Theologie | Religion

Dietrich Bonhoeffer

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 3/2019

Ernst Feil: Dietrich Bonhoeffer. Leben, Werk und Wirken. Aus dem Nachlass herausgegeben von Mechthild Feil (Theologie Forschung und Wissenschaft Band 18). Münster: Lit Verlag, 2018. 206 Seiten mit 13 Abbildungen. Gebunden. ISBN 9978-3-8258-8878-7.

Ernst Feil wurde 1932 in Dorsten an der Lippe, nördlich des Ruhrgebiets, geboren. An der Universität Münster erhielt er 1963 eine Assistentenstelle bei Johann Baptist Metz, der ihn auf Dietrich Bonhoeffer aufmerksam machte. Feils Frau Mechthild war als junge Theologiestudentin auf die Briefe gestoßen, die Bonhoeffer zwischen April 1943 und Januar 1945 in der Haft schrieb und die Eberhard Bethge 1951 hatte drucken lassen: „Widerstand und Ergebung“. Während Bethge die große Bonhoeffer-Biographie verfasste und 1966 fertig stellte (Untertitel „Theologe – Christ – Zeitgenosse“, 9. Auflage 2005), erarbeitete Feil seine Dissertation „Die Theologie Dietrich Bonhoeffers. Hermeneutik – Christologie – Weltverständnis“. Für den Druck 1971 las Mechthild „mit kleinen Kindern um uns herum“ Korrektur. (Das Buch erfuhr 2014 die 6. Auflage.) Angeregt durch einen Freund, der meinte, „das Ganze“ müsse sich doch auch „in kompakter und allgemeinverständlicher Form“ ausdrücken lassen, hielt Feil fünfzig Jahre nach Bonhoeffers Tod als Theologieprofessor an der Universität München 1995 eine Vorlesung, wiederholte sie 2000, konnte sie aber nicht mehr druckfertig machen. 2012 hatte er sich „plötzlich auf der ‚Zielgeraden‘“ vorgefunden und war, einfühlsam begleitet auf der Palliativstation im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder und von seiner Familie umgeben, 2013 gestorben.

Auf Drängen von Michael J. Rainer, Cheflektor im Lit Verlag, suchte Mechthild im Nachlass, fand das Manuskript von 1995 und ließ sich auf die Mühen des Herausgebens ein. Dabei geriet sie so gründlich „in den Bann der Originaltexte“ Bonhoeffers, dass sie in den inzwischen edierten Dietrich Bonhoeffer Werken in 17 Bänden, 1999 abgeschlossen, eine Auslassung entdeckte, die niemandem aufgefallen war. (Seite 135 Anmerkung 10 zu 16,496 – auf diese Weise, kursiv, zitiert Mechthild die DBW-Bände: nach „sie [die Gemeinde] braucht“ fehlt ‚eine mündige Erkenntnis des Wortes Gottes. Theologie ist‘ „ein Hilfsmittel“). – Soweit zu Mechthild Feils Vorwort 2018 (1-5). Ernst Feils Vorwort zur Vorlesung (183-188), eine Betrachtung des Bonhoeffer-Gedenkens in der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten, endet mit Zitaten aus einem Beitrag in einer überregionalen Tageszeitung vom April 1995, wie ein akademischer Theologe einen anderen akademischen Theologen abkanzelt; der Abgekanzelte ist Bonhoeffer. Feil hat seine Überzeugung, was recht sei oder nicht, anders Überzeugten gegenüber nie diplomatisch zu verbrämen gesucht.

