Kinder- und Jugendbuch

Philosophieren mit Kindern und Jugendlichen Fragen über Fragen

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 4/2022

Überall auf der Welt gehen Kindern und Jugendlichen ­diese Fr ­ agen durch den Kopf: Droht die Welt aus den Fugen zu geraten? Gibt es einen Gott? Woher kommen wir? Wie ­werden wir in Zukunft leben? … Viele Kinder- und Jugendbuchautorinnen und -autoren greifen diese existentiellen ­Fragen zum mensch­lichen Miteinander und zum Sinn des ­Lebens auf. Renate Müller De Paoli hat fünf Bücher ausgesucht.

In dem querformatigen Bilderbuch Gewitternacht oder Wo endet die Unendlichkeit mit über 120 Schwarz-Weiß-Illustrationen der kanadischen Autorin und Illustratorin Michèle ­Lemieux blitzt und donnert es, und ein Mädchen kann in seinem Bett nicht einschlafen. Tausend Fragen schwirren ihr im Kopf herum – über sich und das Leben: „Ob es Leben gibt auf anderen Sternen? Wer bin ich? Gibt es mich nur einmal auf der Welt? Bin ich schön? Stell Dir vor, wir könnten unseren Körper wechseln (…) Ist eigentlich mein ganzes Leben von Anfang an vorbestimmt? Werde ich immer die richtigen Entscheidungen treffen? Und wie weiß ich, ob es die richtigen sind? Was ist das eigentlich genau – Schicksal? Ich möchte so gerne Dinge erfinden, die es überhaupt noch nicht gibt. Ich habe Angst vor Krieg. Tut Sterben weh? Kann man eigentlich seine eigene Seele sehen? Aber wo endet denn nun die Unendlichkeit?“ Große, gewichtige Fragen, die Lemieux mit originellen, zarten Strichzeichnungen verspielt und mit Witz auffängt und mit unglaublicher Leichtigkeit die Tür zwischen der Kinder- und Erwachsenenwelt zu öffnen beginnt.

Die verschiedensten Erlebnisse und Alltagssituationen sind für Lisa, ihre Freundinnen und Klassenkameraden Ausgangspunkt, tiefer in Frage- und Problemstellungen des täglichen Lebens einzusteigen. So lässt Matthew Lipman, US-amerikanischer Philosoph, Pädagoge und Pionier der Kinder- und Jugendphilosophie, in ­Lisa – Eine philosophische Geschichte die Teenager ohne jegliche Denkverbote und Tabus die schwierigsten philosophischen Themen aufgreifen. Engagiert und neugierig denken die Jugendlichen u.a. darüber nach, „was Sätze wahr macht“ und „wie man wahre Aussagen von falschen unterscheidet“ oder „wann sind Handlungen richtig“. Sie hinterfragen gesellschaftliche Verhaltensregeln ebenso wie Schönheitswettbewerbe, die „Menschen genauso einstuft, wie ein Fleischer Fleisch“, beschreiben Konkurrenzgefühle und Selbstzweifel, sprechen über Gerechtigkeit und versuchen auch mit dem Tod von Lisas Vater umzugehen. Übersetzt aus dem Amerikanischen und bearbeitet wurde Lisa von Daniela Camhy, Gründerin des ersten Instituts für Kinder- und Jugendphilosophie in Europa. Das Buch ist Teil der Reihe Philosophieren mit Kindern.

„Als er im Krankenhaus lag, sollte ich Opa versprechen, dich den ­Islam zu lehren, wenn er nicht mehr da ist, unseren Islam, den Islam, mit dem ich aufgewachsen bin, den Islam, den auch er als Kind in Isfahan erlebt hatte. (…) Du hast viel gelernt über den Propheten, über Gebote und Verbote, über Schriften, Gebete, Feste und Sitten (…) Aber worum es dem Islam eigentlich geht, und nicht nur dem Islam, sondern im Grunde allen Religionen, also weshalb wir von uns sagen, dass wir an Gott glauben, darüber hast du kaum etwas erfahren. Es war so, als würden die Bücher die Kleidung eines Menschen beschreiben, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wer dieser Mensch überhaupt ist – sein Gesicht, sein Charakter (…)“, so beginnt Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen – Fragen nach Gott von ­Navid K ­ ermani. In diesem sehr persönlichen Buch spricht der Vater jeden Abend mit seiner jungen, skeptischen Tochter über existentielle Fragen und Wunder des Lebens, über Geburt, Liebe und Tod, Endlichkeit und Unendlichkeit. Dabei will Kermani, Kenner zweier Kulturen, weder belehren, noch missionieren, denn „das Buch, das Opa sich gewünscht hat, ist kein Wettbewerb“. Offen, ehrlich, zweifelnd und suchend versucht Kermani in diesem poetischen Schatz alle, die noch Staunen können – „eben dieses Staunen ist der Ursprung des Islams und aller Religionen“ – mit vielfältigen Bildern und Details einen Schritt näher an die eigene, innere „natürliche Religiosität“ zu führen: „Wo sich alles um Macht, um Geld, um Anerkennung dreht, kann es regelrecht befreiend sein, an etwas Höheres zu glauben, das sich nach den Maßstäben dieser Welt nicht rechnet.“

