Landeskunde

India revisited

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 5/2023

„Indien – das neue China?“, „Der unterschätzte Riese“, „Die unbekannte Supermacht“, „Indien holt auf“, ­„Indien überholt erstmals England“, „China nicht mehr bevölkerungsreichstes Land der Erde“ oder „Auf dem Weg zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt“ – so titeln die Medien nicht erst seit dem G20-Gipfel in Delhi im September diesen Jahres. Es läuft gut für Präsident Modi, dem die Erfolge derzeit nur so vor die Füße fallen: billiges Öl aus Russland, China ein halber Outcast, Bündnisangebote aus Ost und West, gute Wahlergebnisse für die eigene Partei, die BJP – Herz, was willst du mehr? Zahlt sich da das Beharren auf sogenannten Hinduwerten und auf Drittem Weg zwischen den Blöcken aus?

Man möchte es gerne glauben, aber die skeptischen Stimmen im In- und Ausland sind nicht zu überhören: lange galt das indische Wachstum („Hindu growth“) als Synonym für ein Wirtschaftswachstum, das unter dem der Bevölkerung liegt und daher auch keinen Wohlstand bringt, und dass das Anderthalbmilliardenvolk heute eine wirtschaftliche Gesamtleistung erzielt, die dem der früheren Kolonialmacht England mit einem Dreißigstel der Einwohnerschaft entspricht, ist wohl kaum eine Überraschung; auch dass Indien inzwischen China in puncto Bevölkerungsanzahl überholt hat, ist eher ein Problem als eine Perspektive. Schon allzu oft sei man von Indien enttäuscht worden, heißt es bei den Unternehmen, und unter der Hand spricht man gar von einem „Land der unbegrenzten Schwierigkeiten“, als da sind ausufernde Bürokratie, hohe Zölle, abgeschottete Märkte, Korruption, Armut, Bildungsmängel, monopolartige Strukturen in der Wirtschaft und eine unbeholfene und archaisch arbeitende Justiz. Ist Indien nun die aufsteigende Sonne am globalen Horizont oder ein Subkontinent, der sich seit Jahren im Prokrustesbett seiner eigenen Zwänge windet, ein hoffnungsloser Fall oder ein Phönix aus der Asche? Das Thema hat uns im fachbuchjournal schon ­früher beschäftigt, doch zwei jüngst erschienene ­Werke gehen der Sache nun aktuell auf den Grund. Das ­eine stammt von dem deutschen Journalisten ­Oliver Schulz, die andere aus der Feder des US-Ökonomen mit indischen Wurzeln, ­Ashoka Mody. Beginnen wir mit ihm.

Ashoka Mody: India Is Broken. A People Betrayed, Independence to Today. XII, 511 p. Stanford University Press 2023. ISBN 978-1-5036-3005-5. Hardcover. $ 35,00.

Die Neuerscheinung des in Princeton/New Jersey lehrenden Wirtschaftsprofessors Ashoka Mody, der u.a. bei der Weltbank und beim International Monetary Fund (IMF) tätig war, ist eine Abrechnung mit der indischen Politik der Vergangenheit und handelt von den vertanen Möglichkeiten und Lebenslügen seit der Unabhängigkeit des Jahres 1947 sowie von den intrinsischen, sprich hausgemachten Gefahren für Gegenwart und Zukunft. Dass ausgerechnet ein Inder den Stab über sein eigenes Land bricht, ist in gewisser Weise typisch für die indische Freude an Diskussion und Kritik sowie am Kreuzen geistiger Klingen – ­eine Freiheit der Äußerung, von Freimut und Schärfe der Analyse, die viele Inder auszeichnet und ihnen überall in der Welt Spitzenplätze in Politik, Finanzwelt und Wirtschaft beschert hat. Nicht, dass der Autor mit anderen Ländern weniger hart ins Gericht gegangen wäre! Bereits 2013 identifizierte er die deutsche Wachstumsschwäche als gesamteuropäisches Problem, und sein 2018 erschienenes Buch EuroTragedy – a drama in nine acts, in dem er den Untergang des Euro prophezeit, verrät schon im Titel, dass man bei ihm mit Schmeicheleien nicht rechnen darf. Wie kam es zu seinem diesmaligen Verdikt, das immerhin bei einem der renommiertesten Wissenschaftsverlage der Welt, der Stanford University Press, erschien? An Modys Qualifikation kann kein Zweifel bestehen, auch wenn seine Thesen bisweilen durch Unkonventionalität irritieren. Was er in diesem Buch zu seinem Heimatland zu sagen hat, ist analytisch substantiiert, seine Forderungen sind nachvollziehbar – kurz: es lässt sich nicht auf billige Untergangsprophetie oder Alterspessimismus reduzieren. Das gut lesbare, klar gegliederte Buch setzt bei ­Nehrus Industriepolitik ein: Dammbauten und Großprojekte nach sowjetischem Vorbild prägten das Indien der Nachkriegszeit; doch nicht nur, dass der Beschäftigungseffekt der Investitionen gering blieb, man bediente darüber hinaus auch Partikularinteressen wie die der Stahlindustrie oder der Großbauern; auf die Bevölkerung und die Adivasis, die den Projekten weichen mussten, wurde dabei wenig Rücksicht genommen. Für das Narrativ vom indischen Wirtschaftswachstum, das in den Folgejahren bis zur Gegenwart Konjunktur hat, hat Mody nur einen einzigen Begriff: „Chimäre“. Viel zu wenige Jobs seien entstanden, und selbst das autoritäre Regime Indira Gandhis 1975– 1977 mit seiner Notstandsgesetzgebung habe die wichtigsten Ziele des Landes weder in Angriff genommen noch gar erreicht, als da sind die Schaffung von Jobs und Bereitstellung von Gütern wie ein funktionierendes Gesundheitssystem, ein sinnvolles Wachstum der Städte, eine saubere und lebenswerte Umwelt und eine adäquate Justiz. Auch unter der gegenwärtigen Regierung sieht er nur die Fortsetzung desselben, wenig erfolgversprechenden technokratischen Ansatzes, an dem bisher alle Regierungen des Landes gescheitert seien.

