Landeskunde

Pakistan

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 5/2023

Sarah Caron: Pakistan. Deutsch, Englisch, Französisch. Baden/Österreich: Edition Lammerhuber 2023. Hardcover, 144 S., 72 Fotos. ISBN 978-3-903101-94-4. € 49,90.

Eine junge Frau mit wallendem, tiefschwarzem Haar in einem champagnerfarbenen, geschlitzten Designerkleid aus hochmodischer Seide, die keck Bein (und hochhackigen Schuh) zeigt, vor dem Schattenriss zweier Minarette und mit dem Rücken zur Silhouette eines überlebensgroßen, schwerbewaffneten Stammeskriegers – was für ein Gegensatz! Und zugleich welche Provokation in einem Land, in dem der Islam Staatsreligion ist und wo der Mode und der Weiblichkeit zahlreiche Beschränkungen auferlegt sind! Doch Pakistan ist nicht der Iran, wo strenges Kopftuchgebot herrscht oder Afghanistan, wo solche Werbefotografien für die Haute Couture – denn darum handelt es sich – undenkbar wären: in Pakistan gehen die Uhren anders als bei seinen westlichen und nördlichen Anrainern, anders auch als im benachbarten Indien, diesem ungleich größere Staatenzwilling, der aus der Teilung des Jahres 1947 hervorging. Sarah Caron, vielfach ausgezeichnete französische Pressefotografin, hat das irritierende Flimmern zwischen Hochglanz und primitivsten Lebensbedingungen in diesem Land seit einem Vierteljahrhundert mit ihrer Kamera eingefangen. Der Sammelband, der zugleich Ausstellungskatalog ist, zeigt ihre Fotos aus den frühen 2000er Jahren bis zur unmittelbaren Gegenwart und, mehr noch, einen Querschnitt durch die verstörende Vielfalt und den Facettenreichtum dieses Landes am Abgrund, fast eines failed state, der aber – auch das ist ein Resümee der Lektüre – über eine erstaunliche Stabilität und Resilienz verfügt. Wer den Band durchblättert, erfährt in der Tat etwas über dem Kern dieses Landes, das von der Geschichte so bunt zusammengewürfelt wurde und wo selbst die drei größten Bevölkerungsgruppen – Belutschen im Süden, Paschtunen im Norden und Sikhs im Westen – durch ihre Verteilung auf vier Staatsgebilde (Iran, Pakistan, Afghanistan, Indien) mit gespaltenen Loyalitäten zu kämpfen haben, ganz zu schweigen von den vielen religiös-ethnischen Gruppen und Stämmen, die ein gewisses Eigenleben fernab staatlicher Kontrolle führen.

Sarah Carons knapper historisch-politischer Rückblick auf Staatsgründung und Weiterentwicklung Pakistans sowie die dreisprachigen, deutsch-englisch-französischen Bilderläuterungen geben Hinweise auf die Entstehung und Bedeutung der Aufnahmen, die – mit Jahreszahlen versehen – an Buntheit und Vielfalt der Sujets kaum zu wünschen übriglassen. Die meist doppelseitigen Fotos zeigen selten die grandiosen Panoramen oder Landschaftsszenarien, wie man sie aus Reisebildbänden kennt; meist sind es Menschen und Menschengruppen, die mit starken Farben in den Vordergrund treten, so die Mädchen, die in ihren traditionellen Überwürfen in strahlendem Blau mit orangefarbenen Röcken einen verschneiten Bergbach überqueren oder die jungen Frauen, die in tiefes Dunkelrot, Grün und Blau gekleidet über eine schier endlose Hängebrücke balancieren – vor dem Hintergrund des himmelhohen Himalayas. Fotos wie diese haben der Autorin zahlreiche Preise eingetragen.

Verständlich, dass man als Frau mit anderen Augen auf ein Land blickt, in dem das Patriarchat eine so bedeutende Rolle spielt. Der Fotografin war der Blick in die Zenanas, die Frauengemächer, in die Kinderstuben und Hinterzimmer erlaubt, und hart fällt ihr Urteil über die gesellschaftliche Unterordnung ihrer Geschlechtsgenossinnen aus; hart sind aber auch ihre Feststellungen über die Dominanz der Älteren über die Jüngeren: „Das Kind muss dem Patriarchen bis zum Tod gehorchen. Punkt. Er wird eine von seiner Mutter gewählte Frau heiraten. … Der Sohn wird bei seinem Vater wohnen und dem Patriarchen gehorchen, auch wenn sich dieser als wahrer Tyrann erweist. Auf diese Weise wurde das pakistanische Volk von jüngster Kindheit an auf Unterwerfung und Angst konditioniert, ein Nährboden für Depression und Gewalt.“ Nicht besser sieht es nach ihren Worten mit den Eliten aus, „die vom Volk vollkommen entfremdet sind… Die politisch einflussreichen Familien sind mittlerweile zu Dynastien geworden… Militärchefs festigen weiter ihre Macht.“

Was tun angesichts dieser düsteren Einsichten? Die Fotografin gibt selbst die Antwort: „In der Zwischenzeit biete ich Ihnen eine Bilderreise an, um diesem widerstandsfähigen und gastfreundlichen Volk zu begegnen.“ Und diese Bilderreise hat es in sich: vom Hunzatal im Norden, wo Schülerinnen in ihre Abschlussprüfung vertieft sind, über die Kalashas von Chitral am Hindukusch, wo die Frauen ihre Männer selbst auswählen sowie den pelikanzähmenden Mohanas am Mancharsee im zentralen Sindh bis hin zu den verkehrsgeplagten Bewohnern der Millionenmetropolen Karachi, Lahore und Islamabad, von der Zuckerrohrernte im Panjab über Geschicklichkeitsreiten in der Grenzregion Khyber Pakhtunkwa, wo man den Pferden eigene Duschen und Ventilatoren gönnt, von den nomadisierenden Koochi-Hirten bis hin zum Khunjerab-Pass, dem höchsten befestigten internationalen Grenzübergang (nämlich nach China) in 4.693m Höhe und bei minus 16 Grad – Sarah Caron war dort. Ihr unausgesprochenes Fazit: Pakistan lässt sich nicht auf einen Nenner bringen. Der Fotoband gewährt keinen Einblick in die Welt der Oberschichten wie den Mohajirs oder Diliwalas, der aus Indien 1947 zugezogenen Bildungs- und Wirtschaftselite, des Militärs oder gar des Geheimdiensts – eine Lücke, die angesichts der Fülle der Eindrücke zu verschmerzen ist. Wer mehr über das Land erfahren will, muss auf andere Informationen zurückgreifen, zum Beispiel auf Jakob Rösels ausgezeichnete Studie in südasien.info 8/2010 (www.südasien.info/analysen/2798.html). Dass unsere Autorin allen Widrigkeiten zum Trotz dem Charme des Landes und seiner Bewohner erlegen ist, ist unverkennbar; dass sie einen anderen Zugang zu Pakistan gefunden hat als die 2017 verstorbene deutsche Ärztin Ruth Pfau, die hier eine karitative Lebensaufgabe fand, ist eine klassische déformation professionelle: ihre Stärke liegt eben im Hinschauen, nicht in der Analyse oder im Einschreiten.

Ein beeindruckender Fotoband über ein ungewöhnliches Land. (tk)

Dr. Thomas Kohl (tk) war bis 2016 im Universitäts- und Fachbuchhandel tätig und bereist Südasien seit vielen Jahren regelmäßig.

thkohl@t-online.de

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