Einleitend (189-194) führte Feil die Studierenden in die Welt des beginnenden 20. Jahrhunderts ein. Das kleindeutsche Kaiserreich seit 1871 endete, den europäischen Großmächten unterlegen, mit dem Ende des Weltkriegs 1914–1918. Die evangelischen Landeskirchen verloren ihre Anbindung an den politischen Landesherrn als Summ­ episcopus und mussten im „institutionellen Vakuum“ neu nach Ordnung tasten. Bis 1914 beflügelte der immense Zuwachs an Verfügungswissen, das die Naturwissenschaften bereitstellten, Fortschrittseuphorie. Aber neben Eigenmachts-Sicherheit trat Untergangsstimmung: Paul Anton de Lagarde (1827–1891), der „gerade für die Bismarckzeit einen zunehmenden Verfall“ diagnostizierte, fand „beträchtliche Resonanz“ durch sein „Setzen auf Religion, und zwar eine deutschtümliche, nationale Religion“. Dem hat Mechthild aus Ernst Feils Geleitwort von 2005 zur 5. Auflage seiner Dissertation zwei Seiten hinzugefügt (195f). Dass Bonhoeffer in seiner ersten Vorlesung an der Universität Berlin 1931/32 11,145.172 de Lagardes Auffassung von „Religion“ erwähnt, sei ihm, Feil seit 1987 bekannt; er bedauere, diesen Zusammenhang nicht vermerkt zu haben, als er Bonhoeffers Vorlesung für den Druck in Band 11 prüfte. Feil war einer der Gesamtherausgeber der DBW-Ausgabe, die er angeregt hatte; er achtete darauf, dass die Bandherausgeber DBW-Zitate stets datierten. Die Entwicklung des religio-Begriffs verfolgte Feil in vier gewichtigen Bänden 1968, 1991, 2001, 2007. Davon, dass das 1750 beginnende religio-Verständnis in Bonhoeffer Zeit zu Ende ging, ist Feil überzeugt; Bonhoeffer habe sich nicht geirrt, als er am 30. April 1944 8,403 schrieb: „Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen“. Von Bonhoeffers leiblichem Leben verlor sich gegen Ende des Zweiten Weltkriegs jede Spur; ein Grab gibt es nicht (7f). Erträge des geistigen Lebens Bonhoeffers wollte Feil den Studierenden – und, wie er hoffte, künftigen Lesern (2) – nahebringen, indem er Lebensgang und Theologisches, in Phasen gegliedert, erzählt.

1. Aufwachsen und Studium bis zur Dissertation 4. Februar 1906–1927 (9-23), 2. Vikariat in Barcelona, Habilitation, Studienaufenthalt in den USA 1928–1931 (25-42), 3. Ökumene-Tagungen ab 1931, Studentenpfarramt und Lehrtätigkeit in Berlin 1932/33 (43-53) und 4. nach Hitlers Machtantritt 1933 (55-70), 5. Pfarramt in London Herbst 1933–1935 (71-83), 6. in Pommern ab Sommer 1935 Theologenausbildung für die Bekennende Kirche bis zur polizeilichen Schließung 1937 (85-112) und 7. getarnt weiter bis 1940 (113-123), 8. Mitwisserschaft in der Konspiration gegen Hitler, Reisen ins neutrale Ausland zum Bericht über den innerdeutschen Widerstand (125–155), 9. in Haft ab April 1943, mit weiteren an Attentatsversuchen auf Hitler Beteiligten am 9. April 1945 gehängt (157-181).

Im Manuskript ist vermerkt, was Feil „Noch ergänzen“ wollte (29, auch 101, ähnlich 42, 55, 66, 83, 101). Zu 1: Vor 1920 stand fest, dass Bonhoeffer Theologe werden wollte. Als Glied der evangelischen Kirche wurde er 1921 konfirmiert. Als junger Theologiestudent erlebte er in Rom katholische Gottesdienste. Tagebucheintrag zum 13. April 1924 9,89: „Der Tag war herrlich gewesen, der erste Tag, an dem mir etwas Wirkliches vom Katholizismus aufging … ich fange, glaube ich, an, den Begriff ‚Kirche‘ zu verstehen.“ Seine Dissertation über die „Sanctorum Communio“ reichte er 1927 an der Universität Berlin ein; er hatte die „Gemeinschaft der Heiligen“ im Hinblick auf ihre soziologische Ordnung untersucht.

