„Ein bißchen Salonantisemitismus, etwas politische und religiöse Gegnerschaft, Ablehnung des politisch Andersdenkenden, an sich ein harmloses Gemengsel, bis ein Wahnsinniger kommt und daraus Dynamit fabriziert. Man muss diese Synthese begreifen, wenn Dinge, wie sie in Ausch witz geschehen sind, in Zukunft verhütet werden sollen. Wenn Haß und Verleumdung leise keimen, dann, schon dann heißt es wach und bereit zu sein. Das ist das Vermächtnis derer von Auschwitz.“
(Lucie Adelsberger: Auschwitz. Ein Tatsachenbericht. Berlin, 1956. S. 173)
Seweryna Szmaglewska: Die Frauen von Birkenau. Frankfurt am Main: Schöffling & Co. 2020. 449 S. ISBN 978-3-89561-536-8 € 28.00
Im Dezember 1945 erscheint in einem Warschauer Verlag in polnischer Sprache das Buch Dymy nad Birkenau von Seweryna Szmaglewska (1916–1992), es liegt bei den Nürnberger Prozessen dem Internationalen Militärgerichtshof als Beweismittel vor, wird zum Klassiker und zur Schullektüre, und die Autorin berichtet vor Ort in Nürnberg über Birkenau. Bereits 1947 erscheint eine englische Übersetzung, weitere Ausgaben in zehn Sprachen folgen, bis jetzt sind in Polen 22 Ausgaben erschienen. In Deutschland 75 Jahre lang Schweigen! Die Übersetzerin fragt: „Wieso kam also damals kein Verleger auf die Idee, eine deutsche Fassung zu publizieren? Weil es eine Zeit war, in der die aktuelle politische Realität viel interessanter war? … Und später? Hatten etwa diejenigen recht, die behaupteten, die Deutschen seien der Thematik überdrüssig geworden?“ (S. 438) Seweryna Szmaglewska kommt 1916 in dem Dorf Przygłów 50 Kilometer südöstlich von Lodz zur Welt, Mutter und Vater sterben früh. Sie besucht das staatliche Lehrerseminar in Piotrków und studiert polnische Sprache und Literatur an der Krakauer Jagiellonen-Universität und an der Universität Warschau. Seweryna will Schriftstellerin werden und schreibt verschiedene Reportagen. Mit Ausbruch des Krieges kehrt sie nach Piotrków zurück und schließt sich dem Untergrund an. 1942 wird sie verhaftet und nach AuschwitzBirkenau deportiert. Angesichts des Vormarsches der Roten Armee soll Seweryna mit anderen Häftlingen in das KZ Groß-Rosen überstellt werden. Auf dem Fußmarsch dorthin gelingt ihr die Flucht. Nach der Befreiung wird sie eine erfolgreiche Schriftstellerin, zuerst mit ihren Büchern über ihre Erfahrungen während des Krieges und im KZ, später auch mit Romanen, Erzählungen, Reportagen und Kinderbüchern. Ihr bekanntestes Buch, der 1960 veröffentlichte, in einem Pfadfinderlager spielende Jugendroman Czarne Stopy (Schwarze Füße), wird 1986 erfolgreich von Waldemar Pogórski verfilmt. Im Lager lernt Seweryne ihren späteren Ehemann, den Architekten Witold Wi´sniewski (1917– 1989) kennen, sie heiraten und bekommen zwei Söhne. Das Buch Die Frauen von Birkenau entzieht sich jeder Zuordnung – kein Roman, kein Bericht, keine Reportage, kein Essay. Für den Rezensenten ist es ein in der Chronologie der Ereignisse verfasster außergewöhnlich detaillierter Überlebensbericht und ein Zeitdokument von hoher literarischer Qualität, ein einmaliges authentisches Denkmal für die Frauen von Birkenau. Es geht um die Abgründe von Birkenau, das tägliche Leiden und Sterben, um Stichworte wie Selektionen auf Leben und Tod an der Rampe, grausame und menschenverachtende Aufseher und Strafkommandos, Arbeit und Erschöpfung, Kälte, Hunger und Nahrungssuche, Krankenrevier und Typhus, Denunziation, Liquidierung und Krematorien – und es geht um Widerstand und Solidarität im Frauenlager, so um die Widerstandskämpferin Zofia Sikorska, die Tänzerin Franciszka Mann, die in der Umkleideraum bei der Gaskammer einem SS-Mann die Waffe entreißt und einen SS-Oberscharführer erschießt (über sie existiert m.E. keine umfassende biografische Veröffentlichung), das griechische Mädchen Alegri „mit den Augen, die schön sind wie ein schwarzer Samt oder eine stürmische Nacht“ (S. 258), das für die Mithäftlinge griechische Volkslieder singt.
