Editorial

Huldigung, Verriss

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 6/2020

Im Vergleich zu wohlwollenden Leseempfehlungen und der manchmal geradezu überschwänglichen Huldigung besonders schöner Bücher kommen richtige Verrisse im fachbuchjournal eher selten vor. In dieser Ausgabe bewertet unser Rezensent das Lesen einer „Geschichte der Kriminalistik“ als „vergeudete Lebenszeit“ und bezweifelt, wohl begründet, die Fähigkeit des Autors zu wissenschaftlichem Arbeiten.

„Der gemeinsamen Sache nutzten solch klare Worte aus berufener Feder immer, den Autoren der besprochenen Werke oft selbst dann, wenn sie gehörig zurechtgewiesen wurden.“ So kommentiert Georg Siebeck „Das Elend des Rezensionswesens“ im Mohr Kurier von Mai 1998. Elend sind für ihn Kurzfassungen à la Reader’s Digest oder gar Paraphrasen des Inhaltsverzeichnisses, „richtig ärgerlich“ das Übernehmen der Werbetexte des Verlags und bedauerlich die Abstinenz „gestandener“ Gelehrter, die sich „praktisch gar nicht mehr als Rezensenten hervortun“: „Dabei haben doch gerade die K ­ oryphäen eines Faches eine besondere Verantwortung dafür, zu verhindern, daß falsche Ansichten verbreitet werden, oder auch dafür, daß lobenswerte Neuansätze auch hinreichend beachtet werden.“

Mir wurde beim erneuten Lesen dieser Zeilen des ­großen T ­ übinger Verlegers deutlich, was für ein riesengroßes Glück wir mit unseren Autoren und Autorinnen haben und wie viel wir ihnen verdanken. Sie prägen durch ihr gründliches Lesen, ihr fachkundiges, mitunter leidenschaftlich engagiertes Bewerten und ihren kaum zu bremsenden Elan in den vielen Jahren ihrer Mitarbeit das fachbuchjournal.

Die Auswahl an besonderen Büchern ist – nicht zuletzt auch wegen dieser begeisterungsfähigen Crew – auch in dieser Ausgabe wieder groß. Sie werden Ihre Favoriten finden. Mich hat das Buch über die Reise in das verborgene Land Pakistan inspiriert. Mir gefällt die Neugier und Unvoreingenommenheit des jungen Autorenduos: „Es geht darum, die Welt mit neuen Augen zu entdecken, wie ein Neugeborenes, das sie zum ersten Mal öffnet.“ Und eventuell macht die Hommage an die Harley Davidson auch einem Nicht-MotorradBegeisterten Spaß. Das Buch „Trotzdem fröhliche Grüsse!“ empfehle ich Ihnen auf unserer „Grünen Seite“: Die Künstler Otto Morach und Johanna Fülscher haben in den Kriegsund Revolutionsjahren 1918/19 ihre Ideen und Erfahrungen – auch die der schweren Erkrankung an der Spanischen Grippe – durch und mit 100 illustrierten Postkarten intensiv kommuniziert. Vielleicht eine Anregung für den Ideenaustausch in diesen anstrengenden Zeiten?

Auf das Buch „Fleisch ist mir nicht Wurst“ wurde ich wegen des überraschenden Untertitels besonders aufmerksam: „Über die Wertschätzung unseres Essens und die Liebe meines Vaters zu seinem Beruf“. Der Vater des Autors war Metzger. Der Bruder ist Metzger und führt den Familienbetrieb in dritter Generation weiter. Autor Klaus Reichert ist Journalist, Künstler – und Metzgersohn. Die Liebe eines Metzgers zu seinem Beruf? In Zeiten von skandalösen Zuständen in Riesenschlachthöfen und in der Massentierhaltung? Klaus Reichert schafft das Unmögliche: Seine undogmatischen und klugen Betrachtungen über das Thema Fleisch und Fleischkonsum sind so humorvoll, dass das Nachdenken über dieses Thema zum reinen Lesevergnügen wird. Einen ersten Eindruck bekommen Sie in unserem fachbuchjournalGespräch.

Im Oktober sind zwei Bücher erschienen, die jeweils ein Zeitbild einer ganzen Generation in Fotografien zum Ausdruck bringen. Andreas Rost zeigt in „3. Oktober 90“ Porträts aus der Nacht vom 3. Oktober 1990. Ashkan Sahihi hat in den 1980er und 1990er Jahren die Kunstszene New Yorks fotografiert. „The New York Years“ beschreibt diese Zeit in Porträts. Kristina Frick hat die zwei großen Fotografen, die sich bisher nicht begegnet sind, an einem späten Novemberabend über Zoom zusammengebracht. In einem respektvollen Dialog geben die beiden Künstler außergewöhnliche Einblicke in den kreativen Prozess ihres Schaffens. Es ist ein fesselnder Gedankenaustausch.

In diesem ver-rückten Jahr passen wohlmeinende ­Worte zum Jahresende nicht in mein Konzept. Iris Radisch, die Literaturkritikerin der ZEIT, erhielt am 31. Oktober den Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Der Schluss ihrer wundervollen Dankesrede passt: „So wie man nach einer schweren Krankheit zu einem zweiten, demütiger ­ en Leben kommen kann, in dem die Gesundheit nicht mehr selbstverständlich ist, sieht man nach der Lektüre großer Bücher klarer und erträgt die Zerbrechlichkeit und Absurdität des Lebens gelassener.“

Angelika Beyreuther

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