Recht

Strafprozessrecht

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 6/2023

Artkämper, Heiko, Die „gestörte Hauptverhandlung“. Eine praxisorientierte Fallübersicht, Gieseking, 6. Aufl., Bielefeld 2022, ISBN 978-3-7694-1262-8, 714 S., € 79,00.

„Gestörte“ Hauptverhandlungen sind auch der Allgemeinheit bekannt, wenn auch vielleicht nur manchen unter diesem speziellen Terminus. Nicht selten liest man in der Tagespresse von Strafprozessen, in welchen die Verteidigung zahllose Beweisanträge stellt, welche bei Lichte betrachtet weniger der Wahrheitsfindung dienen, sondern mit denen andere Zielsetzungen verfolgt werden. Und nicht weniger bekannt sind Fälle, in welchen die Angeklagten ein Verhalten an den Tag legen, welches eher in eine Kneipe denn in eine Halle der Justitia passt. Auch Zeugen bzw. Zuhörer kommen als „Störer“ in Betracht. Ob die vielen Gerichtssendungen im Trash-TV daran einen wesentlichen Anteil haben, sei hier dahingestellt. In der akademischen Lehre spielt diese Thematik kaum eine Rolle und die Strafrechtler konzentrieren sich eher auf die Straftatbestände des Strafgesetzbuchs, als sich in prozessualen Feinheiten zu verlieren. Ungeachtet dieser „sträflichen“ akademischen Vernachlässigung spielen die entsprechenden Tatbestände in der Praxis eine nicht zu unterschätzende Rolle. Für die von solchem Tun betroffenen Richter und Staatsanwälte stellt sich die Frage, wie damit umgegangen werden soll. Entsprechende Reaktionen müssen sorgfältig erwogen werden, unbedachte Handlungen können Verfahrensfehler nach sich ziehen, welche in einer nicht geringen Zahl der Fälle von den daran interessierten Kreisen gerade provoziert werden sollen. Dass es sich um eine althergebrachte Erscheinung handelt, hat Peter Greiser in seiner Einleitung zur ersten Auflage, welche im Jahr 1985 erschien, ausgeführt. Wie aktuell die Problematik aber nach wie vor ist, macht am besten die Tatsache deutlich, dass nunmehr schon die sechste Auflage des Buches vorliegt, welche nicht zuletzt durch Irritationen bedingt ist, welche die Covid 19-Pandemie hervorgerufen hat. Neben dem Hauptverfasser Heiko Artkämper, seinerzeit Gruppenleiter bei der Staatsanwaltschaft, haben sich Rechtsreferendar Leif Gerrit Artkämper sowie die Richterin am Landgericht Grit Weise der Sisyphusarbeit unterzogen, die zahllosen denkbaren Fallgestaltungen zu systematisieren und einer angemessenen Lösung zuzuführen.

Gegliedert ist das Werk nach Themenkomplexen. Didaktisch besonders gelungen ist die Eigenart des Buches, alle Sachthemen mit praktischen Fällen zu verknüpfen bzw. letztere als Anlass zu nehmen, das Thema rechtlich aufzubereiten. Insgesamt 813 Fälle kommen so zusammen. Darüber hinaus enthält das Buch eine Vielzahl von Mustern, von der Verbescheidung einer Gegenvorstellung (Muster 1) bis zur Rechtsmittelbefugnis bei einer Verständigung (Muster 65). Die entsprechenden Vorlagen können von der Website des Verlages heruntergeladen werden. In einem Anhang (P.) werden wichtige Gesetzestexte nebst der RiStBV abgedruckt, ein Literaturverzeichnis darf natürlich auch nicht fehlen (Q.) und die Fälle sind in einer Übersicht numerisch nach ihrem Gegenstand aufgeführt (R.).

