Ethik, Theologie | Religion

Hamartiologie – und Dietrich Bonhoeffer

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 3/2022

Bernd Vogel, Wenn ein Mensch wie Jesus gelebt hat… Dietrich Bonhoeffers Rede von Jesus Christus für uns heute. Stuttgart: Kohlhammer, 2021. 180 S., kart., ISBN 978-3-17-041638-3. € 19,00.

     

    Bonhoeffer Handbuch, hrsg. von Christiane Tietz. Tübingen: Mohr Siebeck, 2021. XII+538 S., kart., ISBN 978-3-16-150080-0. € 59,00.

      Christiane Tietz, »Die Spiegelschrift Gottes ist schwer zu lesen«. Beiträge zur Theologie Dietrich Bonhoeffers (Dietrich Bonhoeffer STUDIEN 2). Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2021. 321 S., Hardcover, ISBN 978-3-579-05853-5. € 48,00.

         

        Hyun Joo Kim, Bearing Sin as Church Community: Bonhoeffer’s Harmatiology. London: T&T Clark, 2022. 360 S. (Druck in Vorbereitung)

          Dennis Dietz, Offenbarung und Glaube. Eine heilsgeschichtlich-hamartiologische Untersuchung der Theologie Dietrich Bonhoeffers (Dietrich Bonhoeffer STUDIEN 1). Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2020. 454 S., Hardcover, ISBN 978-3-579-05852-8. € 78,00.

            Mich haben Bonhoefferstudien erreicht, in denen Sünde ein Thema oder das Hauptthema ist. Für Sünde zuständig soll innerhalb christlicher Theologie der Fachbereich Hamartiologie sein. Im neutestamentlichen Griechisch wurde mit hamartía, dem Gegenteil zum Zutreffen, also Verfehlen, das Nicht-Bezogensein auf Gott bezeichnet. Sünde, weiß deutsches Sprachgefühl, wird begangen, ist ein Gehen in eine Richtung. Wieso ist die Rede – doch wohl nicht das Lehren, das Beibringen – von Sünde zurzeit im Schwange? Schwant dem ‚Zeitgeist‘: So wie’s jetzt läuft, läuft’s verkehrt, das geht nicht gut?

            Der Theologe Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) trieb Ethik als seine Lebensaufgabe. Ethische Reflexion prüft Verhaltensentscheidungen. Wie Menschen, als Einzelne oder gemeinschaftlich, sich zu Begegnendem handelnd oder erleidend verhalten werden, hängt auch von ihrer Eigenart ab – Aktivität, Passivität, Identität. Aus dem gefällten Entschluss entwickelt sich Geschehen, in individueller Lebensführung und im Geschichtsverlauf. Die Zeitumstände, unter denen Bonhoeffer lebte und dachte und ab 1940 an Manuskripten zu einer Ethik schrieb (Dietrich Bonhoeffer Werke Band 6), ließen die Geschichte auf eine Katastrophe zulaufen, angestoßen durch einen in Deutschland an die Macht gekommenen Führer.

            Und heutzutage? Von Umwelt-Sünden sprechen manche seit geraumer Zeit, und von Kriegsschuld viele seit kurzem.

             

            Bernd Vogel wird vom Thema Sünde schon jahrzehntelang umgetrieben. In diesem neuen Buch will er „das herrliche Ethik-Zitat ‚Gott liebt die Widergöttlichkeit‘“ weiterdenken und mit Bonhoeffer über Bonhoeffer hinaus „wirklich ‚Anfechtbares‘ zu ‚sagen‘“ wagen (Email an it am 4.9.2021). Vogel formuliert das Zitat (BV 126) angelehnt an Bonhoeffers Manuskript vom Herbst 1940 für sein geplantes Ethik-Buch (DBW 6, 70): „Was uns verabscheuungswürdig ist in seiner Widergöttlichkeit, wovor wir uns zurückziehen in Schmerz und Feindschaft, der wirkliche Mensch, die wirkliche Welt, das ist für Gott Grund unergründlicher Liebe, damit vereint er sich aufs innigste. Gott wird Mensch, wirklicher Mensch.“ Im Brief vom 16. ­Juli 1944 verlangt Bonhoeffer im Zusammenhang mit Markus 15,34, der Gottverlassenheit Jesu am Kreuz: Mit letzter intellektueller Redlichkeit müssen wir erkennen wollen. Er hatte sich vorgenommen, theologisch zu fragen, „wer Jesus Christus heute für uns eigentlich ist“ (30. April 1944 DBW 8, 402). Am 3. August 1944 (DBW 8, 555) schrieb er: „Wir müssen es auch riskieren, anfechtbare Dinge zu sagen, wenn dadurch nur lebenswichtige Fragen aufgerührt werden.“ Muss die Lehrformel, die das Konzil zu Chalkedon im Jahre 451 beschloss (Bonhoeffer erwähnt das Chalcedonense am 20. Mai 1944 DBW 8, 441) revidiert werden: Jesus Christus, „dem Vater wesenseins der Gottheit nach, derselbe auch uns wesensgleich der Menschheit nach, uns in allem ähnlich, die Sünde ausgenommen“? (BV 146) Ist es heute an der Zeit zu sagen, dass der wirkliche „Mensch Jesus“ an Sünde=Widergöttlichkeit teilhabe?

