Landeskunde

Das japanische Kaiserhaus

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 4/2023

Daniel F. Schley (Hg.), Japans moderne Monarchie. Beiträge japanologischer Forschung zur Wahrnehmung und Geschichte der Tennō. Münster u.a.: LIT 2022, 280 S., ISBN 978-3-643-14799-8. € 34,90.

Als Tennō Akihito im Jahre 2016 seinem Wunsch Ausdruck verlieh, nach fast 30 Jahren auf dem Thron aus dem Amt zu scheiden, schlug dies in Japan hohe Wellen. Seit der Meiji Restauration von 1868 war die Abdankung eines Kaisers weder in den Verfassungen von 1889 und 1947 noch in den „Kaiserlichen Hausgesetzen“ vorgesehen. Die japanische Öffentlichkeit reagierte auf den Wunsch des Monarchen dennoch mehrheitlich mit Zustimmung; die Regierung und die Traditionalisten in der japanischen Politik sahen sich indes vor ein Dilemma gestellt. Schließlich einigte man sich auf ein Sondergesetz, das dem amtierenden Tennō im April 2019 die Abdankung erlaubte. Sein Sohn, Kronprinz Naruhito, übernahm als neuer Tennō am

1. Mai 2019 die Amtsgeschäfte. Für Japan begann damit im wahrsten Sinne des Wortes eine neue Zeit. In einer luziden Einleitung zeichnet Daniel F. Schley, Japanologe an der Universität Bonn und Herausgeber dieses Sammelbandes, die Geschehnisse und Debatten nach. Er weist auch darauf hin, dass der Amtsverzicht eines Tennō im vormodernen Japan keine Seltenheit war. Von den 102 historisch nachgewiesenen Tennō seien insgesamt 60 zurückgetreten. Nicht immer ging damit ein Verlust an Macht einher. Seit dem 11. Jahrhundert übten die Tennō auch nach dem Verzicht auf den Thron Einfluss aus. Das wird man von Akihito in seiner neuen Rolle als „Emperor Emeritus“ nicht erwarten können.

Unabhängig davon stellt sich aber bei jedem Thronwechsel die Frage nach dem historischen Selbstverständnis des japanischen Kaiserhauses aufs Neue. Das hat nicht zuletzt mit den vom Shintō geprägten religiösen Ritualen des Thronwechsels zu tun, durch die sich jeder neue Tennō in die Tradition der Götter- und Ahnenverehrung stellt – ungeachtet der Tatsache, dass nach der Verfassung von 1947 Staat und Religion streng getrennt sein sollten.

Die meisten Beiträge dieses erhellenden Bandes thematisieren deshalb mit Blick auf das japanische Kaiserhaus das Verhältnis von Politik und Religion. Klaus Antoni (Tübingen), seit langem einer der besten Kenner des japanischen Kaisertums, widmet sich dem Identität stiftenden Kult um den ersten mythischen Tennō Jinmu, der angeblich im Jahre 660 v. Chr. das Kaiserreich Japan begründet haben soll. Antonis Aufsatz zeichnet anschaulich die Verbindungen von Mythologie und aktuellem Thronwechsel auf. Im November 2019, also einige Monate nach Amtsantritt, vollzog der neue Tennō eine Reihe von religiösen Ritualen. Das „Große Erntefest“, ein Kommunionsritual mit den göttlichen Ahnen, sowie die Bekanntgabe des Thronwechsels am Ise-Schrein, in dem der Sonnengöttin gehuldigt wird, und an Gräbern der Vorfahren, darunter auch die angebliche Grabstätte des vermeintlichen Reichsgründers Jinmu, verweisen, so Antoni, „auf die tiefe religiöse, genauer mythologische Verortung des Kaisertums auch in heutiger Zeit“ (S. 21).

