Editorial

Jeden Tag ein Thema erkunden, über das man noch gar nichts weiß

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 4/2020

Der Tiroler Fotograf Lois Hechenblaikner dokumentiert seit fast drei Jahrzehnten die Ausfälle zwischenmenschlicher Begegnungen, die Vergnügungsindustrie in den Alpen und die Folgen einer Kombination aus beidem. Blättert man in seinem aktuellen Fotoband „Ischgl“, so „wundert es einen nach dem Betrachten des Buches nicht mehr, wie ein Ort zu einer derartigen Ausbreitung des Coronavirus betragen konnte“, urteilt unsere Rezensentin. „Der Standpunkt des Fotografen ist faszinierend, legt er doch die Verhältnisse und Peinlichkeiten offen, ohne zu werten. Das macht der Betrachter dann sowieso.“ Hechenblaikners LangzeitDokumentation hält die Entwicklung vom ehemaligen ärmlichsten Bauerndorf zum Hotspot jährlichen PartyExzesses fest: Ischgl als Ort, um die niedersten Bedürfnisse auszuleben. Nicht umsonst hat der Bankomat an der Talstation von Ischgl die zweithöchste EntnahmeFrequenz von ganz Österreich. „Der Alpenraum ist so etwas geworden wie ein Überdruckventil für die Leistungsgesellschaft: Druck ablassen gegen Bezahlung. Die Gäste driften hier in eine vulgäre Welt ab“, sagt der Fotograf im BR-Interview: „Jetzt ist mit Corona der richtige Zeitpunkt, Bilanz zu ziehen.“

In dieser Sommerausgabe finden Sie natürlich auch erfreulichere Themen. Wir laden sie mit unserer Zusammenstellung von Neuerscheinungen aus der Astronomie wieder zu nächtlichen Erkundungstouren ein und hoffen, dass der Blick ins Universum und der Blick aus dem Universum auf unseren blauen Planeten das Nachdenken über unsere fragile und wunderschöne Erde – mit noch immer reicher Flora und Fauna! – so befördern wird, dass wir in Zukunft umsichtiger und intelligenter handeln werden. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt und wir haben in dieser Ausgabe deshalb besonders viele Bücher zum Thema Umwelt und der Entwicklungsdynamik in Natur und Gesellschaft zusammengestellt.

Auf ein Thema möchte ich Sie ganz besonders hinweisen: Vor mehr als vier Jahren veröffentlichten wir ein Interview mit Dr. Thomas Galli über sein damals gerade erschienenes Buch „Die Schwere der Schuld“. Damals machte mich seine Überzeugung stutzig, dass er noch „ein Deutschland ohne Gefängnisse“ erleben werde, denn das sei eine Frage der Vernunft. Heute haben mich viele seiner Thesen überzeugt. In dem Gastbeitrag zu seinem neuen Buch „Weggesperrt“ lesen Sie, warum er unseren Strafvollzug für unvernünftig und einer modernen Gesellschaft unwürdig hält. Auch hier dürfte jetzt endlich der Zeitpunkt für eine große Reform gekommen sein.

Eine Freundin und Autorin des fachbuchjournals gab mir vor einiger Zeit einen Artikel über „The New York Review of Books“ und brachte unsere Zeitschrift damit in Verbindung. Das will ich Ihnen nicht vorenthalten. Seit mehr als 50 Jahren schreibt die „The New York Review of Books“ Geschichte. In dem Bericht im ZEIT MAGAZIN von Februar 2015 ging Jürgen von Rutenberg im Gespräch mit Robert B. Silvers – von 1963 bis zu seinem Tod 2017 Chefredakteur dieser außergewöhnlichen Zeitschrift – der Frage auf den Grund, was diese so einmalig macht. „Ihrem etwas irreführenden Namen zufolge geht es dieser Zeitschrift um das Rezensieren von Büchern. In Wahrheit arbeitet sie seit 1963 daran, mittels neuer und alter Bücher die Welt besser zu verstehen. Und diese Welt, wenn möglich und nötig, zu verändern.“ Seine Autoren seien keineswegs einer Meinung, sie stimmten aber alle darin überein, dass Tiefe und Skepsis erforderlich sind. Immer werde – bei einer erkennbar „unsystematischen“ Themenmischung – über die ernsten und komplexen Themen auf eine nicht triviale Weise diskutiert; gefällige Oberflächlichkeit gibt es nicht. Parallelen zwischen dieser großartigen Zeitschrift und uns zu ziehen ist vermessen, aber es ist erlaubt, sich an großen Vorbildern zu orientieren. Das Schlusswort des weisen alten Robert B. Silvers hat mich überzeugt: „Ich finde, man sollte jeden Tag ein Thema erkunden, über das man bisher noch gar nichts weiß.“

Und deshalb! Schweine auf unserer grünen Seite am Anfang dieser Ausgabe! Wussten Sie, dass diese Tiere sehr neugierig, bewegungsfroh und intelligent sind, dass sie – nur ein Beispiel – eine hoch empfindliche Nase haben und so manchen feschen Jagdhund beim Aufspüren von Wild oder Trüffeln beschämen können? Erkunden Sie das Thema Schweine – und damit das Thema Tierwohl/ Schlachthöfe/Tönnies! Auch hier ist der richtige Zeitpunkt gekommen, Bilanz zu ziehen.

Angelika Beyreuther

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