Dank an die Publizistin und Übersetzerin Marta Kijowska und den Verlag für dieses großartige Buch. Es ist eine Schande, dass es so spät auf den deutschen Buchmarkt kommt, Täter und Opfer sind kaum noch am Leben, aber angesichts der rechtsradikalen Bedrohungen kommt es nicht zu spät.
Maria Anna Potocka: Zofia Posmysz. Die Schreiberin 7566. Auschwitz 1942-1945. Wallstein Verl., 2019. 135 S. ISBN 978-3-8353-3482-3 € 16.00
Die in Krakau 1923 geborene Zofia Pomysz will nach dem Besuch der Volksschule eigentlich in einer Rechtsanwaltskanzlei arbeiten. Dann aber bricht der Krieg aus, sie bekommt von den Besatzern eine Arbeit in einem deutschen Kasino zugewiesen. Während eines illegalen Unterrichts, der unter konspirativen Bedingungen in Privatwohnungen stattfindet, beginnt sie mit Untergrundtätigkeiten. Nach einer Denunziation wird sie im April 1942 verhaftet. Nach sechs Wochen Untersuchungshaft wird sie nach Auschwitz verlegt, später kommt sie nach Ravensbrück und in das Nebenlager Neustadt-Glewe. In den KZs erlebt sie das ganze Ausmaß der Grausamkeiten. Nach der Befreiung geht sie zurück nach Polen und studiert an der Universität Warschau. Danach arbeitet sie bis 1975 beim polnischen Rundfunk. Sie schreibt u.a. das Hörspiel „Die Passagierin aus der Kabine 45“, das als Vorlage für Mieszyław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ und als Drehbuch für den Film „Die Passagierin“ von Andrej Munk dient. Später widmet sie sich ganz ihrer schriftstellerischen Arbeit. Von ihren zwölf Werken werden m.W. nur drei ins Deutsche übersetzt. Neben zahlreichen polnischen Preisen erhält sie 2012 das Bundesverdienstkreuz am Bande. Als Schriftstellerin und Zeitzeugin erzählt sie von ihren Erlebnissen „in direkten, einfachen Worten, lakonisch, beinahe leidenschaftslos, dadurch umso wahrer und ergreifender“. „Die Passagierin“ z.B. handelt von einer zufälligen Begegnung einer Auschwitz-Überlebenden mit einer SS-Lageraufseherin auf einem Schiff. 2015 wird ihr Schicksal mit dem von 19 Überlebenden des KZ Auschwitz in das Magazin „Der Spiegel“ (Heft 5, S. 50-69) aufgenommen und ihre Erzählung „Am Morgen sang der Rabbi ein Kaddisch. Ein Gebet für die Toten“ abgedruckt. Sie arbeitet eng mit der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in O´swiecim/ Auschwitz zusammen, stellt sich regelmäßig für Zeitzeugengespräche zur Verfügung und nimmt an Feierlichkeiten teil. Die von der Direktorin des Museums für Gegenwartskunst Krakau Maria Anna Potocka herausgegebene Publikation enthält biografische Skizzen zu Leben und Werk von Zofia Posmysz. Sie „gehört zu den wertvollsten Zeugen, da sie ein feines und vielseitiges Talent hat, ihre Lagererfahrungen und Überlegungen zu Auschwitz zu vermitteln.“ (S. 9) Im Mittelpunkt steht die großartige Erzählung „Die Schreiberin“ (110 Seiten). Der reich bebilderte Text setzt sich zusammen aus transkribierten Aufnahmen, Notiertem und erinnerten Geschichten.