             

            Das von Christiane Tietz betreute Bonhoeffer-Handbuch vermittelt – durch 57 Beiträge zur Person, dem Werk und dessen Rezeption – Einblicke in Bonhoeffers Wirkung auf die 32 Mitarbeitenden. Die Anfänge dieses Bandes in der Reihe der Theologen-Handbücher reichen ins vorige Jahrhundert zurück. Der kanadische Professor für „Religious Studies” Peter Frick beobachtet an Bonhoeffers Argumentieren: „Für den unter der Macht der Sünde lebenden Menschen gibt es keine Möglichkeit (gegen Aristoteles und Heidegger), die Sünde zu seinem Heil zu durchschauen und zu entmachten. […] Nur durch die göttliche Offenbarung kommt der Mensch zu sich selbst und erkennt er, wer er ist, als Sünder und als Glaubender (vgl. DBW 2, 74).“ Bonhoeffer lässt seine „theologischen Gedankengänge“ nicht durch „philosophische Einsichten“ stören (Hb 71f). Wolf Krötke, Berlin, betont, eines der „we-4.9.2021). Vogel formuliert das Zitat (BV 126) angelehnt an Bonhoeffers Manuskript vom Herbst 1940 für sein geplantes Ethik-Buch (DBW 6, 70): „Was uns verabscheuungswürdig ist in seiner Widergöttlichkeit, wovor wir uns zurückziehen in Schmerz und Feindschaft, der wirkliche Mensch, die wirkliche Welt, das ist für Gott Grund unergründlicher Liebe, damit vereint er sich aufs innigste. Gott wird Mensch, wirklicher Mensch.“ Im Brief vom 16. ­Juli 1944 verlangt Bonhoeffer im Zusammenhang mit Markus 15,34, der Gottverlassenheit Jesu am Kreuz: Mit letzter intellektueller Redlichkeit müssen wir erkennen wollen. Er hatte sich vorgenommen, theologisch zu fragen, „wer Jesus Christus heute für uns eigentlich ist“ (30. April 1944 DBW 8, 402). Am 3. August 1944 (DBW 8, 555) schrieb er: „Wir müssen es auch riskieren, anfechtbare Dinge zu sagen, wenn dadurch nur lebenswichtige Fragen aufgerührt werden.“ Muss die Lehrformel, die das Konzil zu Chalkedon im Jahre 451 beschloss (Bonhoeffer erwähnt das Chalcedonense am 20. Mai 1944 DBW 8, 441) revidiert werden: Jesus Christus, „dem Vater wesenseins der Gottheit nach, derselbe auch uns wesensgleich der Menschheit nach, uns in allem ähnlich, die Sünde ausgenommen“? (BV 146) Ist es heute an der Zeit zu sagen, dass der wirkliche „Mensch Jesus“ an Sünde=Widergöttlichkeit teilhabe?