Sogleich fällt das Leitwort für Feils Anliegen, das alles Weitere durchzieht: konkret. Das Buch enthält nur ein Namenregister (203-206), kein Sachregister; in der PDF-Ausgabe ISBN 978-3-643-34228-7 wird durch Suchlauf nach konkret / concret aufzufinden sein, was Feil wichtig ist. Er zeigt auf, wie klar Bonhoeffer darlegt: Was Theologie reflektiert, ist in Zeit und Raum „konkrete Realität“ (19). Zu 2: Bonhoeffers Habilitationsschrift „Akt und Sein“, fertiggestellt Ende Februar 1930, argumentiert 2,23 u.ö. mit einem Begriffspaar aus der altprotestantischen Dogmatik: actus directus / actus reflexus. Den direkten Akt ‚Glaube‘ – „menschliche Existenz (als getroffene)“ 2,120 – kann Re-Flexion, Nach-Denken, nicht erreichen (32f). Zu 3: Im Vortrag am 26. Juli 1932 auf einer Jugendkonferenz der protestantischen Ökumene in der Tschechoslowakei sagte Bonhoeffer, 11,334: „Die Wirklichkeit ist das Sakrament des Gebotes.“ Das Wasser des Tauf-Sakraments und Brot und Wein des Abendmahl-Sakraments symbolisieren die Konkretheit der Zusage der Sündenvergebung. Zur Verkündigung des Gebotes, die der Kirche mit dem Evangelium aufgetragen ist, gehört das Aufzeigen ‚tatsächlicher‘ Wirklichkeit. 11,332: „Die Kirche muß hier und jetzt aus der Kenntnis der Sache heraus in konkretester Weise das Wort Gottes, der Vollmacht, sagen können … was ‚immer‘ wahr ist, ist gerade ‚heute‘ nicht wahr: Gott ist uns ‚immer‘ gerade ‚heute‘ Gott.“ Hier in der Tschechoslowakei jetzt Versammelte wagen vernommen zu haben, 11,338: „Die Ordnung des internationalen Friedens ist heute Gottes Gebot für uns.“

Zu 5: Der Welt eben das zu hören zu geben appellierte Bonhoeffer während der Ökumene-Tagung auf Fanø am 28.8.1934 an das „große ökumenische Konzil der Heiligen Kirche Christi“, 13,301 (82). Angesichts der Gefahr durch Hitlers Willen zum Krieg ist konkret geboten, im ‚Vorletzten‘ eine Frieden erhaltende Ordnung einzurichten – ‚letzt‘-gültigen Reich-Gottes-Frieden schaffen Menschen nicht (80).

Eingriffe des nationalsozialistischen Regimes hatten Strukturen der evangelischen Kirchen zerschlagen. Auf der Basis der Theologischen Erklärung der Reichsbekenntnissynode in Barmen am 29./31. Mai 1934 beschloss die Bekennende Kirche am 9./20. Oktober 1934 in Dahlem, sich ein Not-Recht und Not-Organe zu geben, sich neu zu ‚organ‘isieren als ‚Körper‘schaft (76).

Zu 6: Eine ‚unsichtbare‘ Kirche hätte der „sichtbaren Deutschen Reichskirche und ihren NS-Sachwaltern nichts entgegenzusetzen“ gehabt (102); die sichtbare Bekennende Kirche, die sich der ‚Gleichschaltung‘ mit dem Staat verweigerte, wurde von diesem in der Tat als gegnerisch gesehen und bekämpft.

Die Bekennende Kirche richtete ab Herbst 1934 Predigerseminare ein, die am 2. Dezember 1935 – mitsamt allem von der BK Eingerichteten – verboten wurden (91). Bonhoeffer, zum Leiter eines der fünf Seminare der BK der Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union berufen, führte dennoch fünf Halbjahreskurse vom 26. April 1935 bis zum 28. September 1937 durch. Befremdlich für Protestanten war sein Einweisen in Schriftmeditation, Gebetsschulung und Praktizieren von Beichte und Abendmahl. Im Bruderhaus lebte er mit einer Gruppe von Theologen als Kommunität (88f). Sein Buch Nachfolge wurde im Advent 1937 veröffentlicht. Im Schlusskapitel „Das Bild Christi“ ist Umgestaltung in „die ganze Gestalt“ Jesu Christi hinein deutlich abgesetzt gegen Gleichschaltung mit dem Führer-Idol, 4,301f (111).

Zu 8: Am 18. März 1940 schloss die Geheime Staatspolizei das letzte Versteck der von Bonhoeffer geleiteten Theologenausbildung tief in den hinterpommerschen Wäldern. Ruth von Kleist-Retzow geborene Gräfin von ZedlitzTrütschler hatte Bonhoeffer gern als Gast auf ihrem Gut Kieckow; Feil lokalisiert den Ort: „etwa 120 km nordöstlich von Stettin und 30 km vor Köslin“ (129). Auf dem Gut begann Bonhoeffer im September 1940 mit dem Verfassen einer „konkreten evangelischen Ethik“, 16,410. „Gleichgestaltung“ wird betont (154). „Handeln aus Verantwortung“ geht „in Entsprechung zum ‚actus directus‘“ über das hinaus, „was wir denkend letztlich klären können“ (145).