Blanka Pudler, Dieter Vaupel: Auf einem unbewohnbaren Planeten. Wie ein 15-jähriges Mädchen Auschwitz und Zwangsarbeit überlebte. Bonn: Verlag J.H.W. Dietz Nachfolger, 2018. 136 S. ISBN 978-3-8012-0530-0 € 10.00
Die aus einer jüdischen Familie stammende Blanka Pudler (1929–2017) wird in der Karpatenukraine (Solotwyno) geboren, die Familie lebt dann in der Slowakei (Kežmarok) und in Ungarn (Levice). Ihre Schulzeit endet abrupt 1944 durch den Einmarsch der deutschen Truppen. Ihre Familie wird nach Auschwitz-Birkenau deportiert, die ungarischen Jüdinnen werden zur Zwangsarbeit in die Sprengstofffabrik Hessisch Lichtenau verbracht. Durch die heranrückenden US-Streitkräfte werden die Häftlinge zuerst in ein Lager nach Leipzig evakuiert und dann auf einen Todesmarsch durch Mitteldeutschland getrieben. In Wurzen werden sie befreit. Mit Bussen und zu Fuß gelangt Blanka Pudler auf Umwegen nach Budapest. Die Geschwister überleben, die Mutter wird von KZ-Arzt Josef Mengele in Auschwitz in die Gaskammer geschickt, der Vater stirbt aufgrund der harten Zwangsarbeit in einem Zementwerk. Nach dem Krieg absolviert sie eine Ausbildung zur Zahntechnikerin, 1950 heiratet sie, 1952 wird ihre Tochter geboren. 1962–1965 folgt sie ihrem Mann nach Accra in Ghana und arbeitet in der ungarischen Botschaft, nach ihrer Rückkehr in einem Außenhandelsunternehmen. Erst in den 1980er Jahren bricht sie ihr Schweigen und berichtet in Ungarn und in Deutschland insbesondere in Schulen über die Shoa, 2012 erhält sie wie Zofia Posmysz das Bundesverdienstkreuz am Bande.
Der Lehrer und Politologe Dieter Vaupel lernt Blanka Pudler in den 1980er Jahren im Rahmen seiner Suche nach Überlebenden des ehemaligen KZ-Außenkommandos Hessisch Lichtenau kennen. Die Idee, das von ihr Berichtete gemeinsam mit ihr aufzuschreiben: „Ich wollte ein Buch daraus machen, ein sehr persönliches, keine reine Dokumentation … die Ich-Perspektive habe ich gewählt, um dadurch emotionale Nähe zu dem damals 15-jährigen Mädchen für den Leser herstellen zu können und ein sich Hineinversetzen in ihre Gedankenund Gefühlswelt zu ermöglichen.“ (S. 9) Nach ihrem Tod entscheidet er sich, das Buch in ihrem Sinne fertigzustellen. Das alles ist Dieter Vaupel sehr gut gelungen. Ein ergreifendes Buch, das die unmenschlichen Bedingungen in den KZs und in der Zwangsarbeit aus der Perspektive eines Kindes beschreibt.
Blanka Pudlers Fazit: „Ich fühle mich verpflichtet zu sprechen, da ich persönlich wieder betroffen bin. Meine Tochter ist mit einem Mann aus Nigeria verheiratet. Meine Enkelsöhne – halb Juden und halb Afrikaner – müssen sich schon jetzt als Kinder gegen Hass wehren können.“ (S. 131)
Lotte Dorowin-Zeissl: Zeit der Prüfungen. Acht Monate im KZ Ravensbrück / Hrsg. Gerald Stourzh. Wien, Berlin: mandelbaum verl., 2019. 103 S. ISBN 978-3-85476-837-1 € 20.00
Die 23-jährige Studentin der französischen und deutschen Literatur in Clermont-Ferrand Lotte Zeissl (1920– 2008) aus Wien wird im Zuge einer Razzia an der Universität, wo sich eine Widerstandsgruppe gebildet hat, deren Mitglied sie aber nicht ist, als Geisel festgenommen, in den Internierungslagern von Compiègne und Romainville inhaftiert und am 15. August 1944 in das KZ Ravensbrück deportiert. Nach der Befreiung folgt „eine lange und mühsame Rückkehr nach Wien.“ (S. 15) Schon 1945 studiert Lotte Zeissl weiter, schließt ein Jahr später das Lehramtsstudium ab und wird Lehrerin für Französisch und Deutsch. 1949 heiratet sie den Juristen Walter Dorowin. Die Erlebnisse in der Zeit des Nationalsozialismus lassen sie nicht los, sie beteiligt sich 1960 federführend an der bedeutenden Wanderausstellung „Den Toten zum Gedenken, den Lebenden zur Mahnung“ und hält Vorträge über das KZ Ravensbrück.
Zeit der Prüfungen ist ein kleines schmales Heft, das der Neffe von Lotte Dorowin-Zeissl, der 1929 geborene bedeutende Historiker und Universitätsprofessor Gerald Stourzh, einer breiten Öffentlichkeit zugänglich macht. Er gibt in einem Vorwort Hinweise zum familiären Hintergrund und eine Einführung zu den veröffentlichten Dokumenten. Diese zu verschiedenen Zeiten verfassten Beiträge sind ursprünglich Einzelstücke und werden jetzt thematisch geordnet dargeboten. Sie thematisieren die Strukturen und Hierarchien im Konzentrationslager und die Befreiung und Rückkehr nach Wien, sie zeigen „ihre tiefe christliche Spiritualität und ihre außerordentliche Gabe zur Freundschaft.“ (S. 13).
