Im Fokus

Richtig satt werden

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 6/2021

Seit über 30 Jahren kämpft der Ernährungsmediziner Prof. Dr. med. Hans Konrad ­Biesalski1 gegen den „verborgenen Hunger“, den Mangel an Mikronährstoffen in der Ernährung. Verstärkt breitet sich dieser auch in reichen Ländern Europas wie Deutschland aus, zunehmend bei Kindern. Im Gespräch2 erfahren wir, welche Gegenmaßnahmen möglich und notwendig sind.

Herr Biesalski, nach neuesten Angaben der Welthungerhilfe hungern weltweit immer noch rund 811 Millionen Menschen. 41 Millionen stünden kurz vor einer Hungersnot. Unfassbar, hinter diesen Zahlen stehen vor allem Kinder! Wenn ich Ihren jahrelangen Kampf gegen den „verborgenen Hunger“, also den Mangel an Mikronährstoffen in der Ernährung, richtig verstehe, schätzen Sie die Lage noch katastrophaler ein? Oder wird diese Form von Mangelernährung inzwischen in den statistischen Erhebungen berücksichtigt?

Die Daten hierzu sind oft nicht vollständig und teilweise auch schwer zu erfassen. Wir konnten in verschiedenen, inzwischen publizierten Studien mit einem von uns ent­ wickelten Programm in afrikanischen und asiatischen Studien zeigen, dass solche Defizite oft übersehen werden, da hierzu das Lebensmittelmuster erfasst und bewertet werden muss. Verborgener Hunger – oder analog Ernährungsunsicherheit – ist auch in reichen Staaten zu finden, hier aber weniger untersucht.

Sie beklagen vor allem weltweit Defizite an essenziellen Mikronährstoffen wie Vitamin A und D, Folsäure, Eisen, Zink und Jod. Woran ist diese Unterversorgung zu erkennen? Und welche gravierenden Folgen hat eine solche Mangelversorgung z.B. für die körperliche und kognitive Entwicklung von Kindern?

Besonders kritisch ist die Zeit im 1000-Tage-Fenster: die Zeit von der Konzeption bis zum Ende des zweiten Lebensjahres des Kindes. Unzureichende Versorgung mit Jod und Eisen führt zu Entwicklungsstörungen des Gehirns, die zu lebenslangen kognitiven Einschränkungen führen können. Zink-Defizite werden für das gestörte Längen­wachstum der Kinder verantwortlich gemacht. Eine F ­ olsäure-Unterversorgung in der Schwangerschaft führt zu

Entwicklungsstörungen (Neuralrohrdefekte), und die vor allem in armen Ländern oft auftretenden ­Defizite an ­Vitamin A und D führen in den ersten Lebensjahren zu gesteigertem Infektionsrisiko, besonders der Atemwege, und vor allem zu einer gesteigerten Mortalität bei Kindern unter 5 Jahren. In diesem 1000-Tage-Fenster werden also sehr wichtige Weichen für die körperliche und kognitive Entwicklung gestellt. Das Gehirn des Neugeborenen wächst in den ersten beiden Jahren mit hoher Geschwindigkeit und braucht daher nicht nur ausreichend Energie, sondern vor allem ausreichend Mikronährstoffe, um dieses Wachstum zu ermöglichen. Kommen Infektionskrankheiten dazu, so wird die Situation noch kritischer, da das Immunsystem ebenfalls einen hohen Mikronährstoffbedarf hat. Ein besonderer Effekt einer frühkindlichen Mangelernährung ist das Stunting. D.h., die Kinder sind für ihr Alter zu klein. Diese Wachstumsverzögerung lässt sich nach dem 5. Lebensjahr nicht mehr aufholen. Die Kinder sind damit ihr Leben lang körperlich benachteiligt, wenn es z.B. um den Beruf und die späteren Möglichkeiten zum Geld verdienen geht. Es kann nicht sein, dass in einzelnen Ländern Afrikas und ­Asiens bis zu 50 Prozent der Kinder ein Stunting aufweisen.

Ist Stunting auch in Deutschland festgestellt worden?

