Landeskunde

Calcutta

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 5/2022

Peter Voss: Calcutta. Street Photography. Deutsch-Englisch. Michael Imhof Verlag., 2022, 240 S., 144 Farbabbildungen. Hard­cover mit SU, ISBN 978-3-7319-1231-6, € 59,95.

„Ein Buch für Walfänger“, könnte man aufstöhnen wie jene englische Lady, die seinerzeit ­Samuel Johnsons dickleibiges Dictionary, empört über Umfang und Gewicht, in hohem Bogen aus dem Kutschenfenster warf. Ganz so hart wollen wir den vorliegenden Fotoband trotz seiner drei Kilo Lebendgewicht aber denn doch nicht beurteilen – den elften aus einer ganzen Reihe, die der vielfach ausgezeichnete Fotograf Peter Voss in den letzten Jahren produziert hat. Wie man beim Durchblättern feststellt, gehen Großformat und Gewicht auf das satte Fotopapier zurück, das die etwa 150 ganzseitigen, farbenprächtigen Aufnahmen erst zur Geltung bringt. Die einzige Textbeigabe des Bandes – ein Vorwort auf Deutsch und auf Englisch – verrät dem Leser resp. der Leserin einige Daten zu der bengalischen Metropole und zugleich einiges über die Motivation des Autors, der an Kalkutta (heute: Kolkata), der „Stadt der Freude“, aber auch der Armut und des unbeschreiblichen Schmutzes, einen Narren gefressen hat. „Mein geliebtes Kalkutta“ nennt er das Stadtmonstrum am Unterlauf des Hugli – angesichts der teilweise drastischen Aufnahmen ein überraschendes Statement. Wer erinnert sich nicht an das Verdikt von Günther Grass, der der Stadt seit seinem ersten Besuch im Jahr 1975 mit einer wahren Hassliebe verbunden war? „Diese bröckelnde, schorfige, wimmelnde, ihren eigenen Kot fressende Stadt, hat sich zur Heiterkeit entschlossen. Sie will, dass ihr Elend schrecklich schön ist.“ (Der Butt). Auch Peter Voss erliegt erstaunlich der Ambivalenz Metro­ pole, die bei all ihren Gegensätzen doch attraktiv wirkt. Geht man den Band mit seinen fototechnisch aufwändigen, bis zur Theatralik gesteigerten Momentaufnahmen in den Armenvierteln Bild um Bild durch, dann beginnt man etwas von der Faszination zu verstehen, die von den nicht beschönigenden, aber auch nicht denunzierenden Aufnahmen ausgeht. Armut? Ja. Elend? Ja und nein. Der Blick in die Hinterzimmer mit ihren schlafenden Menschen, den Alltag der Marktbudenbesitzer, die Schlupfwinkel der Armen und Ärmsten, Frauen, Männer und Kinder, die Werkstätten der Handwerker und Metzger oder die Müllhalden der Lumpensammler zeigen men at work, Menschen bei der Arbeit, die – so schmutzig und abstoßend sie auch sein mag – ein Leben aus eigener Kraft ermöglicht und eine eigene Würde verleiht. In den Gesichtern, die sich dem Betrachter offen zuwenden – eine große Leistung des Fotografen – liest man Apathie, Anstrengung und Resignation, aber auch eine elementare Lebensfreude, Vitalität und Resilienz, die wir uns hierzulande kaum mehr vorzustellen vermögen. Ist ein auskömmliches Leben denn kein Menschenrecht? Ist Frieden denn kein Normalzustand? Fragen, die man sich nur im Westen stellt; für die Armen in Kalkutta gilt es, zu überleben, so wie es nun einmal ist. Ausgemergelte Alte in abgerissener Kleidung; Sackträger, schwere Lasten tragend; junge Frauen – selber noch Kinder – mit ihren Kindern auf der Straße; Rikschafahrer, gegen den Monsunregen in selbstfabrizierte Plastikplanen gehüllt; Metzger, mit den nackten Füßen im Blut der Schlachttiere – all das ist nichts für schwache Nerven. Und dennoch: Peter Voss gelingt es, die Gefahr des fotografischen Voyeurismus zu bannen, und man glaubt ihm, dass er diese Menschen und ihre Stadt mag. Die eingesetzte Beleuchtungstechnik mit Gegenblitz, die den Tag zur Dämmerung macht und die Farben unnatürlich, bisweilen grell hervortreten lässt, muss man nicht mögen; entziehen kann man sich dem Sog der Aufnahmen nicht. Die Ästhetik der Bilder weckt Emotionen, und außer auf Armut, ja Not und Elend gewährt Voss auch Blicke auf den dekadenten Charme der bengalischen Hauptstadt, in der es sich auch mit wenig Mitteln gut leben lässt. Wie schrieb der leider zu früh verstorbene Indienreisende Helmut Hänsch? „Ohne die Freundlichkeit der Menschen hier untereinander würde die Stadt sozial explodieren… Wie kommt es, dass in Deutschland alles so müde ist und in Indien alles so lebendig?“ (Vorwort) – eine Frage, die auch den Rezensenten, der Kolkata öfters durchstreifte, bis heute beschäftigt.

Ein praller Bildband über das harte Leben der Armen in den Slums einer dynamischen Großstadt, von einem engagierten Fotografen zusammengestellt – und doch nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Alltag dieser Megacity, die immer noch als Geheimtipp gilt. Der Band ist nicht billig, aber seinen Preis wert. (tk)

Dr. Thomas Kohl (tk) war bis 2016 im Universitäts- und Fachbuchhandel tätig und bereist Südasien seit vielen Jahren regelmäßig. thkohl@t-online.de

Diese Seite benutzt Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit zu verbessern. Mit der weiteren Verwendung stimmen Sie dem zu.

Datenschutzerklärung