Es sind enthalten: der eindrucksvolle Vortrag „Ravensbrück von innen“ in der Propstei St. Gerold in Vorarlberg aus dem Jahr 1994, handschriftliche Aufzeichnungen und transkribierte Tonbandaufzeichnungen zu den Internierungslagern, Tonbandaufzeichnungen zur sozialen Struktur in Ravensbrück, die Beantwortung eines Fragebogens aus dem Jahr 1946, Tonbandaufzeichnungen zu Lisl Barta, mit der Lotte trotz unterschiedlicher politischer Anschauungen eine lebenslange Freundschaft verbindet, Tonbandaufzeichnungen zur Befreiung aus Ravensbrück und Heimkehr nach Wien.
Es sind unschätzbare Dokumente, die in diesem schön gestalteten Buch enthalten sind. Dafür sind dem Herausgeber und dem Verlag zu danken. Wünschenswert ist eine umfassende Biografie über Lotte Dorowin-Zeissl. Wie notwendig derartige Biografien sind, zeigt ein Eintrag im ersten Band der biografiA. Lexikon österreichischer Frauen (Wien, 2016) unter „Dorowin Lotte, verh. Zeissl; Sängerin und Lehrerin“, die 1938 als Aupairmädchen nach Mittelfrankreich geht usf., am Schluss heißt es dann u.a. „Nach der Befreiung wurde sie auf den ‚Todesmarsch‘ geschickt.“ (S. 612)
Dita Kraus: Ein aufgeschobenes Leben. Kindheit im Konzentrationslager – Neuanfang in Israel. Göttingen: Wallstein Verl., 2020. 487 S. (Bergen-Belsen – Berichte und Zeugnisse. Band 10) ISBN 978-3-8353-3650-6 € 25.00
Edith Polach (geb. 1929), genannt Dita, wächst in Prag in einer jüdischen, sozialdemokratisch geprägten Familie auf und besucht eine deutsche Grundschule. Mit dem Einmarsch der deutschen Truppen endet ihre unbeschwerte Kindheit schlagartig. Im Alter von 13 Jahren wird sie mit ihren Eltern zuerst ins Ghetto Theresienstadt, dann in das KZ Auschwitz-Birkenau verbracht, hier stirbt ihr Vater im Februar 1944. Ende 1944 folgt der Transport nach Hamburg in ein Außenlager des KZ Neuengamme, anschließend in das KZ Bergen-Belsen, wo Dita und ihre Mutter am 15. April 1945 befreit werden; die Mutter stirbt kurz danach. Dita geht nach Prag zurück, heiratet 1947 den Mithäftling von Auschwitz-Birkenau, den späteren Lehrer und Schriftsteller Ota B. Kraus (1921–2000). Sie emigrieren nach Israel und arbeiten als Lehrer.
Das Lagerleben ist eine Erfahrung, die für beide allgegenwärtig bleibt. Fünfzig Jahre nach ihrer Ankunft in Israel, im Juni 1999, besucht Dita zum ersten Mal wieder Deutschland. Sie ist als Zeitzeugin in Deutschland und Tschechien sehr gefragt. Ota B. Kraus reflektiert seine Erfahrungen in dem 1993 erschienenen Buch Die bemalte Wand (2002 in deutscher Sprache). Dita Kraus verfasst Ein aufgeschobenes Leben. Kindheit im Konzentrationslager – Neuanfang in Israel. Ditas Buch erscheint zuerst in tschechischer Sprache, 2020 dann in Englisch und Deutsch. Warum Ein aufgeschobenes Leben? „Mein Leben ist nicht das wahre, das eigentliche Leben. Es spielt sich vor meinem eigentlichen Leben ab, als wäre es eine Art Vorwort zu meiner Geschichte … Solange ich denken kann, bin ich in Gedanken schon bei morgen anstatt bei dem, was ich gerade erlebe.“ (S. 7). Und am Ende ihrer Aufzeichnungen: „Ich muss mein Leben nicht mehr aufschieben. Ich habe es eingeholt.“ (S. 474)
Im Mittelpunkt des Buches stehen die Jahre der Verfolgung und Lagerhaft, aber es erinnert an viel mehr, an 90 Jahre gelebte jüdische Geschichte. Die Autorin berichtet über ihre Odyssee durch deutsche Konzentrationslager, die dort erlittenen Qualen und den Zusammenhalt der Häftlinge, anschaulich und detailliert. Und sie berichtet über das Leben nach 1945 in Familie und Beruf. Es ist ein gelungenes Zusammenspiel aus Zeitzeugenbericht, Autobiografie und Familienroman.