Tatsächlich gibt es eine Studie aus Brandenburg, die bei Kindern aus armen Verhältnissen beschreibt, dass diese Kinder gegen jeden Trend kleiner werden. Sind drei oder mehr Kinder in einer Familie, so ist die Differenz zum altersentsprechenden Normalwert noch ausgeprägter. Die beschriebene Differenz ist zwar noch nicht als Stunting zu bewerten, gibt allerdings einen deutlichen Hinweis darauf, dass die Ernährung dieser Kinder nicht adäquat war.

Können mangelernährte Kinder diesen Prozess durch eine ausgewogene Ernährung später wieder aufholen?

Die kognitiven Einschränkungen lassen sich aufhalten, wenn frühzeitig eingegriffen wird. Ob das nach der vollständigen Reifung des Gehirns – also nach der Pubertät – noch geht, ist allerdings fraglich. Beim Stunting ist die Zeit zum Eingreifen kurz und nach dem 5. Lebensjahr oft ohne Effekt.

Wird dieses Wissen um die Langzeitfolgen des „verborgenen Hungers“ in den internationalen politischen Gremien und Organisationen, z.B. der FAO, geteilt und umgesetzt? Orientieren sich Ernährungshilfsprogramme an diesen Erkenntnissen? Oder setzt man auch da nach wie vor nur auf stärkehaltige, weil natürlich preiswertere Nahrungsmittel?

Es beginnt sich etwas zu ändern. So hat die FAO/WHO in ihrem Bericht von 2013 zur eigenen Überraschung festgestellt, dass Stunting mit der Menge an verzehrten stärkehaltigen Produkten und nicht mit geringer Energiezufuhr – als häufigstem gebrauchten Indikator für Mangelernährung – zusammenhängt. D.h. je größer der Anteil stärkehaltiger Produkte an der täglichen Energieaufnahme ist, desto mehr Kinder weisen ein Stunting auf.

Der Hidden Hunger wird inzwischen also zumindest erwähnt und Zahlen über Mikronährstoffdefizite werden erfasst. Nach wie vor wird jedoch immer wieder darauf hingewiesen, dass der Hunger am besten mit gesteigerten Erträgen für Reis, Mais, Weizen und anderen stärkehaltigen Lebensmitteln zu bekämpfen ist und dass genug für alle da sei, Klimawandel unberücksichtigt. Zweifellos ist genug „Energie“ da, um den Hunger zu bekämpfen, aber keinesfalls genug Lebensmittel, um die Menschen und hier vor allem Frauen und Kinder ausreichend zu ernähren.

Betroffen von Ernährungsarmut sind nicht nur die unterentwickelten Länder. Dieser Teufelskreis breitet sich auch verstärkt in Europa und Deutschland aus, da zu einer ausgewogenen, mikronährstoffreichen Ernährung, wie Sie es fordern, vor allem frisches Obst und Gemüse gehören. Nun sehen wir gerade bei Obst und Gemüse horrende Preissteigerungen. Verena Bentele, die Präsidentin des Sozialverbands VdK, erklärte vor kurzem in einem Interview: „Obst und Gemüse werden für Geringverdiener und Menschen in Grundsicherung durch die Preissteigerungen endgültig zum Luxusgut, das sie sich nicht mehr leisten können.“ Können da noch gutgemeinte und geförderte Elternkurse zum gesunden Kochen vom Kaufen der Fertigprodukte und Konserven abhalten, wenn das Geld für den Einkauf fehlt? Muss hier nicht ein Umdenken stattfinden?

In der Tat muss hier ein Umdenken stattfinden. Solange als Gegenargument für eine bessere finanzielle Ausstattung für Ernährung vor allem bei Kindern mantra­artig darauf hingewiesen wird, dass es ausreiche, wenn man richtig kochen kann und daher solche Diskussionen immer damit abgeschmettert werden, dass dies nur in Verbindung mit entsprechenden „edukatorischen“ Maßnahmen ginge, wird sich nichts ändern. Für 4 Euro/Tag lässt sich ein Kind nicht gesund ernähren! Der wissenschaftliche Beirat des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft hat in seinem Gutachten daher gefordert, dass Kita und Schulverpflegung nach den Qualitätskriterien der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) für alle Kinder kostenlos sein sollte. Die Skandinavischen Länder machen uns dies vor und zeigen dabei auch, dass diese Investition sich lohnt, da die sinkenden Ausgaben im Gesundheitssystem für Kinder dieser Altersgruppen den finanziellen Einsatz mehr als ausgleichen. Kochkurse für Eltern sind sicherlich eine gute Maßnahme, aber keine sine qua non Bedingung, wenn es um die Finanzierbarkeit der Ernährung geht. Das hat sich während der Coronakrise ganz besonders gezeigt. Die Kinder sind nicht nur durch psycho-soziale Probleme beeinträchtigt, sondern auch durch eine zunehmende Mangelernährung!