             

            Das von Christiane Tietz betreute Bonhoeffer-Handbuch vermittelt – durch 57 Beiträge zur Person, dem Werk und dessen Rezeption – Einblicke in Bonhoeffers Wirkung auf die 32 Mitarbeitenden. Die Anfänge dieses Bandes in der Reihe der Theologen-Handbücher reichen ins vorige Jahrhundert zurück. Der kanadische Professor für „Religious Studies” Peter Frick beobachtet an Bonhoeffers Argumentieren: „Für den unter der Macht der Sünde lebenden Menschen gibt es keine Möglichkeit (gegen Aristoteles und Heidegger), die Sünde zu seinem Heil zu durchschauen und zu entmachten. […] Nur durch die göttliche Offenbarung kommt der Mensch zu sich selbst und erkennt er, wer er ist, als Sünder und als Glaubender (vgl. DBW 2, 74).“ Bonhoeffer lässt seine „theologischen Gedankengänge“ nicht durch „philosophische Einsichten“ stören (Hb 71f). Wolf Krötke, Berlin, betont, eines der „wesentlichen Anliegen Martin Luthers“ sei gewesen, Sünde „zu entlarven und bloßzustellen“, und darin sei Bonhoeffer ihm gefolgt. „Das Ernstnehmen der Sünde war für ihn ein zentrales theologisches Anliegen.“ (Hb 47) Im Blick auf „Bonhoeffer-Forschung im 21. Jahrhundert“ (Hb 16-20) verliert Christiane Tietz kein Wort über das Thema Sünde; sie erhofft genaueres Begreifen, „wie es sich zugetragen hat, daß Dietrich Bonhoeffer zu einem der einflußreichsten Theologen des 20. Jahrhunderts geworden ist“.

            Christiane Tietz hat im Band Dietrich Bonhoeffer STUDIEN ­ 2 zwanzig ihrer Aufsätze versammelt, die zwischen 1998 und 2016 verstreut erschienen waren, und unter ein Zitat aus Bonhoeffers Predigt in London am 28. Oktober 1934 gestellt, in der er 1Korinther 13,12 auslegt (DBW 13, 397): Nur dunkel fängt menschliches Reflektieren Gottes Gedanken auf. „Wir sehen sie nur in der Spiegelschrift. Und die Spiegelschrift Gottes ist schwer zu lesen.“ In einem zitierten Buchtitel „Die gebrochene Macht der Sünde. Dietrich Bonhoeffers zur Hamartiologie“ (2010, ST2 160 Anmerkung 29) taucht der Fachausdruck auf. Die Verfasserin des Buches ist Kirsten Busch Nielsen, Professorin an der Universität Kopenhagen. Bei einem Symposium dort referierte Christiane Tietz über „The Mysteries of Knowledge, Sin, and Shame” (2007, ST2 216-234). Die Schlangenfrage „sollte Gott gesagt haben …?“ (Genesis 3,1; DBW 3, Schöpfung und Fall, 96) hakt beim Denkvermögen ein, das dem Menschen verliehen ist. Angestiftet, sich selber zu denken, was Gott gesagt haben sollte, macht das eigene Vermögen wichtig und lenkt ab von dem, der ihn als Mann und Frau geschaffen, angesehen und angesprochen hat. Sie fallen auf die Versuchung herein – „Abfall als ein dauerndes Fallen, Stürzen ins Bodenlose“ (DBW 3, 112). „Zwischen Gott und Mensch, wie zwischen Mensch und Mensch ist eine dritte Macht getreten, die Sünde.“ (DBW 1, 38) Der Teufel flüstert ein, Gott „werde es so ernst mit unserer Sünde nicht nehmen“ (DBW 15, 400; ST2 191 Anmerkung 40). In Christiane Tietz’ Beitrag zu Luthers und Bonhoeffers Auffassung von Gerechtigkeit Gottes und Rechtfertigung des Menschen (2007, ST2 186-205) klingt an, wie in Bonhoeffers Predigerseminar Finkenwalde 1935–1937 umgangssprachlich von „fertigmachen“ die Rede war: Mit uns Sündern ist’s aus, billiger als so wird der Mensch nicht fertiggestellt.