Zu 9: Am 17. Januar 1943 Bonhoeffer verlobten sich, schriftlich, Ruth von Kleist-Retzows Enkelin Maria und Bonhoeffer. Am 5. April 1943 wurde Bonhoeffer ins Wehrmachtuntersuchungsgefängnis Tegel verbracht. Im geschmuggelten Briefwechsel mit dem Freund Eberhard Bethge fragte er am 30. April 1944 8,403f: Ist religio eine „vergängliche Ausdrucksform des Menschen“ in der Geschichte, Christentum eine Form von religio und somit vergänglich, oder ist seine „westliche Gestalt“ nur ein zu wechselndes „Gewand“? (167)

Nach dem am 20. Juli 1944 gescheiterten letzten Attentatsversuch auf Hitler ging Bonhoeffer daran, im Vorblick eine Neugestaltung von Kirche zu bedenken (‚Entwurf für eine Arbeit‘ 3.8.44 8,556-561). Im Mai 1944 hatte er im Taufbrief für Eberhard Bethges Sohn Dietrich geschrieben, 8,435f: „Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muss neugeboren werden“, die „Gestalt der Kirche“ wird sich verändern müssen, „ …aber es wird Menschen geben, die beten und das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten“ (174f).

Mechthild Feil hat an den Schluss des Buches die Ansprache von Christiane Tietz auf der Beerdigung von Ernst Feil am 19. März 2013 gestellt (197-199). Frau Tietz sprach als Nach-nach-nachfolgerin Feils, der 1973–1978 der erste Vorsitzende der Sektion Bundesrepublik Deutschland des Internationalen Bonhoeffer Komitees war. „Ich habe Ernst Feil Anfang der 90er Jahre auf meiner ersten BonhoefferTagung kennengelernt.“ Seither fühle sie sich von ihm begleitet. „Davon lebt man als junge Wissenschaftlerin.“ Ich, it, begegnete Feils in den 1970er Jahren. Dank dieser Begegnung traute ich mich, präziser auf das concretissimum zu achten, das Geheimnis bleibt, ‚Mystik‘ genannt wird und im 19. Jahrhundert aus protestantischer Theologie verbannt wurde (Feil 192).

Ernst Feil war katholischer Theologe im Laienstand, also keine „priesterliche Gestalt“ (die Bonhoeffer auch nicht werden wollte, 21. Juli 1944 8,542), und musste kirchlich ‚unten‘ bleiben. Wolfgang Huber (1942, zehn Jahre später als Feil, geboren) geriet kirchlich nach ‚oben‘ und musste mit ‚prominentem‘ Vor-Ragen zurechtkommen. Beides ist nicht leicht.

 

Wolfgang Huber: Dietrich Bonhoeffer. Auf dem Weg zur Freiheit. Ein Portrait. München: C.H. Beck, 2019. 336 Seiten mit 25 Abbildungen. Gebunden. ISBN 978-3-406-73137-2. € 26,95

Das „Portrait“ eröffnet Wolfgang Huber im Prolog (9-38) mit einer Skizze des Gesamtverlaufs von Dietrich Bonhoeffers Leben. (Auf Seite 25 stellt sich die Frage: Was tat Bonhoeffer in der Wochenhälfte, die er nicht im hinterpommerschen Mini-Dorf Groß-Schlönwitz verbrachte? Die Zeittafel 303-312 klärt auf, 307: Er hatte 1937–1940 die meiste Zeit an zwei Orten zu lehren.) Von seinem Denken auf dem Lebenswege hat Bonhoeffer Rechenschaft abgelegt. Vieles Schriftliche ist erhalten geblieben. Am vorletzten Tag seines Lebens, am Sonntag Quasimodogeniti, ‚Wie die neugeborenen Kindlein‘, prägte Bonhoeffer einem Mithäftling eine Botschaft an den väterlichen Freund George Bell, Bischof von Chichester, ein: „…this is for me the end, but also the beginning…“. Huber legt aus: Was für ihn das Ende war, wurde der Beginn weltweiten Hörens auf ihn (30, 33f). Im Epilog (279-300) schildert Huber die Resonanz auf den Kontinenten der Erde, zum Beispiel in Südafrika; der alle vier Jahre stattfindende Internationale Bonhoeffer-Kongress war 1996, nicht lange nach dem Ende der Apartheid, in Kapstadt und wird 2020 in Stellenbosch sein. Die Dietrich Bonhoeffer Werke 1 bis 17 liegen seit 1999 auf Deutsch, seit 2014 auf Englisch vor, und Teile seines Werks sind „in mindestens siebenundzwanzig Sprachen“ erschienen. (281f)