In Ihrem Artikel „Ernährungsarmut bei Kindern – Ursachen, Folgen, COVID-19“3 beschreiben Sie den Zusammenhang zwischen Armut, dem sogenannten sozioökonomischen Status einer Familie und Ernährungsarmut – auch in Deutschland. Sie beklagen u.a., dass während des Lockdowns, als die Schulen geschlossen waren und Homeschooling angesagt war, keine Alternative zu den Schulspeisungen angeboten wurde. Während in den USA gezielt Programme aufgelegt wurden, um der Unterversorgung zu begegnen.

Sie erwähnen z.B., dass die amerikanische Regierung rechtzeitig Mittel zur Verfügung gestellt hat, um ca. 12 Millionen Kinder aus armen Verhältnissen, die darauf angewiesen sind, mit einer warmen Mahlzeit während der Pandemie zu versorgen. Wären solche gezielten Programme nicht auch auf Deutschland übertragbar?

Mit entsprechendem politischem Willen und angepasst an die in Deutschland andere schulische Infrastruktur wäre das sicherlich möglich gewesen. Im Gegensatz zu verschiedenen Europäischen Staaten ist das Thema Schulspeisung in Deutschland nicht angesprochen worden.

Was schlagen Sie vor, um auch in Deutschland dem „verborgenen Hunger“ die Stirn zu bieten?

Das, was der wissenschaftliche Beirat dringend empfohlen hat: Daten, Daten, Daten. Das Problem wird konsequent ignoriert, obwohl die regelmäßig erhobenen Daten aus den USA und anderen Ländern deutlich machen, dass es für Menschen in Armut und hier nicht nur für Kinder, sondern zunehmend auch für Senioren ein Problem ist. Bei Senioren hat der verborgene Hunger nicht nur Folgen für das Immunsystem, sondern auch stark für die psychische Stimmung.

Finden Sie Gehör für Ihre Vorschläge in der Gesellschaft und Politik? Sind wir entsprechend sensibilisiert und handlungsbereit?

Der Abschnitt Ernährungsarmut im Gutachten des Beirates, den ich gemeinsam mit Frau Arens-Azevedo, der ehemaligen Präsidentin der DGE, geschrieben habe, ist weder von der Politik noch von den Medien wahrgenommen worden. Das Problem wird den Betroffenen zugeschoben und in der Diskussion um die Folgen der Armut konsequent ausgeklammert.

1 Prof. (emeritiert) Dr. med. Hans Konrad Biesalski war Leiter des Insti­tuts für Biologische Chemie und Ernährung (1994–2016) sowie ­Direktor des Food Security Center (FSC) an der Universität Hohenheim in Stuttgart (2013–2017).
2 Das von uns gekürzte Gespräch ist in voller Länge nachzulesen auf der Online-Plattform von Convivio mundi e.V.: https://www.convivio-mundi.de/ (29.10.2021).
3 In der Fachzeitschrift „Aktuelle Ernährungsmedizin“ (Georg Thieme Verlag, Stuttgart. 2021) online erschienen am 16. September 2021.
Open Access.

 

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (verkündet am 10. Dezember 1948 auf der UN-Generalversammlung)

Artikel 25 – Recht auf einen angemessenen Lebensstandard

1. Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet; er hat das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Verwitwung, Alter oder von anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.

2. Mutter und Kind haben Anspruch auf besondere Hilfe und Unterstützung. Alle Kinder, eheliche und uneheliche, genießen den gleichen sozialen Schutz.

Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (verabschiedet 1966 von der UN-Generalversammlung)

Artikel 11

(1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie an, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung, sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen. Die Vertragsstaaten unternehmen geeignete Schritte, um die Verwirklichung dieses Rechts zu gewährleisten, und erkennen zu diesem Zweck die entscheidende Bedeutung einer internationalen, auf freier Zustimmung beruhenden Zusammenarbeit an.

