Kennengelernt haben wir uns im Mai 1996.
Wolfgang Schuller war Vortragender beim VII. Bautzen-Forum der Friedrich-Ebert-Stiftung; ich besuchte die Tagung als Journalistin. Seit der Friedlichen Revolution 1989 trafen sich in Bautzen jedes Jahr ehemalige politische Häftlinge, Politiker, Historiker sowie Journalisten aus der DDR und aus osteuropäischen Ländern, um – als „Mahnung gegen das Vergessen“ – die Aufarbeitung des geschehenen Unrechts voranzubringen. Widerstand, Verfolgung, Haftbedingungen, Entschädigung der Opfer, das waren und sind die Themen, die nach historischen Umbrüchen oft in Vergessenheit geraten. In Bautzen, wo das Ministerium für Staats sicherheit der DDR jahrzehntelang im sogenannten „Gelben Elend“ Oppositionelle weggesperrt hatte, war man sich aber einig: Versöhnung gibt es nur gegen Wahrheit.
Danach sind Wolfgang Schuller und ich uns bei Konferenzen zu dieser Thematik immer wieder begegnet, haben unsere Gedanken und unsere Texte ausgetauscht. Das Thema hat uns – aus unterschiedlichen Gründen – nicht mehr losgelassen.
Wolfgang Schuller war Volljurist und Althistoriker. Er wurde in Hamburg mit einer Arbeit über das Strafrecht der DDR zum Dr. jur. promoviert und war fortan, in seinen eigenen Worten, ein „juristisch angehauchter Zeithistoriker oder zeithistorisch angehauchter Jurist“. In Berlin beendete er sein Zweitstudium und habilitierte sich 1971 in Alter Geschichte. 1976 folgte er einem Ruf als Ordinarius an die Universität Konstanz, wo er bis zu seiner Emeritierung Anfang 2004 als Lehrstuhlinhaber für Alte Geschichte blieb.
Als ich mich 2009 nach klugen Köpfen für unsere neugegründete Zeitschrift umschaute, war er sofort zur Mitarbeit bereit. Im Sommer 2010 erhielt ich von ihm die ersten Texte. Er besprach damals diese Bücher: „Die sowjetischen Geheimdienste in der SBZ/DDR von 1945–1953“; „Günter Grass im Visier: Die StasiAkte“ und „Die SED: Geschichte einer deutschen Partei“. Im Februar 2020 veröffentlichten wir unter der von ihm selbst gewählten Überschrift „Stalinismus – Höhepunkt und Zerfall“ seine letzten Besprechungen, darunter das von ihm schon Monate vorher als „tief beeindruckend“ angekündigte Buch von Renate Lachmann „Lager und Literatur. Zeugnisse des GULAG“, außerdem „Die Moskauer. Wie das Stalintrauma die DDR prägte“, „Die DDR im Blick der Stasi, 1989“ und „SED-Diktatur und Erinnerungsarbeit im vereinten Deutschland“. Diese Titel geben die Spannbreite der in den dazwischenliegenden zehn Jahren verfassten Rezensionen wieder. 2013 erinnerte er an den Jahrestag des Volksaufstands am 17. Juni 1953; im Jahr 2014, 25 Jahre nach dem Mauerfall, sollte seine Buchauswahl dazu beitragen, den DDR-Staat „in seiner ganzen Alltäglichkeit, aber auch in seiner repressiven Struktur“ nicht zu vergessen. Und im gleichen Jahr würdigte er den 70. Jahrestag des 20. Juli 1944 mit einer ganz außergewöhnlichen Komposition von Neuerscheinungen zum deutschen Widerstand gegen Hitler.
Selten haben wir telefoniert. Aber wir hatten einen sehr regen Austausch per E-Mail. Und es kam immer wieder Post aus Konstanz, der Briefbogen immer rechts oben gekennzeichnet mit Nur zum persönlichen Gebrauch, immer kursiv und unterstrichen, zwar auf dem Computer geschrieben, aber das Schreibmaschinenformat auf dem Papier beibehalten. Manchmal gab es dazu handschriftliche Bemerkungen. Einfach nur solche wie: „Damit der lebendige Briefträger etwas zu tragen hat“. Oder: „Zugabe für Angelika Beyreuther“. Dann betraf dies manchmal erste Ideen zu zukünftigen Projekten für das fachbuchjournal.
Die wohl außergewöhnlichste Idee entwickelte sich seit März 2016, nachdem Wolfgang Schuller die Akropolis in Athen besucht und im Mai 2016 in Konstanz eine deutsch-griechische Tagung über die Akropolis geleitet hatte. Danach schlug er überraschend vor, für das fachbuchjournal eine „Literaturübersicht“ zur Restaurierung der Akropolis zu schreiben, denn die Arbeiten wurden wegen der negativen Erfahrungen mit früheren Restaurierungen von einer umfangreichen Publikationstätigkeit begleitet. In Ausgabe 3-2018 konnten wir den international viel beachteten Exklusivbeitrag „Die Restaurierung der Akropolis in Athen“ veröffentlichen. Durch Fürsprache bei seinen griechischen Freunden bekamen wir dazu auch exklusives Bildmaterial.
Das Thema hat ihn sehr berührt. Den Fortschritt der Restaurierungsarbeiten fasste der Althistoriker, der sich über Athen im 5. Jh. v. Chr. habilitiert hatte und nun – seine Worte – „zu den Anfängen zurückgekehrt“ war, so zusammen: „Wenn man heute die Arbeiten betrachtet, durch die Griechenland mit Unterstützung Europas und der Welt die Zerstörungen mit Augenmaß, Respekt vor der Geschichte und ausgefeiltem technischen Können wieder zu heilen im Begriffe ist, dann wird man das mit Horaz als einen Stein gewordenen Gesang nennen dürfen, mit dem diese Stadt durch die Griechen selbst wieder so eindrucksvoll gefeiert wird, wie es schon lange nicht mehr hatte geschehen können.“
Stein gewordenen Gesang! Ich fand diese Metapher umwerfend schön! Wolfgang Schuller hatte einen Blick für Essenzielles.Ausnahmslos alle seine Texte waren druckreif, perfekt durchkomponierte sprachliche Meisterstücke. Und sie überraschten, waren auch manchmal voller Witz und immer beeindruckend, denn sie offenbarten seinen riesengroßen und so viele Gebiete umfassenden Wissens- und Erfahrungsschatz. Er beherrschte die hohe Kunst des Schreibens, auch die hohe Kunst des Rezensierens.
Zwischen uns hat sich in den vielen Jahren eine Brieffreundschaft entwickelt. Mit der Zeit wurde das fachbuchjournal für ihn zu einer Herzensangelegenheit. Als es unserem kleinen Team 2018 gelang, den Verlag aus der in die Insolvenz geratenen Druckerei zu retten, schrieb Wolfgang Schuller: „Ich beglückwünsche Sie und uns zur Rettung des fbj!“ Wie habe ich mich damals über diese handschriftlichen Zeilen gefreut!
„Alle Besprechungen werden gemacht. Und jetzt wieder schlafen … Ihr Wolfgang Schuller“, zwei Wochen nach dieser spätabendlichen E-Mail sah ich frühmorgens am 7. April in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den Nachruf: „Chronist seiner Zeit. Zum Tod des Historikers Wolfgang Schuller“. Am Abend erreichte mich die E-Mail seiner Familie.
Für diesen Sommer hatten wir uns am Bodensee verabredet.
Angelika Beyreuther