Zwischen Pro- und Epilog behandeln zehn Kapitel Themen, die Bonhoeffers Lebenswelt ihm Anlass gab zu bedenken: Bildung (39ff), Kirche (61ff), „Billige oder teure Gnade“ (87ff), Bibel (109ff), Frieden (129ff), Widerstand (161ff), „Mut zur Schuld“ (185ff), „Verantwortungsethik“ (209ff), Religion (233) und „Polyphonie des Lebens“ (257ff).

Ernst Feil berichtet im Zeit-Nacheinander, Wolfgang Huber auf Schwerpunkte zentriert. Er lädt ein zur Begleitung Bonhoeffers bei Erkenntnisreisen in Themenbereichen. Huber formuliert klar, knapp, kritisch und vielseitig kundig im Raum der Bonhoefferforschung und weit hinaus, eine Weite, die er bei Bonhoeffer würdigt: „Seine Neugier erlahmte nicht“, in „Provinzialität“ fühlte er sich beengt (57, 281). Beim Überlegen, ob auch in Hubers Bonhoefferbuch, wie dem von Ernst Feil, ein Leitwort auftrete, kam mir „Ruf“ / „Berufung“ in den Sinn. Das Wortfeld erscheint nicht kontinuierlich, aber wiederholt, und bei „Verantwortungsethik“ fällt es auf.

Schon in der Kindheit klingt an: Bonhoeffer gehörte durch seine Herkunft zu einer Bildungselite, in der „man sich früh einer besonderen Berufung bewusst war“ (11; 13: Foto des Elfjährigen).

„Ruf“ begegnet (134) im Vortrag „Grundfragen einer christlichen Ethik“, den Bonhoeffer als Vikar in Barcelona der Gemeinde Auslandsdeutscher am 8. Februar 1929 hielt. Ich, it, schlug nach: „Das christlich ethische Handeln ist ein Handeln aus Freiheit“ – „ohne irgendwelche Rückendeckung vor Gott und vor der Welt“. „Erst durch den Ruf Gottes werde ich ‚Ich‘, isoliert von allen anderen, von Gott zur Verantwortung gezogen“. „Gott schuf die Völker“. „Jedes Volk aber hat einen Ruf Gottes in sich Geschichte zu gestalten“. „Gott ruft das Volk zur Mannigfaltigkeit“ – ich stutzte. Sehr wahrscheinlich wird in Bonhoeffers Sütterlin-Handschrift da „Mannhaftigkeit“ gestanden haben. Also: „…zur Mannhaftigkeit, zum Kampf und Sieg“. Sollte ein „Volk nicht diesem Rufe folgen dürfen, auch wenn es über das Leben anderer Völker hinweggeht?“ (10: 330339). Huber, „erschreckend“: Nach solchen „Ideen von 1914“ führt Gottes Ruf jedes Volks-(Gesamt-)Ich unentrinnbar in gegenseitigen Vernichtungskrieg. Wenig später erklärte Carl Schmitt, der zum „Kronjuristen“ des nationalsozialistischen Regimes aufstieg, die Freund–Feind-Unterscheidung „zum Wesen des Politischen“ (134f). Adolf Hitler, geboren im Erscheinungsjahr 1889 des Romans Bertha von Suttners „Die Waffen nieder“ (131), hatte 1924 im Programmbuch „Mein Kampf“ seinen Willen zum Krieg erklärt. Dass Krieg vorbereitet werden würde, zeigte sich schon kurz nach Hitlers Machtübernahme 1933. Kurz davor hatte das Erschrecken über einen Ruf in den Völkerkrieg Bonhoeffer selber gepackt. Im August 1934 auf Fanø rief Bonhoeffer – mit Psalm 85,9 „Ach daß ich hören sollte, was der Herr redet, daß er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen“ – der Versammlung „Gottes Ruf zum Frieden“ zu und forderte Mut, Frieden zu wagen, ohne sich zur Wehr zu setzen. „Das ökumenische Konzil ist versammelt, es kann diesen radikalen Ruf zum Frieden an die Christusgläubigen ausgehen lassen. Die Völker warten darauf im Osten und Westen. Müssen wir uns von den Heiden im Osten beschämen lassen?“ (13: 298-301) Die von Bonhoeffer 1934 ausgerufene „unerhörte Zumutung blieb unerhört“ (Huber zitiert Hans-Richard Reuter). Aber der Hindu Gandhi, der als Rechtsanwalt in BritischSüdafrika die Bergpredigt kennen gelernt hatte, übte in Indien gegen britisches Kolonialrecht zivilen Ungehorsam ohne Waffen-, ja ohne jede Gegen-Gewalt-Anwendung ein „mit weltgeschichtlichen Folgen“. 1947 wurde Indien unabhängig, im Januar 1948 Gandhi, der ‚geistliche Politiker‘, ermordet. (144-149)

