Philosophie, Sozialwissenschaften

Notizen: Stolpern fördert

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 1/2023

Prof. Dr. Wolfgang Lienemann

Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit (2020), Berlin: Suhrkamp 62022, suhrkamp taschenbuch 5100, 130 S., ISBN 978-3-518-47100-5, € 10,00. (Originaltitel: Unverfügbarkeit, Residenz Verlag)

    „Stolpern fördert.“ Mir gefällt dieses Wort, das ich einmal bei Goethe gefunden habe. Wer stolpert, gerät aus dem Takt. Kleists „Zerbrochener Krug“ beginnt genau damit: „Zum Straucheln braucht’s doch nichts als Füsse.“ Menschen, junge wie alte, können hinfallen. Die meisten stehen wieder auf. Andere bleiben eine Weile liegen. Manche kommen gar nicht mehr hoch. Wer stolpert und aus dem Takt kommt und womöglich den Weg verliert, merkt oder kann erfahren, dass und wie sehr die vertraut erscheinende Welt sich entzieht. Wer stolpert, verliert die Kontrolle, jedenfalls für einen Moment. Diese Urerfahung nennt Hartmut Rosa die Erfahrung der „Unverfügbarkeit“. Er hat damit verbundene „phänomenologische“ Beschreibungen unter einen einprägsamen Titel gebracht. Dem nur wenig mehr als 130 Seiten umfassenden Büchlein von Rosa (geb. 1965) nähert man sich am besten, wenn man nach seinem Schlüsselbegriff „Resonanz“ fragt. Unter diesem Titel hat er 2016 ein vielbeachtetes Buch veröffentlicht, welches, laut Untertitel, nicht mehr und nicht weniger als eine „Soziologie der Weltbeziehung“ verspricht. Zuvor hatte er sich in seiner Dissertation über den kanadischen Philosophen Charles Taylor1 und seiner Habilitationsschrift2 auf relativ ungewohnte Art einen neuen Zugang zu einer Gesellschaftstheorie zu bahnen versucht. Im Zentrum steht dabei immer wieder die Frage nach der „Weltbeziehung“ von Menschen.3 Damit ist von vornherein eine klare Differenz zu marxistischen, diskurstheoretischen und systemtheoretischen Konzepten einer Theorie der Gesellschaft markiert, obgleich sich Rosa auf diese Ansätze selektiv und eklektisch bezieht.

    Aber was ist „Resonanz“? Im Buch über die „Unverfügbarkeit“ habe ich keine Definition gefunden, aber das ist vermutlich weder nötig noch möglich. Jedenfalls ist die Überschrift des IV. Abschnittes „Die Welt als Resonanzpunkt“ kaum geeignet, für begriffliche Klarheit zu sorgen. Demgegenüber wird das Gemeinte eher deutlich, wenn man Rosa in seiner beschreibenden Darstellung von Phänomenen unterschiedlichster Art folgt. Es wird zwar nicht so gesagt, aber es muss auffallen, dass Rosa recht häufig für sich so etwas wie einen „phänomenologischen Blick“ in Anspruch nimmt (51.56.59 u.ö.) und sich auch ausdrücklich auf Merleau-Ponty beruft (38). Resonanzphänomene begegnen, wenn Menschen – wie sich das bei Tieren verhält, wissen wir nicht, können uns darüber aber sinnvolle Gedanken machen4 – zu Dingen, Ereignissen und Menschen in Beziehung treten, und zwar in einer Weise, dass darin etwas zum Schwingen kommt, wie Töne, die ein Mit- und Weiterklingen auslösen. (Es ist kein Zufall, dass eine Äußerung von Igor Levit leitmotivartig im Buch wiederholt wird.) Resonanz ist eine „Weise der Weltbeziehung“, in der Menschen zur Welt oder zu Erscheinungen der Welt in ein Verhältnis der „Responsivität“ treten (38). Sie antworten auf etwas, das ihnen entgegentritt und das sie nicht gemacht haben, was in gewisser Hinsicht „unverfügbar“ ist. Dabei kommen – nach Rosa – verschiedene Elemente zusammen: eine ursprüngliche Berührung oder Affizierung, ein Moment der Selbstwirksamkeit, d.h. eine Art aktiver Antwort, ein Moment der Anverwandlung, einer Art Transformation, welche Menschen verwandelt, und schließlich das Innewerden eines Moments der Unverfügbarkeit, das heißt die Erfahrung, sich dessen, was begegnet, nicht bemächtigen zu können.