Mody macht den Politikern im Land seiner Geburt, an dem sein Herz trotz seiner US-Staatsbürgerschaft hängt, klare Ansagen: der Traum von technologischen und politischen Allheilmitteln sei eine Illusion, stattdessen sei ein Klima des Vertrauens in die Berechenbarkeit der Politik unabdingbar. Solange kurzfristiger Vorteile wegen langfristiger Ziele wie die oben genannten aufgegeben würden, werde das Vertrauen der Bürger in die Politik auch in Zukunft weiter schwinden – Hindunationalismus hin oder her. Den breiten Konsum fördern, vor allem Jobs und damit Kaufkraft schaffen, den Löhnen Spielraum nach oben geben statt der bisherigen Fixierung auf Spitzentechnik und Leuchtturm- und andere Großprojekte (Raumfahrt, Atommachtambitionen, IT-Branche), die Geldpolitik nicht nach den Wohlhabenden ausrichten – das sind die Vitaminspritzen, die Modi zufolge dem schwachen Elefanten Indien wieder auf die Füße helfen.

Der historischen Herleitung und stringenten Beweisführung merkt man den brillanten Wissenschaftler und Wirtschaftsanalysten mit internationaler Erfahrung an – aber ob Mody mit seinen Ratschlägen die gesellschaftliche Breite des Landes und das politische Management erreicht? Dazu bräuchte es das Charisma eines Gandhi oder eines Nehru, das dem zwar populären, aber arg polarisierenden Ministerpräsidenten Modi abgeht (vorausgesetzt, er wolle die Ratschläge überhaupt befolgen).

Oliver Schulz: Neue Weltmacht Indien. Geostratege, Wirtschaftsriese, Wissenslabor. 223 S., Frankfurt/M.: Westend Verlag. ISBN 978-3-8648-9420-6. Klappenbroschur. € 22,00.

Nun zum zweiten Band. Oliver Schulz, Jahrgang 1968, lernte Indien als Student der Indologie, Tibetologie und Soziologie in den 1990er Jahren kennen und verfolgt seitdem für große deutsche Publikumszeitschriften die Entwicklung auf dem Subkontinent. Seine Gespräche, Analysen, Beobachtungen und Kontakte mit den Religions­gruppen, Politikern, Wirtschaftswissenschaftlern und Geschäftsleuten, armen Teufeln, Männern und Frauen, Dorfbewohnern wie Großstädtern vom Himalaya bis in den tiefen Süden hat er nun in einem lebendig geschriebenen, faktenreichen und hochaktuellen Band zusammengefasst, der die internen Entwicklungen und internationalen Beziehungen des Landes unter die Lupe nimmt. Schulz konstatiert vor allem einen großen Stimmungswandel seit Beginn der 2000er Jahre; im Jahr der Anschläge von New York kam es auch in Indien zu einem terroristischen, religiös motivierten Angriff auf das Parlament in Neu-Delhi, und 2008 folgte eine blutige Attacke auf die Millionenmetropole Mumbai, die dem Erzrivalen und mehrfachen Kriegsgegner Pakistan zur Last gelegt wurde. In der Gemengelage von religiösem Eiferertum (Muslime gegen Hindus) und nationaler Rivalität (Pakistan gegen Indien) wurde der latent vorhandene Hindunationalismus, dem schon Gandhi zum Opfer gefallen war, zunehmend salonfähig: die 1980 gegründete Bharata Janata Party (BJP), eroberte nach und nach die Parlamente und stellt heute mit Modi den Ministerpräsidenten – mit Folgen für das Zusammenleben aller Religionsgruppen. Ausgrenzungen bis hin zum Gedanken an brahmanische Wehrdörfer und muslimische Ghettos nicht nur in Kaschmir, dem einstigen Paradies für Touristen und Einheimische, sind mehr als bloße Gedankenspiele; die Duldsamkeit und Toleranz, die Indien ausgezeichnet hatte, gehört in beiden Religionsgruppen fast schon der Vergangenheit an – und die Christen fühlen sich schon als die nächsten Opfer auf der nationalistischen Agenda.