Bei der Lektüre von Hubers Buch war ich gerade in diesem Abschnitt, als ich am 5. März 2019 einen Brigadegeneral a.D. wiederholen hörte: si vis pacem, para bellum. Er berief sich auf Joel 3,10 „Schmiedet eure Pflugscharen zu Schwertern“ als Gegenaussage zu Jesaja 2,4, dass Völker „ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden“ werden. Ich fragte mich: Unterläuft nicht ein Denkfehler, wenn geraten wird, etwas anderes vorzubereiten als das, was man will, pax?

Aus der Friedensdenkschrift 2007 der Evangelischen Kirche in Deutschland erwähnt Huber vier Komponenten möglicher Vorbereitung von Frieden (155): Eindämmung von Gewalt, Linderung von Not, Bestärkung von Freiheit, Würdigung von Verschiedenheit. Die ersten drei waren in der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST, Heidelberg) um 1970 unter Mitwirkung Hubers im Kollegium kommunikativ konzipiert worden; 2003–2009 war Huber Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Ein „Ruf“, der Selbstherrlichkeit zerknirscht, stand 1935– 1937 in Bonhoeffers Lehre im Zentrum: Ruf in die Nachfolge. Jesus berief Jünger aus bisherigen Tätigkeiten heraus auf einen Weg ins Ungewisse. „Hinter ihm hergehen, das ist etwas schlechthin Inhaltloses“, 4: 46. Dabei bekommt ‚Rechtfertigung‘ die Betonung ‚recht fertig gemacht‘, 4: 272; 14: 606. Gott war sein in die Welt geborener Sohn nicht zu teuer, ihn in der Welt am Kreuz ‚fertigmachen‘ zu lassen. Dem Nachfolgenden darf sein geborenes Leben nicht so teuer sein, dass er es behalten will und Schaden an seiner Seele nähme, Markusevangelium 8,34-37. Aus Sich-nehmen-lassen wird versöhntes neues Auferstehungs-Leben. (94-96)

Ich wurde an eine Stelle in Hannah Arendts Dissertation zum „Liebesbegriff bei Augustin“ erinnert, die mich verwunderte (2018, 43): unde beata sit sancta anima (In Ioannis Evangelium tractatus 23,5) – woher selig sei sancta anima. Hält Augustin die Seele für das ‚heilig‘-Seiende im Menschen? Nein, er meint infirma anima heil gemacht, saniert.

Im exegetischen Buch „Nachfolge“ 1937 handelte Teil I von Jesu Ruf an die Jünger, Teil II vom Ruf in die Gemeinschaft mit Christus als Kirche in der Welt. In Manuskripten für eine Ethik ab 1940 nimmt Bonhoeffer, wie im Gemeindevortrag 1929, die Geschichte in den Blick. Er bedenkt das „Wirklichwerden der Offenbarungswirklichkeit Gottes in Christus“ (6:34), „wie Christus unter uns heute und hier Gestalt gewinne“ (6: 87). An die Stelle, wo der Begriff Nachfolge stand, tritt der Begriff Verantwortung. 1937 zu Matthäus 6,3f ‚verborgen bleiben‘ in der Bergpredigt-Auslegung, 4: 155: „…das Gute in der Nachfolge geschieht ohne Wissen“, 1942 im Ethik-Manuskript „Die Geschichte und das Gute“, 6: 285: „Das Gute als das Verantwortliche geschieht in der Unwissenheit um das Gute“ – „Ruf“ in die Verantwortung angesichts des Laufs der Welt. „Man kann Bonhoeffers Ethik als die erste theologische Verantwortungsethik bezeichnen.“ „Grundlegend ist der Ruf Christi, auf den der Mensch antwortet.“ Bonhoeffer betrachtet „nicht nur die Verpflichtungen in Arbeit und Familie, sondern auch in Politik und Kirche im Licht der Verantwortung vor Gott“, vier „Mandate“. Diese sind nach Bonhoeffers Auffassung durch ein Oben und Unten strukturiert: der Meister steht über dem Lehrling, die Obrigkeit über dem Untertan. So ‚antiquiert‘ das klingt, es ist „durch und durch antitotalitär“. Die Autorität des Amtes in einem mitmenschlichen Bereich kann der Amtsinhaber sich nicht zuziehen, indem er als ‚Führer‘ die Geführten auf sich als die Höchst-Instanz bezieht. „Die echte Ordnung des Oben und Unten lebt aus dem Glauben an den Auftrag von ‚oben‘, an den ‚Herrn‘ der ‚Herren‘“, 6:396. (217-224)