    Diese so andeutend beschriebenen Phänomene sind natürlich nicht neu. In vielen Psalmen ist das Wechselverhältnis zwischen Gott und den Betenden geradezu konstitutiv. Nach Paulus kommt der Glaube aus dem Hören (Röm 10,17). Die so genannte „Ich-Du-Philosophie“ Martin Bubers steht nicht weniger in dieser Tradition als die Anthropologie Karl Barths. Besonders in Zeugnissen der Romantik begegnet das Motiv einer Wechselwirkung zwischen den Tönen der Welt und der von ihnen ausgelösten Resonanz im Leben der Menschen.5

    Zugleich findet sich dort das Motiv der gegenläufigen Erfahrung, dass sich die Welt entzieht.

    Dieses Motiv der Unverfügbarkeit stellt Rosa in das Zentrum seines Buches. In vielen Variationen beschreibt er den Gegensatz von menschlichem Verfügen und Verfügenwollen, ja, Verfügenmüssen6 einerseits, der gleichwohl unaufhebbaren Unverfügbarkeit der Phänomene andererseits. Manches liest sich wie eine ferne Resonanz auf das Jesus-Wort „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ (Mk 8,36par) Aber nicht derartige Traditionsresonanzen interessieren Rosa, sondern die „Alltagspraktiken und die sozialen Konflikte der spätmodernen Gegenwartsgesellschaften“ (10). Rosas „Ausgangshypothese“ ist, dass die menschlichen Aktivitäten in der ‚Spätmoderne‘ auf die „Verfügbarmachung“ der Welt zielen, die Welt gleichsam als „Aggressionspunkte“ fixieren (11ff) und damit tatsächlich die Möglichkeit eines wahrhaft menschlichen Lebens verstellen und zerstören. Liest man das Buch vom Ende her, so beschwören die Hinweise auf die Nutzung der Atomenergie eine Art Endzeitstimmung des Prozesses menschlicher Weltbemächtigung. Die exemplarischen Phänomene, die Rosa in seinem Buch für diese Art der Weltbemächtigung und -unterwerfung aufführt, sind vielfältig und eher rhapsodisch, aber nicht systematisch erfasst: der revolutionäre Zugriff auf die ‚Natur‘, die Ressourcen und die menschliche Arbeitskraft, wie sie exemplarisch Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ 1848 dargestellt haben, Max Webers Thesen von der kapitalistischen Weltbemächtigung und dem von ihm so genannten Prozess der „Entzauberung“, Simmels Beschreibung der Anonymität des modernen Großstadtlebens oder Durkheims Konzept der „Anomie“ – sie alle sind (nach Rosa) vereint in der Diagnose der „Beziehungslosigkeit“ der Menschen zu Welt und Mensch.7

    Im Zuge der technischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bemächtigung der Welt entzieht sich die Welt – sie gibt nicht Antwort, sondern ist stumm. Rosa, um zugespitzte Thesen nie verlegen, behauptet: „Das Weltverstummen … ist die Grundangst der Moderne“ (34). Was Marx und auf seinen Spuren viele andere „Entfremdung“ genannt und vor allem auf die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise zurückgeführt haben, wird zur Totalsignatur der Gegenwart. (Wenn ich recht sehe, kommt bei Rosa in diesem Buch der so genannte globale Süden mit keinem Wort vor. Auch die ungeheuren Entfremdungserfahrungen von Migranten werden nirgends erwähnt.)