Livia Bitton-Jackson: Brücken der Hoffnung. Ein Leben nach Au schwitz. Stuttgart: Verlag Urachhaus, 2018. 287 S. ISBN 978-3-8251-5141-6 € 24.00
Livia Bitton-Jackson (geb. 1931) veröffentlicht ihre Memoiren in drei Bänden, sie wenden sich zuallererst an Jugendliche. Der zweite liegt dem Rezensenten vor. Zur Chronologie: Livia wird in Šamorín in der Tschechoslowakei als Elli L. Friedmann geboren. 1938 besetzen ungarische Truppen den Ort, 1944 kommen die deutschen Besatzer, die Segregation der Juden führen zu ihrer Ghettoisierung und zur Zwangsarbeit und schließlich nach Auschwitz. Die Familie wird getrennt. Livia kommt in das Dachauer Außenlager Augsburg-Kriegshaber, einem Ort der Zwangsarbeit für die Luftwaffenproduktion. Im ersten Band 1000 Jahre habe ich gelebt. Eine Jugend im Holocaust (2018) beschreibt Livia alle Stationen ihrer Odyssee vom Einmarsch der Deutschen bis zur Befreiung 1945. Das Martyrium stellt sie neben den Zusammenhalt in der Familie und den Kampf um das tägliche Überleben. „Am 30. April 1945 befreiten uns amerikanische Soldaten aus einem Zug, in dem 30.000 sterbende Insassen verschiedener Lager an einen unbekannten Ort verbracht werden sollten.“ (S. 8) Hier setzt der zweite Band als Brücken der Hoffnung. Ein Leben nach Auschwitz (2018) ein, eine „Geschichte von Triumphen im angesichts überwältigender Widrigkeiten, eine Geschichte außerordentlicher Ereignisse in einer außergewöhnlichen Zeit.“ (S. 8-9) Die Mutter, Livia und ihr Bruder kehren nach Šamorín zurück, der Vater wird im KZ Bergen-Belsen ermordet. Sie stehen vor der Entscheidung, in die USA oder nach Israel auszuwandern. Während in der Tschechoslowakei die Kommunisten an die Macht kommen, fliehen Mutter und Tochter über Wien und Feldafing nach Geretsried, von wo aus sie 1952 mit einem Einreisevisum in die USA auswandern. Dort erwartet sie Livias Bruder, der schon vorher zu seinem Onkel reist.
Beeindruckend geschrieben.
Der dritte Band Hallo Amerika! Eine Reise in die Freiheit (2019) beschreibt das erste Jahr in den USA. Sie lernt die Sitten, Gebräuche und Lebensweisen der US-Amerikaner, beschreibt die schwierigen Zeiten seit der schweren Erkrankung ihrer Mutter und die Möglichkeiten, an einer Universität zu studieren.
Mit ihren Aufzeichnungen, die hoffentlich weitergeführt werden, schreibt Livia Bitton-Jackson wichtige Holocaustliteratur für die heranwachsende Generation. Und wie geht es weiter? Livia studiert hebräische Kultur und jüdische Geschichte. Sie heiratet, wird Mutter zweier Kinder und Professorin für Geschichte an der City University of New York. 26 Jahre nach ihrer Ankunft im New Yorker Hafen zieht sie 1977 nach Israel, wo sie heute noch lebt, beruflich und privat pendelnd zwischen den USA und Israel. Am 28. Februar 2021 wird sie 90 Jahre alt.