(2) In Anerkennung des grundlegenden Rechts eines jeden, vor Hunger geschützt zu sein, werden die Vertragsstaaten einzeln und im Wege internationaler Zusammenarbeit die erforderlichen Maßnahmen, einschließlich besonderer Programme, durchführen a) zur Verbesserung der Methoden der Erzeugung, Haltbarmachung und Verteilung von Nahrungsmitteln durch volle Nutzung der technischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse, durch Verbreitung der ernährungswissenschaftlichen Grundsätze sowie durch die Entwicklung oder Reform landwirtschaftlicher Systeme mit dem Ziel einer möglichst wirksamen Erschließung und Nutzung der natürlichen Hilfsquellen; b) zur Sicherung einer dem Bedarf entsprechenden gerechten Verteilung der Nahrungsmittelvorräte der Welt unter Berücksichtigung der Probleme der Nahrungsmittel einführenden und ausführenden Länder.

 

 

Bernd Siggelkow, Kindheit am Rande der Verzweiflung. Die fatalen Folgen von Lockdown und Isolation, Claudius Verlag 2021, 112 S., Hardcover, ISBN 978-3-532-62869-0, € 14,00.

    Bernd Siggelkow, der Begründer des Kinder- und Jugendwerkes Die Arche, weiß sehr genau wovon er spricht, wenn es um Kindheit am Rande der Verzweiflung, so der Titel seines Buches, geht. Der Untertitel „Die fatalen Folgen von Lockdown und Isolation“ macht klar, worum es geht. Die Arche betreut 4500 Kinder, die hier kostenlos zu Mittag essen können, Hausaufgabenhilfe erhalten, musikalische und sportliche Veranstaltung besuchen und vor allen Din-

    gen auch verständige Ansprechpartner haben. In Deutschland leben 25,1 Prozent der Kinder in Armut (Mittelwert in Europa 24 Prozent), Kinder, für die solche Einrichtungen nahezu überlebenswichtig sind. Siggelkow beschreibt eindrucksvoll, wie er und sein Team versucht haben, die Folgen des Lockdowns für die Kinder so weit abzupuffern, dass sie nicht vollständig auf der Strecke bleiben. Es gelingt ihm einzelne Beispiele zu bringen, die Menschen, die mit Kindern in Armut wenig Berührungspunkte haben, nicht sofort einfallen würden. Wie soll bitte schön ein digitaler Unterricht oder eine digitale Hausaufgabenhilfe funktionieren, wenn diese Kinder keine entsprechenden Geräte, wie Laptop, Drucker oder schnelles Internet haben? Schnell werden 200 Smartphones organisiert, um erste Abhilfe zu schaffen.

    Immer wieder kommt der Autor auch auf die besonderen Probleme der Ernährung innerhalb der Familien zu sprechen, die besonders bei Migranten aufgrund der Haushaltsgröße oft viel zu wenig Mittel haben, um gerade die Kinder entsprechend ernähren zu können. Eine weitere übersehene Problematik besteht darin, dass zu Beginn des Lockdowns die Supermarktregale leer gekauft waren und damit für die betroffenen Familien nur noch solche Lebensmittel blieben, die zu teuer waren. Siggelkow beschreibt mit viel Empathie, wie er immer wieder versucht, den auftretenden Schwierigkeiten entgegen zu treten und Lösungsansätze zu finden. Man spürt seine persönliche Betroffenheit und den Druck durch die Situation in den manchmal sehr knapp gefassten Aussagen und alarmierenden Botschaften. Die betroffenen Familien werden besucht, beziehungsweise telefonisch kontaktiert und dabei geht es nicht nur darum, die Kinder direkt zu betreuen, sondern die Familien mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln zu versorgen. MitarbeiterInnen der Arche sitzen tagelang am Telefon, um so bis spät abends ein Homeschooling zu unterstützen. Nach Beschreibung der Ausgangslage widmet sich ein Kapitel der Gewalt an Kindern und stellt die Frage: ist Isolation vorprogrammiert? Es ist schwer vorstellbar, wenn eine Familie mit drei oder vier Kinder in einer 70 m² Wohnung leben muss und infolge des Lockdowns der Bewegungsspielraum der Kinder erheblich eingeschränkt ist. Auch wenn der Autor das nicht direkt anspricht, möchte man sich kaum vorstellen was es bedeutet, wenn eine solche Familie dann aufgrund eines positiven Falls für 14 Tage oder teilweise länger in häusliche Quarantäne gehen muss. Zwischendurch Zahlen wie diese, die die besondere Situation dieser Kinder beschreibt: Anstieg der Kindesmisshandlungen um 10,8 Prozent, bei den unter Sechsjährigen 11,5 Prozent, sexueller Missbrauch Anstieg 6,1 Prozent. Am Ende stellt der Autor sich selbst die deprimierende Frage: was ist ein Kind wert? Genau diese Frage sollte sich die Politik stellen, die diesen gesamten Prozess der Kinderarmut, d.h. die Ursachen und Folgen, bisher weitgehend unkommentiert lässt. Anfragen von Parteien, Organisation oder auch Wissenschaftlern an die Politik hier zügig etwas zu ändern, damit nicht nur die Bildung, sondern auch die Ernährung dieser Kinder auf sicheren Füßen steht, wurden bisher nur sehr marginal beantwortet.

