Fotografie

Auseinandersetzungen

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 4/2020

In den letzten beiden Ausgaben des fachbuchjournals hatten die Fotobücher jeweils einen Themenschwerpunkt, lapidar zusammengefasst waren dies „Das Dritte Reich“ und „Die DDR“. Zwar wer ­ den in der vorliegenden Ausgabe nunmehr wieder einzelne, sehr verschiedene Werke ohne einen Schwerpunkt vorgestellt, aber dennoch finden sich in allen diesen Büchern Aspekte der Geschichte Deutschlands. Ob es der aktuelle Bezug zum Coronavirus ist, den der Betrachter alleine herstellt, die Ermittlungsmisserfolge bei ungeklärten Todesfällen, oder das umfassende Werk von Karl Lagerfeld.

Olaf Schlote, Memories Erinnerungen זיכרונות, Kerber Verlag, 2020, Sprachen: Deutsch, Englisch, Hebräisch, 208 S., 44 farbige und 27 s/w Abb., Hardcover, € 40,00

Dass sich unter diesen Büchern wieder eines mit Erinnerungen an den Holocaust auseinandersetzt ist mehr als wichtig, kann eine Gegenwart doch nicht auskommen ohne die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Im Vorwort zu dem Buch Memories Erinnerungen זיכרונות, von Olaf Scholte schreibt die Direktorin und Kuratorin des Hecht Museums in Haifa: „Die Erinnerung ist unerlässlich für die Fähigkeit zu lernen, da sie einem ermöglicht, Wissen aus früheren Erfahrungen und Eindrücken zu erwerben, um neue Erfahrungen zu verstehen und zu interpretieren.“ Diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird und kann nicht vorbei sein solange Faschismus in Teilen der Gesellschaft als akzeptabel gilt.

 

Lois Hechenblaikner, Ischgl, Steidl Verlag, 2020, 240 S., 205 Abb., Hardcover, € 34,00

Andere, auf andere Art aktuelle Aspekte deutscher und internationaler Geschichte finden sich in dem viel gelobten Band Ischgl von Lois Hechenblaikner. Ob der Erscheinungstermin nun zufällig oder absichtlich gewählt wurde, vermag ich nicht zu sagen. Aber glücklich ist er allemal. Hechenblaikner dokumentiert seit 26 Jahren die Ausfälle zwischenmenschlicher Begegnungen, die Vergnügungsindustrie in den Alpen und die Folgen einer Kombination aus beidem. Solle man, so wie ich, jenseits des Skisports aufgewachsen sein, wundert es einen nach dem Betrachten des Buches nicht mehr, wie ein Ort zu einer derartigen Ausbreitung des Coronavirus betragen konnte.

Der Standpunkt des Fotografen ist faszinierend, legt er doch die Verhältnisse und Peinlichkeiten offen, ohne zu werten. Das macht der Betrachter dann sowieso.

 

Vivian Rutsch, Still here, Kehrer Verlag, 2020, Sprachen: Deutsch, Englisch, 240 S., 155 Farb- und S/W-Abb., Festeinband, € 35,00

„Mehr als 11.000 Menschen werden 2018 in Deutschland vermisst – darunter mehr als 7.000 unter 18 Jahren. (…) In 8.400 mutmaßlichen Fällen von Kinderpornographie haben im vergangenen Jahr mangels Daten die Täter nicht ermittelt werden können.“ (aus Still here) Sexueller Missbrauch und ungeklärte Todesfälle sind ein eher ungewöhnliches Thema für ein Fotobuch. Vivian Rutsch muss dieses ungewöhnliche Leben führen, in dem sie mit zwei ungeklärten Todesfällen und Fällen von sexuellem Missbrauch in der Familie zu kämpfen hat. Ihr Buch Still here ist die Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte, es dokumentiert ihre Suche nach Antworten und ist letztlich auch eine Würdigung der Schwester.