Benjamin Kuntz: Lucie Adelsberger. Ärztin – Wissenschaftlerin – Chronistin von Auschwitz. Berlin, Leipzig: Hentrich & Hentrich, 2020. 109 S. (Jüdische Miniaturen Band 265) ISBN 978-3-95565-392-7 € 9.90
Ziel von Benjamin Kuntz ist es, „eine emanzipierte Frau vor dem Vergessen zu bewahren, die eine engagierte Ärztin und eine erfolgreiche Wissenschaftlerin war, bevor sie ein Opfer der Nationalsozialisten wurde“. (S. 7) Eine akribische Studie führt die Leser in Leben und Werk von Lucie Adelsberger (1895–1971) ein. Von 1914 bis 1919 studiert sie Medizin an den Universitäten Nürnberg und Erlangen, 1920 erhält sie ihre Approbation. 1923 wird sie in Erlangen zum Dr. med. promoviert, später schließt sie erfolgreich ihre Ausbildung zur Internistin und Pädiaterin ab. Sie arbeitet u.a.im Städtischen Krankenhaus am Friedrichshain und als niedergelassene Ärztin, beides in Berlin. Sie behandelt hier und später hauptsächlich Patienten mit allergischen Erkrankungen. Von 1925 an ist sie auch im Robert-Koch-Institut tätig, aufgrund ihrer jüdischen Herkunft endet das Beschäftigungsverhältnis 1933. 1938 muss sie ihre Praxis schließen. 1943 wird sie verhaftet und nach Auschwitz transportiert. Eingesetzt als Häftlingsärztin, überlebt sie nach der Räumung des KZ Auschwitz-Birkenau den Todesmarsch in das KZ Ravensbrück und die Verlegung in das Außenlager Neustadt-Glewe, das am 2. Mai 1945 von US-amerikanischen Truppen befreit wird. Im März 1946 erscheint in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift The Lancet ein Bericht unter dem Titel „Medical observations in Auschwitz concentration camp“, eine erstaunliche Leistung kurz nach erlittenen Qualen durch die Nationalsozialisten. Und Lucie Adelsberger bleibt diesem Thema treu und verfasst 1945 und 1946 ein Skript „Auschwitz. Ein Tatsachenbericht“, der 1956 erstmals erscheint und seitdem in verschiedenen Verlagen, insbesondere in der Herausgabe des Medizinhistorikers Eduard Seidler, herausgegeben wird. Die neueste Ausgabe ist aus dem Jahr 2016 – ein bedeutendes Zeugnis des Holocaust.
Trotzdem sind ihre Leistungen, auch in der Medizin, fast vergessen. Nach 1945 will sie deutschen Boden nie wieder betreten, sie lässt sich in den USA nieder, hier arbeitet und publiziert sie und muss „mit den Folgen der Lagerhaft kämpfen – körperlich und psychisch“. (S. 62) 1971 verstirbt sie nach langem Leiden. Seit 2015 verleiht die Gesellschaft für Pädiatrische Allergologie und Umweltmedizin jährlich die Lucie-Adelsberger-Medaille.
Die Ausführungen von Benjamin Kuntz, ergänzt um zahlreiche Abbildungen, 139 Anmerkungen, Literaturverzeichnis und eine 46 Titel umfassende Liste der wissenschaftlichen Publikationen werden dazu beitragen, dass diese großartige Frau nicht vergessen wird.
Klaus Hillenbrand: Das Amulett und das Mädchen. Lebensspuren zwischen Frankfurt am Main, Minsk und Sobibór. Berlin, Leipzig: Hentrich & Hentrich, 2019. 263 S. ISBN 978-3-95565-305-7 € 24.90
Bei Grabungen zur Rekonstruktion des NS-Vernichtungslagers Sobibór können Archäologen über 70.000 Fundstücke archivieren. Darunter befindet sich ein im November 2016 gefundenes dreieckiges silbernes Amulett, darauf das Datum 3.7.1929 und FRANKFURT A.M. und auf Hebräisch der Glückwunsch „Mazal tow“, genau dort, wo sich nach Erkenntnissen der Archäologen eine Baracke befand, in der den inhaftieren Frauen die Haare abrasiert werden, um diese für die deutsche Rüstungsindustrie zu verwerten. Das Amulett ist nach Erkenntnissen der Datenbank der Gedenkstätte Yad Vashem das Eigentum von Karolina Cohn, präzisiert durch das Geburtenregister der Stadt Frankfurt am Main: Tochter von Richard und Else Cohn, geb. Eisemann, wohnhaft Thomasiusstraße 10. Zahlreiche Artikel in Zeitungen und Zeitschriften erscheinen, Angehörige melden sich. Ein Jahr später finden sich 34 Angehörige von Karolina in der Frankfurter Tomasiusstraße 10 ein, um vier Solpersteine zu verlegen. Viele treffen sich zum ersten Mal. Und es entsteht die Frage: Wer war Karolina Cohn?
Der Journalist Klaus Hillenbrand begibt sich auf die Spuren von Karolina und recherchiert ihre Leidensgeschichte akribisch. Über die Familie ist wenig bekannt, der Vater ist Tapezierer, durch eine Krankheit arbeitsunfähig. Schwester Gitta ist drei Jahre jünger als Karolina. Es existieren nur einige Fotos. Das nächste gesicherte Datum ist der 8. November 1941. Da erfolgt die Deportation, beginnend mit der Verschleppung in das jüdische Ghetto von Minsk – die Erinnerung an dieses Ghetto ist ausgelöscht, heute stehen dort Hochhäuser. Hier verlieren sich die Spuren von Karolina, ihrer Schwester Gitta und ihren Eltern. Es gibt keine Todesdaten, keine Gräber, keine Erinnerungen. „Geblieben ist nur die Erinnerung an ein Mädchen aus Frankfurt am Main.“ (S. 202) Ermordet wird Karolina in Sobibór, an einem Ort, an dem vermutlich fast 200.000 Menschen umgebracht werden. Heute ist dort Wald.