Schulz schildert in vielen Einzelepisoden diesen Stimmungswandel, der das Zusammenleben von Moslems und Hindus, aber auch von anderen Randgruppen in zunehmendem Maß erschwert. Ob es sich um Dalits handelt, die Kastenlosen, die bis heute, allen staatlichen Bemühungen zum Trotz, gesellschaftlich geächtet sind und denen man Steine in den Weg legt, wenn es um Bildung und Aufstieg geht, oder um den Status der Frau. Schulz konstatiert darüber hinaus sowohl bei Muslimen wie Hindus eine beunruhigende Tendenz zu religiösem Konservativismus, zu Patriarchat und Autoritarismus in Gesellschaft und Familie. Randgruppen haben da nichts zu lachen, wie Beispiele aus der jüngsten Zeit zeigen; so trafen die harschen Coronaauflagen – Ausweisungen ohne Vorankündigung mit nur wenigen Stunden Frist – Millionen Wanderarbeiter, zumeist die ohnehin benachteiligten Dalits, mit voller Wucht.

Dass das Schwinden des liberalen Klimas in Politik und Gesellschaft einhergeht mit einer zaghaften Wirtschafts­ liberalisierung und einer Hinwendung zum oft geschmähten Westen, gehört zu den Inkohärenzen der Ära Modi. Schulz zeichnet die Öffnung des Landes seit den späten 1980er Jahren nach und zeigt, dass – allen Beteuerungen von Blockfreiheit zum Trotz – Indien seine politische und wirtschaftliche Agenda ohne allzu große moralische Bedenken zäh weiterverfolgt und dabei auf dem Weg zur Superpower nur allzu gerne die Phase der geringen Wertschöpfung überspringen möchte: weg von der primitiven Landwirtschaft und rohstoffverschlingenden, produzierenden Industrie direkt hinein ins Zeitalter der digitalen Wertschöpfungsketten mit hohen Skaleneffekten. Dass das so einfach nicht ist, daran lässt unser Autor keinen Zweifel – zu stark fallen die Schwachstellen von Infrastruktur, Bildung oder Gesundheit ins Gewicht, allen Großprojekten und Verbesserungen der letzten Jahre zum Trotz. Bis auf die vorderen Plätze auf der wirtschaftlichen und sozialen Leiter der Nationen ist es Schulz zufolge wohl doch noch ein weiter Weg.

Ist Indien nun ein zuverlässiger „Wertepartner“, ein geopolitischer Wackelkandidat oder gar ein „gesellschaftliches Pulverfass“? Von allem etwas, meint der Autor. Vor allem aber – und das sind die wohl zutreffenden Schlussworte in diesem informativen Band – bleibt Indien „ein besonders eigenwilliger Partner“.

Ein Resümee

Gewiss – der Wirtschaftswissenschaftler Mody zeichnet in seinem historischen Längsschnitt ein düsteres Bild der wirtschaftlichen Entwicklung Indiens seit der Staatsgründung, und der Journalist Schulz lässt uns in seinem Querschnitt auf ein eher trübes Panorama des gegenwärtigen und zukünftigen Indien blicken; dennoch kommen bei beiden Autoren doch einige der sogenannten „weichen Faktoren“ kaum zur Sprache: die enorme kulturelle, ethnische und naturräumliche Vielfalt und der Ressourcenreichtum des Subkontinents sowie der sprichwörtliche Erfindungsreichtum und die Improvisationsgabe seiner Bewohner – das Hindi hat dafür gar einen eigenen Begriff jugaad, „Kunstgriff, Kniff“ –, die dem Außenstehenden immer wieder gehörigen Respekt abnötigen. Angesichts der sprichwörtlichen Resilienz und Heimatliebe der Inder scheint es daher, dass das Land – allen Problemen zum Trotz – seinen Weg, wenn auch nicht mit den erträumten Siebenmeilenstiefeln, so doch vielleicht in größeren Schritten als bisher weitergehen wird. Unbegründete Euphorie und nationalistischer Hochmut sind dabei allerdings ebenso wenig angemessen wie pauschale Schwarzmalerei.

Beide Bände seien nicht nur den Indieninteressierten, sondern auch den Entscheidern in Wirtschaft und Politik dringend ans Herz gelegt. (tk) ˜

Dr. Thomas Kohl (tk) war bis 2016 im Universitäts- und Fachbuchhandel tätig und bereist Südasien seit vielen Jahren regelmäßig.

thkohl@t-online.de

Diese Seite benutzt Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmen Sie dem zu.

Datenschutzerklärung