An erster Stelle der Darstellung steht ein (selbst-)kritischer Prolog (B., S. 7 – 23), in welchem nicht nur der „Konfliktverteidiger“, sondern auch der „Konfliktstaatsanwalt“ sowie der „Konfliktrichter“ charakterisiert werden. Auch die „freche Referendarin“ kommt zu Wort. Es folgt die Klärung einiger Begrifflichkeiten (C., S. 25 – 42). Wer weiß schon, was eine „Klamaukverteidigung“ ist (Rn. 60). Aber auch zu Anträgen, Anregungen, Beweisanträgen und Gegenvorstellungen wird alles Wissenswerte gesagt. Abschnitt D. (S. 55 – 82) ist mit „Anstandsregeln, Ungehorsam, Ungebühr und Würde des Gerichts“ überschrieben. Von der „sich übergebenden Zeugin“ (Fall 46) bis zum „beim Angeklagten Marihuana erschnüffelnden Richter“ (Fall 74) findet sich hier der Gerichtsalltag wieder. Einzelne Probleme aus dem Bereich der §§ 176 – 178 GVG, also der Sitzungspolizei, schließen sich an (E., S. 83 – 92), ergänzt durch Hinweise auf entsprechende Anordnungen, Beschlüsse und Protokollierungsfragen (F., S. 93 – 100). Bei der Erörterung der Frage, wie Richter und Staatsanwalt auf Störungen reagieren sollen (G., S. 101 – 106), werden Ablaufpläne zur Störungsabwehr mitgeliefert (Rn. 255). Einen ersten Schwerpunkt des Buches bildet dann der Abschnitt H. (S. 107 – 226), in welchem praktische Fälle äußerer Störungen und deren Abwehr behandelt werden. Erklärt wird unter anderem, ob Zutrittsbeschränkungen wirksam sein können (S. 108 ff.), ob der Sitzungssaal geräumt und die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden darf (S. 119 ff.), wie mit äußeren Störungen – etwa „Trunkenheit eines Zuhörers“ (Rn. 340) umzugehen ist, wie auf Störungen durch Angeklagte (S. 152 ff.), Verteidiger (S. 169 ff.), aber auch Richter (S. 189 ff.) und andere Verfahrensbeteiligte angemessen reagiert werden kann. Abschließend werden Störungen sachgerecht nach ihrem Erscheinungsbild gegliedert (S. 194 ff.), hier findet man den „Anwalt ohne Robe“ (Fall 290), aber auch die „vollverschleierte Zeugin“ (Fall 322). Nicht nur in der Hauptverhandlung, sondern auch schon im Ermittlungsverfahren kann es zu Störungen kommen. Dem widmet sich ein eigener Abschnitt des Werkes (I., S. 227 – 278). Hier soll die „Selbstbelastung im medizinischen Kontext“ (Fall 364) als Beispiel dienen. Auch das Zwischenverfahren wird behandelt (J., S. 279 – 286). Bei der Vorbereitung der ersten Hauptverhandlung findet man wieder einen Ablaufplan (K., S. 287 – 324). Den meisten Platz im Werk von Artkämper nehmen die praktischen Fälle verdeckter Störungen in der Hauptverhandlung ein (L., S. 325 – 566). Für den strafprozessual interessierten Leser tut sich einmal mehr eine Fundgrube an denkbaren Fallkonstellationen auf. Genannt werden sollen hier nur die Ausführungen zu Besetzungsrügen (S. 359 – 369), zu Ablehnungsanträgen gegenüber Berufsrichtern, Schöffen und Sachverständigen (S. 380 – 432) sowie zum Beweisantragsrecht (S. 497 – 534). Der „Deal“ im Strafverfahren hat schon viele Gemüter erregt, da man im Hinblick auf dessen Gebotenheit völlig unterschiedlicher Auffassung sein kann. Damit nichts schiefgeht, finden sich nach Erörterung aller denkbaren Widrigkeiten (M., S. 567 – 593) auch noch Checklisten (Rn. 1363 – 1373). Der Strafprozess berührt regelmäßig nicht nur den Angeklagten sowie die Verfahrensbeteiligten, sondern auch Dritte, insbesondere auch das oder die

Opfer. Letztere werden nicht selten als Nebenkläger auftreten oder ein Adhäsionsverfahren anstrengen (N., S. 599 – 615). Es spricht für das Buch, dass auch die psychosoziale Prozessbetreuung angesprochen wird (Rn. 1414 ff.). Kommunikations- und Informationsverarbeitung im Strafverfahren schließen das Werk ab (S. 619 – 634). Das Handbuch – so kann man es durchaus nennen – hat aufgrund der behandelten Materie ein Alleinstellungsmerkmal. Die Vielzahl der aufgegriffenen Themen ist beeindruckend. Auch eher entlegene Tatbestände werden behandelt, ersichtlich soll die strafprozessuale Praxis bei keiner Frage allein gelassen werden. Darüber hinaus weisen die Muster, welche als Formulierungsvorlagen dienen können, den betroffenen Strafrichtern, aber auch Staatsanwälten sowie durchaus auch Strafverteidigern den richtigen Weg. Zudem liest sich das Buch äußerst flüssig. Ein ausführliches Stichwortverzeichnis erleichtert den schnellen Zugang zu den einzelnen Problemen. Wer in Strafprozessen aktiv sein will oder muss und Verfahrensfehler vermeiden möchte, sollte nach alledem den Artkämper immer in Reichweite haben. (cwh)

Prof. Dr. Curt Wolfgang Hergenröder (cwh), Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Arbeits-, Handels- und Zivilprozessrecht, Johannes Gutenberg-Universität, Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Deutsches, Europäisches und Internationales Arbeits-, Insolvenz- und Zivilverfahrensrecht.

cwh@uni-mainz.de

Diese Seite benutzt Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmen Sie dem zu.

Datenschutzerklärung