Der Leidensweg von Karolina ist eingebettet in viele zeithistorische Untersuchungen, vorwiegend über Frankfurt am Main, Minsk und Sobibór.
Ein notwendiges Buch. Ein verstörendes Buch.
Cato Bontjes van Beek, Hermann Vinke: »Leben will ich, leben, leben« Die junge Frau, die gegen die Nazis kämpfte und ihr Leben ließ. München: Elisabeth Sandmann Verl., 2020. 239 S. ISBN 978-3-945543-80-1 € 24.00
Der 100. Geburtstag Cato Bontjes van Beek (1920–1943) am 14. November 2020 wird mit zahlreichen Gedenkveranstaltungen begangen, u.a. mit einem 80-minütigen Konzertfilm CATO des Komponisten Helge Burggrabe und einer dreistündigen Radiosendung „Leben will ich, leben, leben“ mit dem Journalisten Hermann Vinke, dem wir das hier zu rezensierende Werk zu verdanken haben, sein drittes über Cato. Vinke gebührt das Verdienst, das Leben dieser Frau in mehreren Publikationen nachgezeichnet zu haben. Wer ist diese Frau?
Cato Bontjes van Beek wächst in Worpswede in einer Künstlerfamilie auf. Die Mutter ist die Ausdruckstänzerin und Malerin Olga Bontjes van Beek, geb. Breling, ihr Vater der international anerkannte Keramiker Jan Bontjes van Beek, ihre Tanten die Keramikerin, Malerin und Bildhauerin Amelie Breling und die Opernsängerin und Malerin Louise Modersohn, ihr Onkel der Maler und Mitbegründer der Künstlerkolonie Worpswede Otto Modersohn, ihre Neffen die Maler Ulrich und Christian Modersohn. Das Haus steht offen für Diskussionen, Heinrich Vogler, Franz Radzivill, Theodor Lessing, Clara Rilke-Westhoff und viele andere nutzen dies. Von 1929–1933 besucht Cato die Deutsche Schule in Amsterdam. 1933 trennen sich ihre Eltern. Mit 16 Jahren geht sie als Au-Pair nach England, kehrt 1938 nach Deutschland zurück, lebt bei ihrem Vater in Berlin und arbeitet in dessen Keramikwerkstatt. Im September 1941 lernt sie Libertas und Harro Schulze-Boysen kennen, sie schließt sich der Widerstandsgruppe Rote Kapelle an, wirkt an der Herstellung und Verteilung von Flugblättern mit. Am 20. September 1942 wird sie verhaftet, am 18. Januar 1943 verkündet das Reichskriegsgericht das Urteil: Todesstrafe wegen Beihilfe zur Vorbereitung des Hochverrats und zur Feindbegünstigung. Am Abend des 5. August 1943 wird sie hingerichtet, der Leichnam kommt in das Anatomische Institut der Berliner Universität, wo der Direktor Hermann Stieve Gewebeproben entnimmt und diese seiner Sammlung hinzufügt. Nach 1945 übt Stieve weiterhin die Funktion des Leiters des nunmehr in der Zuständigkeit der DDR liegenden Anatomischen Instituts der Humboldt-Universität aus. Mit dem Nationalpreis der DDR hochgeehrt, verstirbt er 1952 – ohne Anklage, ohne Prozess. Über 300 Gewebepräparate von größtenteils in Plötzensee hingerichteten Frauen, darunter auch die von Cato, werden 2016 in seinem Nachlass entdeckt und drei Jahre später in einer Feierstunde auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin beigesetzt. Die Mutter von Cato prozessiert jahrelang gegen das Land Niedersachsen für eine juristische Rehabilitierung. „Der Gipfel der Ungeheuerlichkeit war erreicht, als die Entschädigungskammer des Landgerichts Stade im Februar 1957 ausgerechnet Manfred Roeder, der als Chefankläger des Reichgerichts in Berlin Dutzende von Anhängern der Roten Kapelle mit in den Tod geschickt hatte, in den Zeugenstand rief.“ (S. 221) Vinke setzt sich das Ziel, „Catos Leben anhand ihrer zahlreichen Briefe nachzuzeichnen.“ (S. 225) Dafür stehen ihm bisher nicht veröffentlichte Briefe und Fotografien zur Verfügung. Die Ausgabe ist chronologisch aufgebaut, sie beginnt mit dem Englandaufenthalt Catos im Alter von 16 Jahren und endet mit ihrem Tod. Vorangestellt eine Einleitung mit einer Kurzfassung von Catos Leben, am Schluss ein Kapitel über die Erinnerungskultur im Kalten Krieg. In einem Kassiber, an dem Tag, als das Gericht sie zum Tode verurteilt, schreibt Cato: „Leben will ich, leben, leben.“
Ein großartiges Buch, das sich nahtlos einreiht in die Ehrungen für Cato – vier Filme, ein Theaterstück, die Benennung eines Gymnasiums, eines Kulturhauses und von Straßen und Plätzen.
Ilka Wonschik: Chava Pressburger. Bilder – Papierarbeiten – Skulpturen. Berlin: Hentrich & Hentrich, 2016. 177 S. ISBN 978-3-95565-166-4 € 24.90
Die 1930 geborene Eva Ginzová wächst mit ihrem älteren Bruder Petr Ginz in Prag auf, der Vater ist Jude, die Mutter Christin. Durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten im März 1939 gilt die Ehe der Eltern als „privilegierte Mischehe“, wodurch ihr Vater bis kurz vor Kriegsende vor der Deportation geschützt ist, nicht aber Eva und Petr, die als „Mischling 1. Grades“ ab dem 14. Lebensjahr in ein KZ geschickt werden können. Als erstes Familienmitglied wird Petr im September 1942 nach Theresienstadt deportiert, Eva folgt im Mai 1944. Petr wird im Herbst 1944 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Nach der Befreiung von Theresienstadt kehrt Eva nach Prag zurück. Sie besucht die Kunstgewerbeschule in Prag, in Paris studiert sie an der École des Beaux-Arts und emigriert von dort mit ihrem künftigen Ehemann, dem Widerstandskämpfer und späteren Bauingenieur Jindrich Pressburger (1924–2018) 1949 nach Israel, wo sie bis heute als Malerin und Papierkünstlerin tätig ist. Sie ändert ihren Vornamen in die hebräische Schreibweise Chava.
Ilka Wonschik ist es zu danken, dass Chava Pressburger nun auch einem breiten Publikum in Deutschland bekannt wird. Ihre Veröffentlichung Chava Pressburger. Bilder – Papierarbeiten – Skulpturen stellt in einer umfassenden Biografie und in einem Katalog das Werk der Künstlerin vor, das stark mit ihrer von Krieg und Gewalt geprägten Lebensgeschichte verbunden ist. „Zerstörung, Vernichtung und Klage – mit diesen Worten beschreibt Chava Pressburger die Bausteine ihres Lebens … Glaube, Hoffnung und Neuaufbau sind weitere Bausteine in ihrem Leben, sie sind die Quelle, aus der Pressburger schöpft, um der Konfusion ihrer Erinnerung eine neue Struktur zu geben.“ (S. 29) Dies alles ist die Grundlage für ihre Bilder in Mischtechnik, die Papierarbeiten und Skulpturen. Die Papierherstellung spielt eine zentrale Rolle im Werk der Künstlerin, dazu benutzt sie neben Altpapier geeignete Pflanzen oder andere unverarbeitete Materialien, kocht, wäscht und zerreibt sie in einzelne Fasern, um daraus Papier entstehen zu lassen – eine außergewöhnliche Technik. Ein wunderbares Buch mit vielen Abbildungen aus ihrem Leben und von ihren Werken.
Ebenfalls dringend zur Lektüre zu empfehlen: „Es war wohl ein anderer Stern, auf dem wir lebten …“ Künstlerinnen in Theresienstadt (Berlin: Hentrich & Hentrich, 2013), Biografien von 12 Künstlerinnen, deren Schicksal mit Theresienstadt verbunden ist wie Julie Wolfthorn (von ihr stammt das Zitat aus dem Buchtitel), Clara Arnheim und Chava Pressburger.
Prof. em. Dieter Schmidmaier (ds), geb. 1938 in Leipzig, studierte Bibliothekswissenschaft und Physik an der Humboldt-Universität Berlin, war von 1967 bis 1988 Bibliotheksdirektor an der Berg akademie Freiberg und von 1989 bis 1990 Generaldirektor der Deutschen Staatsbibliothek Berlin.
dieter.schmidmaier@schmidma.com