Brigitte Pickl-Kolaczia (Wien) geht in ihrer mit schönen Illustrationen versehenen Studie der Frage nach, wie die Tennō sich am Ende der Tokugawa-Zeit aus der ursprünglich engen Verbindung zum Buddhismus lösten und sich aus politischen Gründen mehr und mehr dem Shintō zuwandten. Die Restituierung der alten Grabstätten, von denen nach heutigem Forschungsstand nur 16 als wirklich gesichert angesehen werden können, und der Wandel der Bestattungsriten stehen hier im Vordergrund der Betrachtung. Auch wenn dem Rezensenten der im Titel des Beitrags verwendete Begriff der „Konversion“ als zu stark erscheint, macht die Autorin doch plausibel, wie der Buddhismus offiziell immer stärker in den Hintergrund gedrängt wurde. So wurde etwa buddhistischen Mönchen die Teilnahme an der Bestattung Kōmei Tennōs im Jahre 1867 verwehrt. Unabhängig davon hielten die kaiserlichen Familien privat auch nach der Meiji-Restauration von 1868 an buddhistischen Trauerriten fest. Um die Rolle des Tennō als „gegenwärtige Gottheit“ geht es in dem Beitrag von Michael Wachutka (Tübingen/Kyōto).

Am 1. Januar 1946 hatte Hirohito mit der sogenannten „Erklärung des Menschseins“ seiner vermeintlichen Göttlichkeit abgeschworen. Sie ist für den Verf. Ausgang für die interessante Frage, woher die Vorstellung, der Kaiser sei eine „gegenwärtige Gottheit“, eigentlich kommt. Japan sei, so der Verf., kein Einzelfall; auch in anderen Weltregionen habe es immer wieder Beispiele für theokratische Formen der Herrschaft gegeben. In den ältesten japanischen Annalen – dem „Kojiki“ von 712 und dem „Nihongi“ von 720 – würden die Tennō seit Tenmu als „gegenwärtige Gottheit“ bezeichnet. Dass sich auch in dieser Epoche der Begriff „Tennō“ („Himmlischer Herrscher“) als Bezeichnung für den obersten Herrscher durchsetzte, spricht für sich. Japan, so die These Wachutkas, sei deshalb nicht nur in der Moderne bis 1945, sondern „auch im späten siebten und achten Jahrhundert als eine legalisierte und institutionalisierte Theokratie […] anzusehen“ (S. 120). Wie eng das Kaiserhaus daneben dem Buddhismus anhing, zeichnet Markus Rüsch (Kyōto) in seiner Studie über die wechselseitigen Beziehungen zwischen Hof und Buddhismus nach. Mit plausiblen Argumenten wird die Fokussierung auf den Shintō in Frage gestellt. In der Vormoderne seien dieser und der Buddhismus mit seinen zahlreichen Schulen eng miteinander verbunden gewesen. Die Tennō hätten z. B. Ehrentitel für den hohen buddhistischen Klerus verliehen. Tennō, die zurückgetreten seien, und Mitglieder des Hochadels seien gelegentlich als Mönche in Tempel eingetreten. Darüber hinaus habe das Chrysanthemen-Wappen des Kaiserhauses auch in Tempeln Verwendung gefunden. Ein buddhistisches Krönungsritual in der Art einer Taufe habe es bis zur Amtzeit Kōmei, des letzten Tennō in der Tokugawa-Zeit, gegeben. Die kurzfristige Zurückdrängung des Buddhismus nach der Restauration dürfe man, so Rüsch, nicht überschätzen. Heute bestehe die „Verwobenheit von Buddhismus und Tennō“ weiter, sie zeige sich nur anders, etwa bei Besuchen buddhistischer Tempel durch den Tennō und seine Familie. Im Aufsatz von David M. Malitz (Tōkyō) steht nicht das Verhältnis von Kaiserhaus und Religion im Vordergrund, sondern die Funktion des Meiji-Tennō und seines konstitutionellen Regimes als Vorbild für die kolonisierten und „halbkolonisierten“ Länder Asiens. (Der Begriff der „Halbkolonie“ bleibt hier etwas unscharf.) Die konstitutionelle Monarchie war für die Reformkräfte in China, im Osmanischen Reich, in Persien und in Siam attraktiv; das gleiche gilt für die von der Meiji-Regierung betriebene Übernahme westlicher Technik bei Wahrung der indigenen kulturellen Traditionen. Der Meiji-Tennō wurde als ein aufgeklärter Monarch (miss)verstanden, weil er die Mitwirkung des Volks an der Macht durch Wahlen und ein Parlament zuließ. Der Verweis auf Japan diente in den Ländern Asiens somit als indirekte Kritik an den politischen Gegebenheiten im eigenen Land.