             

            Hyun Joo Kim und Christiane Tietz kamen 2018 in Kontakt, als Frau Kim – die inzwischen in einem südkoreanischen College Systematische Theologie lehrt – in der Universität von Aberdeen, Schottland, zu Bonhoeffers Hamartiologie arbeitete. Frau Kim hatte sich zuvor in Princeton, USA, vertieft in das Denken von Aurelius Augustinus (354–430) und Martin Luther, Augustinermönch ab dem 17. Juli 1505. Beider Spuren in Bonhoeffers Denken über Sünde geht sie in ihrer Habilitationsschrift nach. Augustin definierte Sünde als Entzug des Guten. Luther wusste um das in sich verkrümmte menschliche Herz, cor curvum in se. Bonhoeffer glaubte, dass in der Gemeinschaft zurecht-gerichteter Menschen, sanctorum communio, Sünde weg-ertragen werde (DBW 1, 127f). Frau Kim betont, Sünde habe auch eine ‚passive Seite‘: unterwürfiges Verhalten, das zu Mitläufern, Mit-Verfehlern macht. Bonhoeffer denke in der Tradition weiter, die aus der Position des Mannes in der nordwestlichen Welt heraus nur die ­‚aktive Seite‘ der Sünde berücksichtige, die Hybris, Selbstüberhebung. Der maskuline weiße blinde Fleck könne durch feministisches, befreiungstheologisches und außereuropäisches Denken korrigiert werden.

             

            Dennis Dietz’ Buch ist angezeigt hinten in Christiane Tietz’ Aufsatzsammelband. Seine Dissertation, Heidelberg 2018, erschien im Druck 2020 als erster Band einer neuen Reihe: Dietrich Bonhoeffer STUDIEN 1. Dietz versucht, im Durchgang durch Bonhoeffers Gesamtwerk die Hamartiologie darin zu rekonstruieren. Bonhoeffer habe in seinen studentischen Schriften, mit Luther, Sünde als ‚Offenbarungsgegebenheit‘ und in seiner Habilitationsschrift den Glauben als ‚Organon‘ zur Erkenntnis der Offenbarung aufgefasst (ST1 43 und 100). Daher der Buchtitel „Offenbarung und Glaube“. Bereits in der Studienzeit habe sich als hamartiologisches Leitmotiv, das Bonhoeffers gesamtes Werk durchziehe, „die heilsökonomischen [sic!] Funktionalisierung der Sünde“ ausgebildet (ST1 38; über sprachliche Schnitzer stolpert man im Buch öfters). Im späteren Werk behandele Bonhoeffer Harmatiologie „größtenteils ‚en passant‘“ (ST1 345 mit Anmerkung 25, in der Kirsten Busch Nielsen zitiert ist). Das Dass von Sünde ist dank der Sehhilfe Glauben erkennbar; will man ihr Was erfassen, greift man ins Leere. Sie ist facettenreich, schillert, unter anderem, zwischen Habitus und Akt: „Schlimmer ist es wenn ein Lügner die Wahrheit sagt als wenn ein Liebhaber der Wahrheit lügt“ (DBW 6, 62; ST1 370). In den Schlussbetrachtungen hält Dennis Dietz sich an die von Luther inspirierte frühe Aussage Bonhoeffers: „Gott will den Sünder.“ (1926 DBW 9, 370; ST1 42) „Gott vernichtet die Sünde nicht“ (ST1 438), sondern weise ihr bei der „Inanspruchnahme und Mitwirkung des Menschen“ an der „Wegbereitung“ für das Heil (ST1 436f) die Funktion „ihrer eigenen Überwindung“ zu (ST1 432).

            Während des Lesens solcher Ausführungen kam mir, gleichnishaft für ein leeres düsteres Faszinosum, das kosmische Phänomen „Schwarzes Loch“ in den Sinn, das sogar Licht in sich hineinsaugt und zum Verschwinden bringt. In mir wirkte wahrscheinlich die Erinnerung daran nach, wie Bonhoeffer das Erleben des Geschehens andeutet, „das die Reformation Rechtfertigung des Sünders aus Gnaden allein genannt hat“: „Der finstere, von innen und außen verriegelte immer tiefer in Abgrund und Ausweglosigkeit sich verlierende Schacht des menschlichen Lebens wird mit Macht aufgerissen, das Wort Gottes bricht herein; der Mensch erkennt zum erstenmal in rettendem Licht Gott und den Nächsten. …“ (DBW 6, 137) Letztlich ist’s mit der Sünde aus, und zwar nicht dadurch, dass sie beziehungsweise der Mensch=Sünder sich am eigenen Schopfe aus dem Schlamm zieht, nach Art der Lügengeschichte des Barons von Münchhausen (1720–1797). (it) ˜

            Ilse Tödt (it), Dr. phil., Dr. theol. h.c., seit 1961 ­nebenamtlich Kolle­giums­mitglied der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) Heidelberg.   itoedt@t-online.de

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