Meike Winnemuth, S. 97-99) oder sogar nichtssagend: So hebt Braun Alexander in Tabelle 6 (S. 76) die langen Jahresarbeitszeiten in Mumbai hervor, die aber im Gegensatz zu Produktivitätskennzahlen keinerlei Aussage über den wirtschaftlichen Erfolg ermöglichen. Schließlich streift der Autor die schwierige Lage der Inderinnen nur ausnahmsweise – zum Beispiel in Tabelle 7 (S. 105, gemäß Mc Kinsey Global Institute von April 2018). Demnach erwirtschaften Frauen nur 18 Prozent der indischen Wirtschaftsleistung gegenüber 36 Prozent weltweit. Womit der Subkontinent sogar weit hinter deutlich ärmeren Volkswirtschaften wie Nepal (36%) oder Kambodscha (41%) liegt. Führt eine derart geringe (offizielle) Teilhabe von Frauen wirklich zur Welt-Wirtschaftsmacht? Auch Sätze wie „Ich selbst habe mich in Mumbai, Delhi und anderenorts immer deutlich sicherer gefühlt als in Berlin“ (S. 32) kämen einer 20-jährigen Frau eher weniger in den Sinn.

 

Madan M. Arora, Geschäftskultur in Indien. Kultureller Leitfaden für Doing Business in India, ­ Cuvillier Verlag Göttingen, 2020, 210 S., ISBN 978-3-7369-7298-8, € 49,99.

Der indisch-stämmige Verfasser, Jahrgang 1944, lebt seit beinahe 60 Jahren in Deutschland. Er studierte Maschinenbau an der TU Darmstadt, erwarb einen MBA in den USA und promovierte 2018 an der Universität Hannover über deutsche Direktinvestitionen in Indien. Seit 1978 ist er als Unternehmer tätig und scheint sowohl die deutsche als auch die indische Geschäftswelt gut zu kennen. Seine Landeskunde liefert Kaufleuten aus Deutschland zunächst kompakte Basisinformationen, zum Beispiel zur Geschichte und Religion des Subkontinents. Daneben beruft sich Arora ausführlich auf Arbeiten des Kulturwissenschaftlers Hofstede und auf Experteninterviews.

Hofstedes Ausführungen bezieht der Autor auf die deutsch-indische Zusammenarbeit, indem er beispielsweise die Unterschiede zwischen deutschen und indischen Arbeitskräften erläutert. Das wird sehr konkret, wenn es zum Beispiel um die Bedeutung der Worte „heute“, „morgen“, „nächste Woche“ und „in zwei Wochen“ im indischen Kulturkreis geht. So bedeute „in zwei Wochen“ in Wirklichkeit „irgendwann einmal“ (S. 138). Auch Indiens berüchtigte Korruption wird ausführlich behandelt. Andere Ausführungen bleiben ziemlich abstrakt, etwa das Thema „Machtdistanz“ (S. 32) oder die wesentlichen Unterschiede zwischen dem deutschen „Deal-Fokus“ und dem indischen „Beziehungsfokus“ (S. 55).

Die über fünfzig Experteninterviews führte Arora überwiegend mit Fachleuten aus der deutschen Auto-, Chemieund Maschinenbau-Industrie. Zitate aus diesen Gesprächen verdeutlichen zum Beispiel, wie hierarchisch indische Unternehmen im Vergleich zu deutschen organisiert sind. Auch vermitteln sie die größten Herausforderungen für eine Geschäftstätigkeit in Indien, die neben den Kulturunterschieden vor allem in der indischen Bürokratie zu liegen scheinen. Interessant sind schließlich Übersichten des Verfassers, zum Beispiel zu Indiens Großregionen, regionalen

Industrieclustern und -korridoren. Fast jedes Kapitel endet mit einer Zusammenfassung, die eiligen ­Lesern ausreichen dürfte. Relativ überschaubar ist Aroras Literaturbasis: Großen Stellenwert genießen neben Hofstede das oben besprochene Indien-Buch von Braun Alexander und ein Webinar einer Auslandshandelskammer.

 

Pandit A. Kumar-Scott, Business success in India. A complete guide to build a successful business knot with Indian firms, Books on Demand Norderstedt, 2020, 56 S., 978-3-7519-2371-2, € 19,99.

Der Unternehmensberater Kumar-Scott studierte in Indien, den USA und England. Er ist mit einer Amerikanerin verheiratet und lebt mit seiner Familie in Europa. Auf wenigen Seiten bietet er praktische Tipps, wie und in welchen Bereichen der geschäftliche Einstieg in Indien gelingen kann. Beispielsweise nennt er einen konkreten Dresscode für Frauen und Männer (bitte Accessoires aus Leder bei einem Treffen mit Hindus vermeiden!) und sinnvolle Gesprächsthemen rund um die Geschäftsanbahnung (unbedingt ausführlich nach der Familie fragen!). Auch erklärt er, wie geschäftliche Kontaktpersonen am besten anzusprechen sind (in der Regel mit dem Nachnamen inklusive sämtlicher Titel!) und grenzt immer wieder von den Usancen und Voraussetzungen in China ab – unter anderem, wenn es um das vergleichsweise hohe Englisch-Niveau indischer Geschäftsleute geht. Ein Firmenbeispiel verdeutlicht, wie wichtig es gerade in Indien ist, die Produkte an lokale Vorlieben anzupassen – hier an die Ernährungsgewohnheiten. Schließlich erläutert der Verfasser die wichtigsten Hürden, die von staatlicher indischer Seite drohen: Es herrsche zu viel Korruption und Bürokratie, während es an einer funktionierenden und schnellen Gerichtsbarkeit ebenso fehle wie an ausreichender Infrastruktur. Interessant ist auch der direkte Vergleich mit Singapur. Indiens Regierung könne von dem Stadtstaat viel lernen, zum Beispiel schnelle Genehmigungsverfahren.

Das Taschenbuch hätte allerdings noch dünner oder informativer ausfallen können. Stattdessen schaut der Autor zu ausführlich in die Vergangenheit und fügt zu viele allgemeingültige Abschnitte ein, etwa zu den generellen Vorteilen ausländischer Direktinvestitionen. Manches bleibt auch unklar: Was genau ist das „mother sentiment“ der indischen Bevölkerung? Wie sieht eine „Namaste“-Begrüßung aus (beides S. 29)? Worin unterscheiden sich Korruption und „Redtapism“ in Indien (S. 39 ff.)? Warum listet der Autor auf sage und schreibe drei Seiten selbstverständliche Disclaimer auf, zum Beispiel dass er nicht für finanzielle Verluste haftet, die aus einem Indien-Investment folgen könnten? Schließlich hätten weiterführende Literaturangaben geholfen.

Prof. Dr. Britta Kuhn lehrt seit 2002 VWL mit Schwerpunkt In­ ternational Economics an der Wiesbaden Business School der Hochschule RheinMain.

britta.kuhn@hs-rm.de

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