Angesichts der Bedeutung des Kaisertums für Staat, Gesellschaft und Kultur in Japan ist es kein Wunder, dass der Tennō und seine Familie immer wieder Gegenstand hitziger Debatten sind. Erinnert sei hier an die Kontroversen um eine weibliche Thronfolge, die es im vormodernen Japan immer wieder gegeben hat. Neben der bis 1945 auch verfassungsrechtlich gesicherten Einheit von Religion und Regierung und dem daraus abgeleiteten Anspruch auf Alleinherrschaft ist es vor allem die vermeintlich ununterbrochene Abstammungslinie göttlichen Ursprungs, die immer wieder Anlass für Diskussionen gibt. Der Herausgeber stellt in einem eigenen Beitrag am Ende des Buchs drei Autoren vor, die allesamt vor 1945 geboren wurden, zum Teil einer essentialistischen Sicht auf die japanische Kultur anhängen und an der politisch-theoretischen Begründung des modernen „Symbol-Tennōtums“ nach 1945 mitgewirkt haben. („Der Kaiser ist das Symbol des Staates und der Einheit des japanischen Volkes“, heißt es in Art. 1 der Verfassung von 1947.) Es geht dabei u.a. um dessen vormoderne Wurzeln und die historische Kontinuität des Kaiserhauses. Sie wird zum einen mit der religiösen Autorität des Tennō (zumindest bis 1945) erklärt und zum anderen mit der Tatsache, dass die Tennō immer wieder auf Macht verzichtet haben und dadurch ihre Autorität wahren konnten. Für Schley erwies sich diese „Rollenverteilung“ „als besonders effektiv“ (S. 274). Darüber hinaus spielt in den Debatten die religiöse Mentalität eine Rolle, wobei Japan (mit Blick auf den Shintō) dem Typus der „Naturreligionen“ (im Gegensatz zu den eher dogmatisch ausgerichteten „Stifterreligionen“) zugeordnet wird. Gemeinsam ist den verschiedenen Diskursen, dass sie den kulturellen Zusammenhalt in Japan auf das Kaiserhaus und die von ihm repräsentierte „politische Religion“ zurückführen. Aus den Beiträgen dieses lesenswerten Sammelbandes lässt sich viel über die Geschichte und die gegenwärtige Stellung des Kaiserhauses und die japanische Kultur insgesamt lernen. Andererseits legt der Band aber auch einige Leerstellen der Forschung offen. Man hätte gern die Amtszeit des letzten Tennō Akihito etwas ausführlicher gewürdigt gesehen; bei seinen internationalen Auftritten hat er Japans Schuld am Krieg deutlicher angesprochen als es vielen in der konservativen Regierung lieb gewesen ist. Ein anderes Thema, das in Zukunft noch eine eingehendere Betrachtung verdient, ist das Verhältnis von Kaiserhaus und Massenmedien. Denn sie sind es, die in den breiten Schichten der Gesellschaft das Bild von Kaiserhaus und Kaiser wohl noch stärker formen als die Debatten der Intellektuellen. (wsch)

Der Historiker Wolfgang Schwentker (wsch) ist Professor emeritus an der Universität Ōsaka. Er lehrte dort von 2002 bis 2019 vergleichende Kultur- und Ideengeschichte. Im Herbst letzten Jahres erschien im Verlag C.H. Beck sein neues Buch, eine „Geschichte Japans“.

wolfgang.schwentker@gmx.de

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