Landeskunde

Wie prekär ist die Lage in Japan?

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 6/2019

Wieland Wagner, Japan – Abstieg in Würde. Wie ein alterndes Land um seine Zukunft ringt. München: Deutsche Verlagsanstalt und Hamburg: SPIEGELVerlag 2018, Hardcover, ISBN 978-3-421-04794-6. € 20,00

Reifere Leser haben seit den 1970er Jahren den Aufstieg Japans zu einer der führenden Industrienationen der Welt noch selbst miterleben können. Autos, Fotoapparate und Stereogeräte aus japanischer Produktion gehörten bald zum deutschen Alltag. Der „Walkman“ von Sony, der 1979 auf den Markt kam, wurde weltweit zu einem begehrten „Kultobjekt“. Die heute 20Jährigen hingegen verbinden mit Japan etwas ganz anderes. Mangas, Anime-Filme und Cosplay-Kostüme sind Elemente der japanischen Populärkultur, von denen heute offenbar eine ganz besondere Faszination ausgeht, und „Sushi to go“ gibt es mittlerweile in jedem größeren deutschen Bahnhof. Als wirtschaftliche Supermacht, die die westlichen Industriegesellschaften bedrohen könnte, wird heute nicht mehr Japan, sondern China wahrgenommen. Das Inselreich scheint sich stattdessen in einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Abwärtsspirale zu befinden, ohne eine Vision dafür zu haben, wie man diesen „Abstieg“ noch aufhalten könnte. Dies ist, verkürzt formuliert, der Befund des provokativen Buchs von Wieland Wagner, der Japan, seine Geschichte und Gesellschaft gut kennt. Er leitete das Büro des SPIEGEL in Tokyo von 1995 bis 2004 und kehrte, nach Zwischenstationen in China und Indien, 10 Jahre später wieder dorthin zurück. Die Einleitung seines Buchs beschreibt eine „Art Heimkehr“ in ein Land, das sich, trotz aller kulturellen Errungenschaften und einer gut funktionierenden Infrastruktur, in den vergangenen 20 Jahren, so die These, zum Schlechten hin verändert habe.

Das eingängig geschriebene Buch ist das Ergebnis zahlreicher Reisen durch Japan, auf denen Wagner viele Erfahrungen sammeln konnte und als Journalist mit Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und Berufsgrup-

pen gesprochen hat. Es besteht aus fünf Kapiteln, von denen das erste mit dem allzu düsteren Titel „Land ohne Hoffnung“ überschrieben ist. Darin geht es vor allem um die Konsequenzen des demographischen Wandels, denn Japan vergreist. Im Jahre 2016 gab es bereits über 65.692 Menschen, die älter als 100 Jahre waren. 27,66 % der Menschen sind 65 Jahre alt oder älter. Die Geburtenziffer ist mit 1,43 Kindern (2017) zu gering, um den Bevölkerungsrückgang aufzuhalten. Bis 2060 wird Japan wohl 40 Millionen Einwohner weniger zählen. Das hat Folgen für den Arbeitsmarkt, für den Konsum und für die Pflege der Alten. Die aus der Ferne bewunderten japanischen Roboter geben, so Wagner nach Gesprächen mit Fachleuten aus der Pflege, weniger her als gemeinhin vermutet. Hinzu kommen soziale Entwicklungen, die insbesondere die Arbeiter und Angestellten sowie die Jugendlichen treffen. Wagner listet in diesem Zusammenhang eine Reihe schauriger Beispiele auf: von alten Männern, die einsam sterben und wochenlang in ihrer Wohnung liegenbleiben; von jungen Frauen, die solange arbeiten müssen, dass sie sich aus den Fesseln der japanischen Arbeitswelt nur noch durch Suizid zu lösen vermögen; von jungen Männern, die sich den Leistungsanforderungen der Gesellschaft verweigern und das Zimmer im Haus ihrer Eltern nicht mehr verlassen; von Kindern, die von Mitschülern gemobbt werden und sich deshalb weigern, überhaupt noch zur Schule zu gehen. Für all diese sozialpathologischen Entwicklungen hat die japanische Sprache mittlerweile eigene Begriffe gefunden. Die Probleme werden zwar offen diskutiert, nur fällt es aufgrund des sozialen Anpassungsdrucks schwer, sie auch abzustellen.

Ähnlich problematisch gestaltet sich nach Wagner der Umgang mit der Katastrophe vom 11. März 2011, bei der es infolge eines schweren Erdbebens und eines Tsunami zur Zerstörung einer Atomkraftanlage in Fukushima kam. Japan habe hier, so der Autor, eine große Chance vertan. Er beschreibt das schlechte Katastrophen- und Krisenmanagement in den Wochen und Monaten nach dem GAU und zeigt auf, wieso das Land trotz der Erfahrungen in Hiroshima und Nagasaki an der zivilen Nutzung der Kernenergie festhält. Das „Atomdorf“, ein enger Verbund von Politik, Atomwirtschaft und Verwaltung, will aus wirtschaftlichen Gründen am Atomstrom festhalten. Alternative Energiequellen (Solar- und Windenergie sowie Erdwärme) würden kaum genutzt, obwohl die natürlichen und technologischen Voraussetzungen dafür eigentlich gegeben seien. Das größte Problem werde der nukleare Müll sein; mit dessen Lagerung werde Japan noch über Jahrzehnte hinweg zu tun haben.