    Folgerichtig stellt Siggelkow dann im nächsten Kapitel auch die Frage: Kann Bildung ein Weg aus der Armut sein? Die für Bildung von der Bundesregierung genehmigten 150 € pro Jahr reichen bei einem mittleren Satz von 8,50 € pro Stunde gerade einmal für 18 Stunden Nachhilfe aus. Wenngleich im Buch nicht angesprochen, so ist auch der Satz für Ernährung von Kindern, das je nach Alter zwischen vier und sechs Euro pro Tag liegt, nach Einschätzung des wissenschaftlichen Beirates des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft keinesfalls ausreichend, um eine gesunde Ernährung, wie sie gerade für die physische und kognitive Entwicklung von Kindern wichtig ist, sicherzustellen. Störungen dieser Entwicklung durch Mangelernährung und soziale Deprivation werden in Kauf genommen, weil eben nicht sein kann, was nicht sein darf. Der Lockdown dürfte diesen Kindern in Bezug auf Ernährung zusätzliche Probleme geschafft haben. Auch in diesem Kapitel bringt der Autor wieder einige Beispiele die zeigen, wie problematisch diese Zeit für die Kinder war. Das beginnt bei Lehrern, die keine Erfahrung im Homeschooling haben, geht weiter über den fehlenden Austausch zwischen den Lehrkräften und den Schülern und betrifft so banale Fragen wie die, ob Eltern Druckerpatronen haben oder sie finanzieren können? Man merkt diesem kleinen Buch an, dass es aus der Sicht eines Menschen geschrieben wurde, der direkt mit großer Betroffenheit das Schicksal dieser Kinder und ihrer großen Probleme in ein empathisch, forderndes und teilweise auch deprimierendes „Wort Stakkato“ fasst. Die tiefe Sorge um den Zustand der Kinder, das dadurch ausgelöste fast hektisch wirkende Plan-B-Szenario ist nachfühlbar und erzeugt beim Leser ähnliche Gefühle. Um die Erfolge und Misserfolge der Arbeit darzustellen, finden sich Kalendereinträge und auch Einzelberichte von Betroffenen. Am Ende geht der Autor noch einmal auf die besondere Situation von armen Familien mit Kindern ein und führt einige wenige Beispiele auf, wie zum Beispiel eine Kindergrundsicherung, die dann geeignet sein soll, die Kinder in Zukunft besser zu unterstützen. Die Kinder, die jetzt die letzten zwei Jahre erlebt haben, werden sich von den hier gesetzten Schäden nur schwer erholen können und es bleibt zu hoffen, dass hier ein zügiges politisches Umdenken erfolgt, um wenigstens die Folgeschäden für die Kinder abzumindern. Bei aller Frustration, die der Autor sehr bildlich darstellen kann, bleibt am Ende ein wichtiges Zitat: Wir machen weiter . (hkb)

    Prof. Dr. Hans Konrad Biesalski (hkb).

    biesal@uni-hohenheim.de

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