In den letzten Monaten sind zwei Bücher erschienen, die Überlebende des Holocaust porträtieren, in Fotografie und Wort. Sie sind berührend, eindringlich und vor allem eines: unverzichtbar.
Martin Schoeller SURVIVORS
Faces of Life after the Holocaust Steidl Verlag, 2020 168 Seiten 28,00 Euro
„SURVIVORS“ ist ein Projekt der Stiftung für Kunst und Kultur Bonn und der Internationalen HolocaustGedenkstätte Yad Vashem in Kooperation mit der Stiftung Zollverein und dem Ruhr Museum. Kuratiert von Anke Degenhard und Vivian Uria.
Das Projekt wurde vom deutschen Freundeskreis von Yad Vashem initiiert und finanziert von der RAG-Stiftung.
„Nie wieder!“ ist ein Versprechen auf Ewigkeit, ist ein Anspruch, der ewige Gültigkeit behauptet. Jetzt starben die letzten, die überlebt hatten, was nie wieder geschehen sollte. Und dann? Hatte selbst die Ewigkeit ein Ablaufdatum? Jetzt hatte eine Generation die Verantwortung übernommen, die sich wenigstens in Sonntagsreden noch verpflichtet fühlte, raunend und mahnend dieses „Nie wieder“ auszusprechen. Aber dann? Wenn der Letzte gestorben sein wird, der bezeugen kann, aus welchem Schock heraus Europa sich neu erfinden wollte – dann war Auschwitz für die Lebenden so weit abgesunken wie die Punischen Kriege.“
(Robert Menasse, „Die Hauptstadt“, Suhrkamp 2017)
Von Martin Schoellers Werk kann man begeistert sein oder es auch als langweilig empfinden. Vielleicht sieht man es kritisch, dass er die HolocaustÜberlebenden ebenso wie Barack Obama oder George Clooney in sein typisches Close-Up Schema gepresst hat und ihnen somit, um der kompromisslosen Demokratie willen, einen Teil der Individualität nimmt. Vor seiner Kamera ist jeder gleich. Nicht ganz überzeugend mag die simple Symbolik sein, genau 75 Überlebende zu fotografieren (zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz). Man kann auch unschlüssig sein, ob der Titel in seiner Nüchternheit geradezu genial ist oder doch eher an den neuen Film von Roland Emmerich erinnert.
Dann blickt man in diese vielen Augen, die das unfassbare Grauen gesehen haben und es wird still im Kopf, so ergreifend sind diese Bilder in ihrer Nähe. Nicht, weil man denkt, man sehe den Kern der Menschen vor sich, man habe einen Einblick in seine Seele. Sondern, weil man versucht, sich hineinzuversetzen in dieses Leben. Man versucht, sich vorzustellen, wie unmenschlich das Erleben gewesen sein muss, wie schmerzhaft das Überleben, und man weiß, man gerät mit der eigenen Vorstellungskraft an Grenzen, die nur durch die mündlichen Erzählungen durchlässig werden. Oder eben durch diese unglaubliche Nähe. Schoeller bringt einem diese Menschen so nah, dass man auf ihrer Haut nach den Geschichten sucht, die niemals vergessen werden dürfen.
Alexandra Föderl-Schmid & Konrad Rufus Müller UNFASSBARE WUNDER Gespräche mit Holocaust Überlebenden in Deutschland, Österreich und Israel Böhlau Verlag 184 Seiten 35,00 Euro
„Überleben ist ein Privileg, das verpflichtet. Ich habe mich immer wieder gefragt, was ich für die tun kann, die nicht überlebt haben. Die Antwort, die ich für mich gefunden habe (und die keineswegs die Antwort jedes Überlebenden sein muss), lautet: Ich will ihr Sprachrohr sein, ich will die Erinnerung an sie wach halten, damit die Toten in dieser Erinnerung weiterleben können. Aber wir, die Überlebenden, sind nicht nur den Toten verpflichtet, sondern auch den kommenden Generationen: Wir müssen unsere Erfahrungen an sie weitergeben, damit sie daraus lernen können. Information ist Abwehr. Es genügt nicht, dass alles schon in Büchern festgehalten wurde, denn ein Buch kann man im Gegensatz zu einem Menschen nicht befragen. Ein Zeuge muss ein „lebendiger“ Zeuge sein. Deshalb habe ich bei Versammlungen Überlebender, auf denen ich gesprochen habe, immer wieder gemahnt: „Ihr habt Kinder, ihr habt Enkelkinder, eure Nachbarn haben Kinder – ihr müsst zu ihnen sprechen. Ihr müsst ihnen alles erzählen, was ihr erlebt habt, und ihre Fragen provozieren, damit auch sie weitererzählen können. Nur in der mündlichen Erzählung bleibt die Erinnerung lebendig.“
(Simon Wiesenthal)
Diese Geschichten hat Alexandra Föderl-Schmid aufgeschrieben, während Konrad Rufus Müller 24 Überlebende des Holocaust fotografierte. Müller geht anders als Schoeller an die gleiche Sache. Keine Ausrüstung, keine Assistenten, kein künstliches Licht. Dafür stille Porträts in schwarz-weiß, die nicht über die physische Nähe funktionieren, sondern über Intimität. Die jahrelange Übung, in solch persönlichen Momenten eine angemessene Distanz zu wahren und über dieses Vertrauen ein unverstelltes Bild zu bekommen, zeichnet auch die Fotografien in Müllers neustem Buch aus. Obwohl Müller nicht zwangsläufig während der von Föderl-Schmids geführten Gespräche fotografierte, so meint man doch die stillen Pausen zwischen den Gedanken zu hören, den Erinnerungsprozess in den Gesichtern zu sehen und die Trauer zu spüren. Trauer auf Seiten der Überlebenden wie auch der Autorin und des Autoren.
Martin Schoeller, Alexandra Föderl-Schmid und Konrad Rufus Müller haben mit ihrer Arbeit ein politisches Testament abgelegt und eine aufrüttelnde Botschaft formuliert, die in diesen Zeiten, da Teile der Gesellschaft sie nicht für selbstverständlich halten, unverzichtbar ist.
Kristina Frick, geboren 1980 in Wiesbaden, ist Fotografin, Autorin und Übersetzerin und lebt in Berlin. kristina.frick@gmx.de