Den Mittelteil des Buchs bildet ein historischer Rückblick auf die Geschichte Japans, der für Leser, die wenig vom Thema wissen, auch in seiner Kürze informativ ist, systematisch aber eigentlich nicht gut in die Konzeption des Buchs und zu seiner These passt. Denn aus der Geschichte

Japans, insbesondere in der Moderne seit der Meiji-Restauration, lässt sich eigentlich ablesen, dass es Japan immer wieder verstanden hat, sich neu zu erfinden und sich in der Welt zu positionieren. Auch wenn sie dem Einzelnen in der Regel viel abverlangen, so sind doch die Innovationskapazitäten dieser Nation nicht zu unterschätzen. Deshalb scheint es auch für einen „Nachruf“ auf Sony und andere Wirtschaftsgiganten der Japan Inc., den Wagner anstimmt, noch etwas früh. Im vierten Kapitel werden der wirtschaftliche Niedergang Japans, oder genauer, der industrielle Abschwung, die Finanzkrisen sowie die zahlreichen Wirtschaftsskandale beschrieben. Japan hat auf dem Gebiet der traditionellen Industriewirtschaft fraglos an Einfluss verloren und im Bereich der digitalen Kommunikationstechnologie, so scheint es, der ausländischen Konkurrenz von Apple oder Samsung das Feld überlassen müssen. Als bekennender Fan des Sony-Designs und begeisterter Nutzer eines Sony-Xperia kann der Rezensent hier nicht objektiv sein. Aber nicht nur Sony, sondern auch andere japanische Technologieriesen, etwa im Bereich der Fernseh- und Kameratechnik (Panasonic, Nikon, Canon etc.) oder der Medizintechnik (Olympus), können immer noch hohe Marktanteile für sich verbuchen. Ein anderer Kritikpunkt wiegt schwerer. Wagner folgt der Formel von den „verlorenen Jahrzehnten“ seit Beginn der 1990er Jahre und unterschätzt, dass sich die japanische Industrie seitdem im Bereich der Hochtechnologie auf Nischenprodukte spezialisiert hat. (Zwar hat Japan nach dem Platzen der „bubble economy“ Zeit verloren, aber diese später auch wiedergewonnen, wie Wagners Kollege David Pilling von der Financial Times einmal schrieb. Sein Buch „Japan – Eine Wirtschaftsmacht erfindet sich neu“, das im fachbuchjournal (Ausgabe 1/2014) besprochen wurde, ist gleichsam die Gegenerzählung zu Wagners Dystopie.) Die koreanische Digitaltechnik kommt im Moment ohne hochwertige japanische Fotolacke oder andere chemische Produkte nur schwer zurecht, weshalb Japan diese auch mittels Exportbeschränkungen als diplomatische Waffen in der umstrittenen Frage der Entschädigungen für die koreanischen Zwangsarbeiter einsetzt. Weniger bekannt ist, dass mehr als 30% aller Komponenten in einem Apple iPhone in Japan hergestellt werden, auch wenn das Gerät selbst dann in Taiwan oder anderswo zusammengebaut wird. Die deutsch-amerikanische Ökonomin Ulrike Schaede hat diese Spezialisierung auf technologische Nischen in ihrem Buch „Choose and Focus: Japanese Business Strategies for the 21st Century“ (2008) beschrieben. Einen ersten Eindruck von der Bedeutung dieser hochspezialisierten Nischenprodukte bekam die Welt, als nach dem März 2011 durch den Ausfall mittelständischer Unternehmen im Nordosten Japans die globalen Produktionsketten zeitweilig unterbrochen waren. Eine weitere kritische Frage in diesem Zusammenhang ist, wie sich denn die extrem hohen Handelsbilanzüberschüsse Japans gegenüber den USA oder Südkorea erklären lassen, wenn die japanische Wirtschaft, wie von Wagner behauptet, wirklich in einer so starken Abstiegsspirale befangen ist.

Zuzustimmen ist dem Autor in seiner kritischen Analyse der japanischen Politik unter der Führung des konservativnationalistischen Premiers Shinzô Abe. Abe ist seit Ende 2012 im Amt und hat sich vor allem mit seiner Politik der „Abenomics“ einen Namen gemacht. Gemeint ist damit eine strategische Neuausrichtung der Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik, vor allem mittels staatlicher Konjunkturspritzen, struktureller Reformen, etwa was die Stärkung der Frauen in der Arbeitswelt betrifft, und einer ultra-lockeren Geldpolitik. Keine dieser Maßnahmen hat in den vergangenen sieben Jahren wirklich gute Ergebnisse gebracht; nur die japanische Exportwirtschaft hat von der willfährigen Politik des Gelddruckens durch die japanische Notenbank profitiert. Sparer und mittelständische Unternehmer hingegen gingen bei den „Abenomics“ leer aus. Diese Leute versucht Abe durch eine kraftvolle, nationalistisch temperierte Außenpolitik gegenüber den asiatischen Nachbarn an sich zu binden, wenn er ihnen schon keine Lohnzuwächse bieten kann. Im Zentrum der politischen Agenda Abes steht nach Wagner, die Verfassung von 1947 zu revidieren. Ziel sei es, „den Staat und seine Belange wieder über das Individuum“ zu stellen und somit einen „konfuzianisch geprägten Obrigkeitsstaat“ zu restituieren (S. 213).

Der Schluss dieses anregenden Buchs ist dem Tennô gewidmet. Akihito, der im April 2019 aus freien Stücken abgedankte, habe sich dabei im Grunde als ein Reformer gezeigt, denn die Abdankung eines Tennô zu Lebzeiten ist im modernen Japan nicht üblich. Sie erfolgte eigentlich gegen den Willen der Regierung, die zu einer Reform der Monarchie nicht in der Lage sei. Frauen sind bis heute von der Thronfolge ausgeschlossen. So endet dieses überaus skeptisch gestimmte Buch doch noch mit einer versöhnlichen Note, auch wenn der Autor einräumen muss, dass die Kräfte der Beharrung in Japan stark sind. (wsch)

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