2017, kurz nach der Amtsübernahme von Donald Trump in den USA, ist das Buch Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand von Timothy Snyder, Professor für Osteuropäische Geschichte an

Michèle Lemieux: Gewitternacht oder Wo endet die Unendlichkeit? 240 S., Beltz & Gelberg, Weinheim 2019

der Yale University, erschienen – ein eindringlicher Aufruf, die Lehren aus dem Scheitern der Demokratien in den 1920er, 1930er und 1940er Jahren in ­Europa zu ziehen und Widerstand gegen ­jede Form von Nationalismus und Autoritarismus zu leisten. So ist die 1. Lektion: „Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam.“ Und 2.: „Verteidige Institutionen.“, 3.: „Hüte dich vor dem Einparteienstaat.“ und 4.: „Übernimm Verantwortung für das Antlitz der Welt.“ Die Illustratorin ­Nora Krug hat nun diese eindrucksvolle Handreichung graphisch in Szene gesetzt. In ihrer Bildsprache verleiht sie dem komplexen Inhalt eine weitere, auch emotionale Dimension und Bedeutung. So kombiniert Krug eigene ­Illustrationen aus Wasserfarben, Zeichenstift und gefaltetem Papier mit Fotomontagen, Collagen aus Archivmaterial und alten Postkarten von Flohmärkten aus unterschiedlichen Zeiten und kulturellen Kontexten, um zu zeigen, wie lückenhaft die Erinnerung ist. Krug und Snyder fordern heraus: 11. Lektion: „Frage nach und überprüfe. (…) ‚Was ist Wahrheit?‘ Mitunter stellen Menschen diese Frage, weil sie nichts tun wollen. Der allgemeine Zynismus vermittelt uns das Gefühl, hip und alternativ zu sein, dabei schlittern wir gemeinsam mit unseren Mitbürgern längst hinein in den Morast der Gleichgültigkeit.“

Matthew Lipman / Daniela G. Camhy (Hrsg): Lisa – Eine philosophische Geschichte. Aus dem Amerikanischen von Daniela G. Camhy ­ . 160 S., Academia, Baden-Baden 2022

66 Kinder zwischen 8 und 12 Jahren aus 24 Ländern weltweit erzählen in dem bunt illustrierten Sachbuch Schlau miteinander in die Zukunft – Dein Mitmach-Buch mit Kinderfragen aus der ganzen Welt, herausgegeben von der Klaus Tschira Stiftung, in kurzen Steckbriefen von sich, ihren Fragen, Wünschen, Sorgen und Träumen für die Zukunft. Ob Bildung, Corona, Cyberhacking, Ernährung, Tierhaltung, Klima, Roboter oder das Leben auf anderen Planeten, in altersgerechter Sprache versuchen die Autorinnen Antworten zu geben und die naturwissenschaftlichen und sozialen Zusammenhänge aufzuzeigen. Spannende Experimente wie selbstgemachtes CO2, ein eigener Golfstrom, die Herstellung von Handdesinfektionsmittel, Haarshampoo oder ein Garten-Pesto vertiefen die Theorie. Clevere Mitmachaktionen wie das Platz-da-Decken-Spiel oder Gordischer-Händeknoten-Spiel laden ebenso wie die Idee des Auto-, Fernsehen- und Shoppenfastens oder die Erstellung eines Verzicht-Plans spielerisch zum praktischen Erleben und Gestalten ein, um „schlau miteinander in die Zukunft“ zu gehen. Ein tolles Sachbuch: Sachwissen, Lese- und Forscherspaß garantiert.

Renate Müller De Paoli ist freie Journalis­tin. RMDEP@t-online.de


Navid Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen – Fragen nach Gott. 240 S.,  ­Carl Hanser, München 2022


Timothy Snyder / Nora Krug (Ill.): Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand. Aus dem Amerikanischen von Andreas Wirthensohn. 128 S., C.H.Beck, München 2021


Klaus Tschira Stiftung gGmbH (Hrsg.), Bettina Deutsch-Dabernig, Nikola Köhler-Kroath: Schlau miteinander in die Zukunft – Dein Mitmach-Buch mit Kinderfragen aus der ganzen Welt. 200 S., Dorling Kindersley, München 2020

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