Kulturwissenschaften

KULTURWISSENSCHAFTEN

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 1/2021

Elisabeth Décultot, Jana Kittelmann, Andrea Thiele u. Ingo Uhlig (Hrsg.), WELTENSAMMELN Johann Reinhold Forster und Georg Forster. Aus der Reihe Das achtzehnte Jahrhundert – Supplementa, Bd. 27, 280 S., 58, z.T. farbige Abb., geb., Schutzumschlag, Wallstein-Verlag, Göttingen, 2020, ISBN 978-38353-3618-6, € 29,90.

Im Juli 1772 brach die HMS Resolution unter ihrem legendären Kapitän James Cook (1728–1779) in Plymouth zur zweiten Südsee-Entdeckungsfahrt auf. Mit an Bord waren der hochgebildete, polyglotte Pastor und Naturforscher Johann Reinhold Forster (1729–1798) und sein damals erst 17-jähriger Sohn Georg (1754–1794), der seinem Vater als begnadeter Zeichner beim Sammeln und Dokumentieren von Objekten assistieren sollte. Drei Jahre später, im Juli 1775, kehrte die Resolution nach England zurück mit der Erkenntnis, dass die seit der Antike postulierte Terra Australis Incognita eine Illusion war. Aber reichhaltige Erfahrungen über die »Fremde« und eine Fülle materieller Erträge der Expedition, d.h. naturkundliche und ethnografische Sammelstücke aus den pazifischen Gefilden und mehr als 600 Zeichnungen, die auf völkerkundliche Museen Europas verteilt wurden oder in Privathand gerieten, wogen die Enttäuschung über den zerstörten Mythos vom Südkontinent auf.

Forsters nicht von der Royal Navy autorisierter Reisebericht Observations Made during a Voyage round the World (1777, dt. Übersetzung von Georg Forster 1778-80) brachte beiden Ruhm und internationale Anerkennung, denn ihre weltweiten, eurozentrisch-kritischen »Ansichten« fallen in die Epoche der Transformation, die „zwischen Akteuren des aufgeklärten Absolutismus und der bürgerlich aufgeklärten Kultur [entsteht]“ (S. 11). Ständige Konflikte mit der britischen Admiralität und wachsende Schulden veranlassten Johann Reinhold Foster, 1779 eine Professur für Natur- und Mineralienkunde an der Univ. