Editorial

„Spinne deinen Faden und finde deinen Herzschlag.“

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 6/2022

Der Beginn des Putin‘schen Angriffskriegs auf die Ukr ­ aine markiert eine Zeitenwende. Wer hoffte nicht auf das baldige Ende dieses schrecklichen Krieges. Aber russische Kultur und Musik in Sippenhaft nehmen, russische Verlage von der Frankfurter Buchmesse kategorisch ausschließen, russische Komponisten nicht mehr spielen? In unserer Regionalzeitung las ich unter der Überschrift „Russische Musik im Zwiespalt“ von einem Konzert, in dem die russischen Komponisten Glinka, Schosta­kowitsch und Rachmaninow aufgeführt wurden. Der Redakteur sah und hörte in dem Konzert „imperiale Gesten“, einen „gusseisernen Sound“ und empörte sich: „Dem Publikum gefiel die ­Machtdemonstration.“ Nein! Musik – und das gilt genauso für Literatur und Kunst – haben ihren eigenen Wert! Sie können das Herz berühren. Oder eben nicht. Riccardo Muti bringt das in einem ZEIT-Interview am 22. September auf den Punkt. „Das Wichtigste ist, dass Musik eine innere Substanz hat.“ Zwar nicht auf die aktuelle Kriegssituation, aber auf andere Sprech- und Denkverbote bezogen, sagt der große Dirigent: „Aber bei aller Political Correctness muss man den Mut besitzen, Dinge zu verteidigen, die für das menschliche Miteinander unerlässlich sind, das gilt auch in der ­Musik. Wenn wir uns darauf versteifen, was man tun und sagen darf und was nicht, entmenschlichen wir die Menschheit.“

Nun zu unseren Inhalten. Ganz vorne auf Seite 4 bewerbe ich immer ein von mir besonders favorisiertes Buch. Dieses Mal ist es: „Picasso. Frauen seines Lebens“. Der bildreiche Band ist eine großartige Hommage an zehn Frauen, die Picassos Leben prägten. Es beginnt mit der Mutter Doña María Picasso Lopez. Das von uns hier gezeigte „Bildnis der Mutter“ malte Picasso im ­Alter von 15 Jahren.

Ein Gespräch bildet dann den Auftakt. Das Thema ist ungewöhnlich. Es geht um die Entstehung ostdeutscher Plattenbauviertel. Wenke Seemann, Jahrgang 1978, ist in einer solchen Siedlung in Rostock aufgewachsen. Kristina Frick, Jahrgang 1980, in Wiesbaden. Die beiden Fotografinnen suchen, ohne zu glorifizieren oder abzulehnen, beim Reizthema Plattenbauten ­eine ehrliche und kritische Auseinandersetzung mit dem, was war. Und angesichts der Not, bezahlbaren Wohnraum in Großstädten zu finden, sind Aussagen wie diese schon bedenkenswert: „Corbusier oder solche Architekten werden geachtet. Bei den Stadtplanern von RostockSchmarl ist es noch nicht so weit. Aber die Unterschiede sind nicht so groß. Auch Corbusiers Viertel sind nicht schön. Es geht um die Idee von günstigem Wohnraum für Menschen unterschiedlicher, vor allem ­niedriger Einkommensgruppen. Wie bringt man Menschen würdevoll und ökonomisch sinnvoll unter, die sich nicht jederzeit ein Eigenheim kaufen oder bauen können? Und wie integriert man das in eine Stadt?“ Die beiden Frauen meinen zu Recht: „Da kann man auf jeden Fall mal hinschauen.

Und genau dazu liefern die detailreichen Besprechungen über Hitlers Parteigenossen und Hitlers Wähler und die aufrüttelnden und berührenden Bücher über Chronistinnen des Nationalsozialismus Wissen. Der Rezensent zitiert Lucie Adelsberger, Autorin des 1956 veröffentlichten Berichts Auschwitz: „Wenn Haß und Verleumdung leise keimen, dann, schon dann heißt es wach und bereit zu sein. Das ist das Vermächtnis derer von Auschwitz.“

Und natürlich gibt es in dieser Ausgabe wieder viele weitere Buchempfehlungen. Zu Egon Bahrs 100. Geburtstag erschien ein spannender Band. Prominente Wegbegleiterinnen und Wegbereiter aus Politik, Wissenschaft und Kultur erinnern darin an seine Staatskunst und seine historischen Verdienste. Da kann man auch nochmal genauer hinschauen; besonders wegen der heute ja bezweifelten Erfolge in der Ost- und Entspannungspolitik. In der Zusammenschau von Frauenbiografien entdecken Sie interessante „Rebel minds“, Frauen, die den Mut hatten, verrückte Träume zu haben und sich hohe Ziele zu stecken und dann tatsächlich im Laufe ihres Lebens oft maßgeblichen Anteil an großen Fortschritten in Wissenschaft, Wirtschaft, in der Technik und in der Kultur hatten.

Den Fragebogen auf unserer letzten Seite bedient Andr ­eas Heidtmann vom Verlag Poetenladen aus Leipzig. Mit seiner Antwort auf unsere Frage, wie ein guter Verlegertag beginnt, kann ich mich anfreunden. „Mit der Nachricht beim Öffnen des Browsers, dass die Welt noch nicht untergegangen ist und dass angesichts der globalen Katastrophen weiterhin Bücher rezensiert und vor allem gelesen werden.“

Auf den zwei Kinder- und Jugendbuchseiten geht es um die Frage, was denn eigentlich „Zeit“ bedeutet. Antworten dazu gibt es im Bilderbuch „Schau nach oben Aya und du kannst die Sterne greifen“. Da geht es um sieben Tage im Leben der kleinen Schmetterlings­raupe Aya bis zu ihrer Verwandlung zu einem Schmetterling. Die Raupe beherzigt in ihrem kurzen Leben den ihr zugeflüsterten Rat eines Schmetterlings: „Geh ­ruhig in deinem eigenen Tempo. Krabble, wenn dir nach Krabbeln zumute ist, und ruh dich aus, wenn du müde bist. Du kommst ganz sicher ans Ziel. … Spinne deinen Faden und finde deinen Herzschlag.“ Wenn das nicht schon wunderbare Vorsätze für das nächste Jahr sind. Denn die Zeiten sind so aufwühlend wie in den letzten Jahrzehnten nicht mehr.

Angelika Beyreuther

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