Geschichte

Georg Forster: Ansichten vom Niederrhein

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 1/2018

Georg Forster: Ansichten vom Niederrhein – von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790. Mit einem Vorwort von Jürgen Goldstein. Die Andere Bibliothek, Berlin, 1. Auflage 2016, 480 S., illustriert durch 54 Kunstwerke und zeitgenössische Stiche, Folioband, Fadenheftung, ISBN 9783847700180. € 79,00

„Mein Kopf ist leer, ich weiß der Welt nichts Eigenes mehr zu sagen“, schrieb Georg Forster (1754–1794) im November 1789 an seinen Freund Fritz Jacobi. Da war er gerade ein Jahr in Mainz, wo er mit viel Hoffnung die Stelle des Universitätsbibliothekars angenommen hatte, nachdem er Wilna, „die sarmantische Wildnis“, verlassen hatte. Aber all seine Erwartungen und Hoffnungen wurden durch die „Malignität der Intoleranz“ im Kurfürstentum Mainz enttäuscht.

Forster, der schon als junger Mann mit Captain Cook die Welt umsegelt hatte (1772–1775) und mit seiner grandiosen Reisebeschreibung A Voyage Round the World zu Ruhm und Ehre gelangt war, der glänzende Naturforscher, Ethnologe, Autor, Übersetzer und enthusiastische Aufklärer fühlte sich durch die „mechanischen Arbeiten“ in der Bibliothek geknebelt − körperlich und seelisch ausgebrannt. Hinzu verlief seine Ehe mit Christian Gottlob Heynes Tochter Therese unglücklich. Er brauchte eine geistige Erfrischung, sehnte sich nach neuen Eindrücken, nach „Schwingungen des Gehirns“, aber seine persönlichen Verhältnisse und Finanzen erlaubten keine neuerliche Expedition in exotische Gefilde.

In dem noch jungen Alexander von Humboldt (1769–1859), der gerade eine Studie über Basalte am Rhein veröffentlicht hatte und den weitgereisten Forster verehrt, findet er einen aufgeschlossenen Begleiter für eine dreimonatige Reise entlang des Niederrheins, die über Boppard, Andernach, Köln, Düsseldorf, Aachen, Lüttich, Löwen, Brüssel, Lille, Antwerpen, Haag nach Amsterdam und Hoelvetluis, dann über den Kanal nach London, Windsor, Slough, Richmond und durch das Innere von England und schließlich zurück über Dover, Calais nach Paris führt. Forsters überwiegend in Briefform verfasster Bericht seiner Europareise entbehrt zwar der exotischen Faszination seiner ‚Reise um die Welt‘, aber auch für dieses Buch gilt, was Friedrich Schlegel über den Schriftsteller Georg Forster gesagt hat: „Man legt fast keine seiner Schriften aus der Hand, ohne sich nicht bloß zum Selbstdenken belebt und bereichert, sondern auch erweitert zu fühlen“ (in Schlegel: Georg Forster als Klassiker).

Die ‚Ansichten vom Niederrhein‘ sind kein trivialer geografischer Reisebericht, keine simple topografische Schilderung heimischer Landschaften, wie der schlichte Titel suggeriert. Es geht um weit mehr als um die Beschreibung von Natur, Landschaften und kulturellen Attraktionen. Die Ansichten umfassen – in der Doppeldeutigkeit des Begriffs – auch Forsters tiefgreifende Reflexionen über die politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse in den bereisten Staaten zur Zeit, in der Frühphase der Französischen Revolution, in der die Rufe nach Abschaffung des feudal-absolutistischen Ständestaats immer lauter wurden.

Forster, der skeptische Aufklärer, der sich den Idealen der Freiheit, Gleichheit und Humanität verpflichtet sieht, erweist sich als scharfsinniger Beobachter. Er nimmt die sich abzeichnenden gesellschaftlichen Umbrüche mit wachem Blick wahr und vermischt sie in erzählerischem Briefstil mit naturwissenschaftlichen Beobachtungen und philosophischen Betrachtungen über Landessitten, Kunst und Architektur. Der winterliche Rheingau hat für ihn „wegen der krüppelhaften Figur der Reben […] etwas Kleinliches“ (S. 31), und in Bacharach und Kaub beklagt er „eine Reihe ärmlicher, verfallener Häuser“, die von der „Unthätigkeit und der Armuth der Einwohner“ in diesem „engeren, öderen Theile des Rheintals“ (S. 36) zeugen. Auf dem Ehrenbreitstein vermögen Forster weder die weite Aussicht noch die martialischen Gerätschaften „für den abscheulichen Eindruck entschädigen, den die Gefangenen dort auf mich machten, als sie mit ihren Ketten rasselten und zu ihren räucherigen Gitterfenstern hinaus einen Löffel steckten, um dem Mitleiden der Vorübergehenden ein Almosen abzugewinnen“ (S. 41).