„Meine Schwester verstarb am zweiten März 2018 mit 17 Jahren. Als sie vermisst und einen Tag später tot aufgefunden wurde, gingen alle von einem Suizid aus, auch wir. Zunehmende Ungereimtheiten ließen uns an der offiziellen Version zweifeln. Die Leichenschau wurde nicht den Gesetzen in Baden-Württemberg entsprechend durchgeführt. Eine Obduktion gab es nicht. Der zuständige Staatsanwalt schloss ihre Akte zwei Tage später, ohne auf den medizinischen Bericht zu warten, ein Fehler reihte sich an den anderen. Der Fall wurde zweimal zur Wiederaufnahme eingereicht und abgelehnt. Einer von vielen Fällen in Deutschland, die wohl für immer ungeklärt bleiben werden.“ (aus Still here) Die stillen Bilder, die handschriftlichen Tagebucheinträge und die geschwärzten Berichte der Staatsanwaltschaft vermitteln ein eindrückliches Bild der Suche und des Schmerzes. Es gibt wenige Fotobücher, die einen zum Weinen bringen, dieses aber schon.

 

Linda Conze / Museum Kunstpalast (Hrsg.), Sichtweisen, Distanz Verlag, 2020, Sprachen: Deutsche und englische Edition, 192 S., 200 Farb- und s/w-Abb., Hardcover, € 36,00

Düsseldorf ist in der Welt der Kunst vor allem mit den großen Fotokünstler*innen der Gegenwart verknüpft. Bernd und Hilla Becher, ihre Studenten und Studentinnen Thomas Struth und Ruff, Candida Höfer, Andreas Gursky, die Liste erfolgreicher Fotograf*innen der Düsseldorfer Photoschule ist lang und steht auch international als Synonym für die deutsche Fotografie. Bislang allerdings gab es keine „angemessene Repräsentation der Fotografie in den Sammlungen der Museen der Stadt“. 2019 konnte der Kunstpalast dann die umfassende Bestandssammlung der Galerie Kicken ankaufen. Ein Anlass, der mit der Ausstellung Sichtweisen gewürdigt wurde. Der Katalog, erschienen im Distanz Verlag, zeigt die epochen- und Grenzen übergreifende Sammlung, unterteilt in Kapitel Licht, Neugier, Mensch, Dinge, Ordnung, Alltag, Zeugnis, Raum. Gemeinsam mit den Texten von Linda Conze, Thomas Weski und Janos Frecot erhält man einen erstaunlichen Einblick in die neue Sammlung des Kunstpalastes Düsseldorf.

 

Karl Lagerfeld, Fotografie, Steid Verlag, 2020, 224 S., 196 Abb., Festeinband, € 28,00

„Ich habe das Glück, im Leben das tun zu können, was mich am meisten interessiert: Fotografie, Mode und Bücher.“ (Karl Lagerfeld, Fotografie)

Karl Lagerfeld verstarb 2019 und für viele dürfte erst über die vielzähligen Nachrufe klar geworden sein, was für ein im wahrsten Sinne Tausendsassa Lagerfeld wirklich war. Er wurde vor allem als Modedesigner wahrgenommen, war aber mit gleichem Enthusiasmus auch Fotograf seiner eigenen Kreationen als auch freier Arbeiten. Das vorliegende Buch gestattet einen faszinierenden Einblick in das vielseitige kreative Schaffen von Karl Lagerfeld. Von handkolorierten Fotografien, die als Arbeitsskizzen dienten, über die Metamorphose eines Amerikaners zu der Metamorphose des Dorian Gray, von Daguerreotypien, über verschwommene Fotografien aus der Pariser Nacht zu den klaren Linien des Palazzo Della Civiltà Italiana, über Homer zu Schiller zu Fendi. Es gibt wenige Fotografen mit einem ähnlich breiten Verständnis ihres eigenen Wirkens.

Das Buch erschien zur Retrospektive „Karl Lagerfeld. Fotografie“ im Kunstmuseum Moritzburg.

Kristina Frick, geboren 1980 in Wiesbaden, ist Fotografin, ­Auto­rin und Übersetzerin und lebt in Berlin.

kristina.frick@gmx.de

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