Aus den Überlegungen für eine Ethik gingen kurze Texte hervor, die Bonhoeffer Ende 1942 zusammenstellte und der Familie und Freunden im konspirativen Widerstand übergab, 8: 19-39: Rechenschaft „Nach zehn Jahren“, zehn Jahre nach der auch sein Leben herumwerfenden Wende zu 1933 (cf. 274, 291). 8: 23f: „Wer hält stand?“ – „…der Verantwortliche, dessen Leben nichts sein will als eine Antwort auf Gottes Frage und Ruf. Wo sind diese Verantwortlichen?“ „Civilcourage?“ – Verantwortung vor „Gott, der das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert“. Zivilist im Unterschied zum waffenbewehrten Krieger ist der Unbewaffnete, wie in Gandhis zivilem Ungehorsam. Unabgesichertes zu tun ist „Ernstfall der Freiheit“. Bonhoeffer schreibt während seiner Teilnahme am Widerstand an einer „Verantwortungsethik, die zugleich eine Ethik der Freiheit ist“. (230f) Gottes Gebot „gebietet“ die Freiheit, 6: 386 (cf. 215). Es gilt, nach verantwortlicher kommunikativer Urteilsfindung über ‚gebotenes‘ Verhalten in gebotener Freiheit sich ans Tun zu wagen und sich und seine Tat auszuliefern „an Gott, der das Herz ansieht, der die Taten wiegt und die Geschichte lenkt“, 6: 285. Die Überlegungen zu Mündigkeit und Religion, die Bonhoeffer in Briefen aus dem Gefängnis anstellt, sind von faszinierender „Radikalität“, von „atemberaubender Kühnheit“ (234, 256). Unter solchen „revolutionären Thesen“ würde man „ein so schlichtes Thema wie das Gottvertrauen“ kaum vermuten (180). Aber Bonhoeffer weiß dankbar um das Gehaltenwerden durch ‚die Freiheit‘ „selbst“ (Ende des Gedichts „Stationen auf dem Wege zur Freiheit“ August 1944 8: 572). „Ein Brief an Eberhard Bethge vom 21. Juli 1944 – unmittelbar nach dem gescheiterten Attentat geschrieben – endet mit dem schlichten Satz: ‚Gott führe uns freundlich durch diese Zeiten; aber vor allem führe er uns zu sich.‘“ (182, 6: 543)

Bonhoeffers theologisches Denken ist über die ‚ethische‘ Existenz hinaus offen für die ‚ästhetische‘ des schönen Spiels. (221, 229) Hubers letzte Zentrierung auf Bonhoeffer und die Musik (259ff) ist einfach schön zu lesen: wie sich bei Bonhoeffer „Ethik und Ästhetik“, ja „Glauben und Kunst“ verbinden (272).

Im „Dank“ (301f) widmet Wolfgang Huber dieses Buch der Erinnerung an Heinz Eduard Tödt (1918–1991), seinen „Lehrer“. Tödt wagte sich an die Friedensforschung und andere Zukunftsaufgaben, nachdem er im Krieg und in russischer Gefangenschaft viel riskiert hatte; seine Erinnerungen bis 1950 werden in Ernst Feils Buch vom Verlag angezeigt auf Seite 207: „Wagnis und Fügung“ 2012. (it) ˜

Ilse Tödt (it), Dr. phil., Dr. theol. h.c., seit 1961 ­nebenamtlich Kolle­giums­mitglied der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) Heidelberg.

itoedt@t-online.de

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