Zwischen Bonn und Köln diskutiert Forster das zwischen Neptunisten und Plutonisten heiß umstrittene mineralogische Problem der Entstehung von Basalt: „Wenn nun aber der Basalt nicht Lava ist, wie entstand er dann? Aufrichtig gesagt, ich weiß es nicht.“ (S. 53). Und im nächsten Kapitel äußerst er sich über die Ästhetik der gotischen Architektonik, über „[d]ie Pracht des himmelan sich wölbenden Chors“ des damals noch turmlosen Kölner Domes und dessen „majestätische Einfalt, die alle Vorstellung übertrift“ (S. 58). „Das finstre, traurige Kölln“ (S. 65) haben Forster und v. Humboldt recht gern verlassen. „Nirgend erscheint der Aberglaube in einer schauderhafteren Gestalt als in Kölln“ (S. 69), wo der Reliquienkult blühte und die freie Religionsausübung untersagt war. Forster bemängelt, dass trotz des Reichtums vieler Familien das Straßenbild durch „Schaaren von zerlumpten Bettlern“ (S. 65) geprägt war, ganz anders als z.B. in Frankfurt, und er beklagt die „Kleingeisterei der Fürsten […], die mit unermüdeter Sorgfalt in eines jeden Bürgers Topf gucken, oder sich gar um seine Privatmeinungen und Gedanken bekümmern“ (S. 72).

In Düsseldorf besucht er die Kunstgalerien, um „meine Augen und meinen Sinn zu erquicken“ (S. 74). Zwar fordert er von einem Kunstwerk keine absolute Vollkommenheit, aber ein Kriterium muss erfüllt sein, „der Künstler, der nur für Bewunderung arbeitete, ist kaum noch Bewunderung werth“ (S. 78). Rubens, „den Ajax unter den Malern“ (S. 79), möchte er zwar gern bewundern, aber dessen Malerei fasziniert ihn einfach nicht: „Er verwechselt […] Seelenausdruck mit Leidenschaft; anstatt uns beim Gefühl zu fassen, deklamirt er uns vor“ (S. 83). Als er in der Akademie der Künste erfährt, dass die Formen, in denen die Abgüsse der antiken Statuen gegossen wurden, „zerschlagen und zum Straßenbau verwendet“ wurden, ist er fassungslos: „Nun sage mir einer, ob wir nicht noch die alten Barbaren sind!“ (S. 123). Der Reisebericht der Fahrt nach Aachen enthält linguistische und anthropologische Beschreibungen und politische Einlassungen zu den vorgefundenen sozialen Verhältnissen in der Stadt der Tuchfabriken. „Die Straßen von Aachen wimmeln von Bettlern, und das Sittenverderbniß ist, in der geringeren Volksklasse zumal, […] allgemein“. Forster kritisiert „die so gänzlich verfehlte Administration“, die „auch dem blödesten Auge sichtbar“ ist (S. 133). Es gärt in Europa und je weiter Forster gen Westen fährt, nach Brabant, Flandern, Holland und England, umso stärker reflektiert er die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, denn überall in den Wirtshäusern wurde „von den Rechten der Menschheit“ (S. 154) politisiert. Forster stimmt rebellisch mit ein, wenn er fordert, „die große Masse der fürstlichen Automaten, des ungebildeten und ausgearteten Adels, der juristischen Tröpfe, der Theologen, die ihre Dogmatik nur auswendig wissen, [gehörte] zu den ersten, denen man Stillschweigen gebieten müßte“ (S. 155). Seine Sympathie für freiheitssuchende Revolutionäre ist offensichtlich, und so verwundert es nicht, dass Forster nach seiner Rückkehr aus Frankreich zu den Protagonisten der nur von März bis Juli 1793 währenden Mainzer Republik zählte. Die erfolgreiche Konterrevolution versperrte Georg Forster, der als Mainzer Abgeordneter des französischen Nationalkonvents nach Paris gereist war, die Rückkehr nach Mainz. Mittellos, von seiner Frau verlassen, völlig ausgebrannt und erschöpft, stirbt Forster am 10. Januar 1794, noch keine 40 Jahre alt. Die Ansichten vom Niederrhein blieben unvollendet.

Mit dem hier vorliegenden großformatigen, reichhaltig illustrierten und mit einer umfangreichen Anmerkung zur ‚Entstehungsgeschichte‘ versehenen Band hat ‚Die Andere Bibliothek‘, die 1984 von Hans Magnus Enzensberger und dem Verleger und Buchgestalter Franz Greno begründete „Schönste Buchreihe der Welt“ (lt. DIE ZEIT), dem einst hoch gerühmten Forschungsreisenden, Weltbürger und Revolutionär Georg Forster ein weiteres Denkmal gesetzt. Denn bereits 1996 erschien im selben Verlag die von Ulrich Enzensberger verfasste Biografie Georg Forster – Ein Leben in Scherben (1996), und 2007 folgte Forsters weltberühmtes Werk Reise um die Welt als Prachtband.

Das stilistisch elegant verfasste Vorwort zu Forsters Ansichten stammt von dem Koblenzer Philosophen Jürgen Goldstein, dem Autor der preisgekürten Forster-Biografie Georg Forster. Zwischen Freiheit und Naturgewalt (Matthes & Seitz, 2015, vgl. Rezension in FBJ 6/2015, S. 76-77). Die beeindruckende ästhetische Gestaltung des Foliobandes besorgte Paulina Pysz, die für den Druck die erste deutsche klassizistische Antiqua auswählte, die Schrifttype, die 1790, also zeitgleich mit Forsters Europareise, von dem Jenaer Schriftgießer Johann Carl Ludwig Prillwitz entwickelt wurde.

Friedrich Schlegel schrieb 1797 in seinem Nachruf auf Forster: „Seine Werke verdienen ihre Popularität durch die echte Sittlichkeit, welche sie atmen.“ Möge der prächtige Band nicht nur dekorativ in Regalen repräsentiert, sondern auch aufmerksam gelesen werden, denn Forsters Gedanken zu Freiheit und Demokratie sind zeitlos. (wh)

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