    Gegenüber der (angeblich) durchgehenden Erfahrung, dass „alles, was erscheint, … gewusst, beherrscht, erobert, nutzbar gemacht werden muss“ (12), stellt Rosa die Frage: „Wie sieht ein gelingendes Weltverhältnis aus?“ (34) Diese Frage soll den Gegenbegriff zu demjenigen markieren, was Rosa als Grunderfahrung der Moderne versteht, nämlich den „Oberbegriff der Entfremdung als der beziehungslosen Beziehung“ (34). Lassen wir einmal diesen ‘Oberbegriff’ für’s Erste beiseite, so kommt ein „gelingendes Weltverhältnis“ oder besser (auch im Sinne des Autors besser) ein „gelingendes Welt- und Selbstverhältnis“ dem antiken Verständnis von der eudaimonia sehr nahe, wie wir es von Platon und Aristoteles her kennen. Denn der Sinn des Wortes eudaimonia wird schwerlich richtig getroffen, wenn wir sie als ‘Glück’ oder ‘Glückseligkeit’ verstehen. Es geht bei Platon beispielsweise um die Bedingungen und Erfahrungen eines gelingenden Lebens der Menschen in der politischen Gemeinschaft, der sie zugehören und für die sie mitverantwortlich sind. Doch verfolgt Rosa nicht diese Linie, sondern nimmt seine eigenen früheren Fragestellungen auf und spricht von der „Welt als Resonanzpunkt“ (37ff). „Resonanz“ ist das Gegenbild zur Weltverfügung. Das gemeinte Phänomen tritt meist auf, indem es sich zugleich auch entzieht. Manchmal schlägt Rosa ‘romantische’ Töne an. Novalis, Rilke und M. Claudius sind einige seiner Zeugen. Der Tourismus, dessen Kunden bekanntlich auch neue, unbekannte Erfahrungen suchen, ist dagegen sein ausgemachter Gegner, und es ist ja nicht zu bestreiten, dass hier die Suche nach dem Unverstellten und der „Resonanz“ immer wieder dazu führt, das Gesuchte zu zerstören. Oder wie ein Werbeslogan einer japanischen Hotelkette lautete: „Everything and everywhere the same.“

    Mit den Worten eines afrikanischen Theologen könnte man sagen, es kommt darauf an, zu hören (und darin eine Resonanz zu erfahren), wie alle Dinge von Gott sprechen. Es käme darauf an, die Töne des Kosmos zu vernehmen und ihnen zu antworten. In einem kleinen Unterabschnitt verweist Rosa auch auf die Rede von Theologen von Gott als dem „Unverfügbaren“ (67f). Es ist wohl kein Zufall, dass hier von Geschenk, Gnade und Gabe die Rede ist, aber dieses Motiv wird leider nicht weiterverfolgt und vertieft. Stattdessen thematisiert Rosa unter dem Titel „Verfügbarmachen oder Geschehenlassen?“ (71ff) Phänomene der Weltbemächtigung anhand von Stationen des Lebenslaufs: Geburt, Erziehung und Bildung, Beziehung und Beruf, Digitalisierung, Alter und Pflege, Tod. Unbestreitbar ist, dass auf allen diesen Gebieten die Verfahren der technischen Eroberung, Beherrschung und ‘rationalen’ Organisation beispielsweise die Möglichkeiten der Zuwendung und Fürsorge unter Menschen ebenso eingeschränkt haben wie das Geschehenlassen ‘natürlicher’ Prozesse. Selbstkontrolle und Selbstoptimierung sind gesellschaftliche Imperative. Rosas „Kernthese“ ist dabei, „dass der Modus dynamischer Stabilisierung, der die moderne Gesellschaft charakterisiert, die ständige Ausdehnung der Weltreichweite und damit das Programm der schrankenlosen Verfügbarmachung strukturell erzwingt und auf diese Weise das aggressive Weltverhältnis festschreibt“ (99). Ich breche hier das Referat ab und stelle nur ein paar Fragen:

    1. Warum geht Rosa nicht näher auf die Strukturen und Prozesse der heutigen Arbeitswelt und auf die teilweise verschärften Formen der Ausbeutung des globalen Südens ein? Antike (Platon, Aristoteles), frühneuzeitliche (Luther, Calvin) und sozialistische (Marx, Bebel) Autoren sprechen bekanntlich nicht oder kaum von Prozessen der Weltbemächtigung und -verfügung, sondern nennen Ross und Reiter: Die „Pleonexie“, die Gier, das Immer-mehr-Haben-Wollen, die entfesselten und unbegrenzten Bedürfnisse, das Streben nach Reichtum und Macht – wie Hobbes schrieb: a perpetual and restless desire of Power after power, that ceaseth onely in Death.8 Hier setzt meine Hauptkritik an Rosa an: Obwohl er auch Politologe ist, enthält seine Argumentation, jedenfalls in diesem Buch, keinen Ansatz zu einer Machttheorie. Dabei hätte er auf eine große Zahl wichtiger Exempel zurückgreifen können.

    2. Das Gegenbild zu den Phänomenen der Weltbemächtigung bleibt relativ blass. Es geht dabei immer wieder um Formen der Erfahrung von Resonanzen in der Musik, durch Kunstwerke, durch unverstellte menschliche Begegnungen, durch nicht-reglementierte, spontane Aktivitäten, durch bewusstes Hinnehmen, Erfahren und Geschehenlassen, ohne den Dingen den eigenen Willen aufzuzwingen. In manchen Zügen mutet das wie ein kulturkritischer Escapismus an.

    3. Vermutlich der wichtigste Grundzug der von Rosa beschriebenen Phänomene der Bemächtigung der Welt, die sich gerade dadurch entzieht, ist die Verwandlung unendlich vieler Dinge in Waren. Diese „Kommodifizierung“ aller Dinge, verbunden mit den Imperativen von unaufhörlicher Steigerung und unbegrenztem Wachstum, steht bekanntlich im Zentrum der Theorie von Marx. Aber gerade von dessen gedanklichen Angeboten macht Rosa nur sehr wenig Gebrauch.9

    Was wäre, wenn er die Unterscheidung Marx’ von Gebrauchswert und Tauschwert aufgenommen hätte, wenn er Marx’ Analyse des „Kapital“ als des «sich selbst verwertenden Wertes» berücksichtigt hätte oder wenn er Theorien zu so etwas wie einer steady-stateeconomy und einer Nicht-Wachstums-Gesellschaft aufgenommen hätte? Dann hätte er freilich mehr und weiter ausgreifende Schritte tun müssen – von einer Kulturkritik zu einer Kritik der politischen Ökonomie. •

    Prof. Dr. Wolfgang Lienemann war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2010 Professor für Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern, Schweiz. Zu seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkten gehören Grundlagenfragen der theologischen und philosophischen Ethik, Ökumenische Ethik und Ekklesiologie, Politische Ethik (Theologie und Friedensforschung), Kirchenrecht/Staatskirchenrecht/Rechtsethik.

    wolfgang.lienemann@theol.unibe.ch

     

    1 Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor, Frankfurt a.M. – New York: Campus 1998.

    2 Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005.

    3 Die Frage ist alles andere als neu, aber unter Soziologen nicht gerade prominent vertreten. Siehe aber auf philosophischer Seite Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt u.v.a.

    4 Vgl. beispielsweise die Hündin Bella in Elsa Morantes Roman „La Storia“.

    5 Siehe Schuberts „Winterreise“.

    6 Insbesondere dann, wenn es um die ökonomischen Wachstumszwänge geht. In der Landwirtschaft galt lange und gilt wohl nach wie vor der Imperativ: Wachse oder weiche!

    7 Immerhin ist daran zu erinnern, dass Marx die „Vereinigung“ der Arbeitenden gefordert hat.

    8 Leviathan (1651), ed. Pogson Smith, 75.

    9 Er bezieht sich hauptsächlich auf wenige Stellen der Frühschriften der „Pariser Manuskripte“ und den Entfremdungsbegriff.

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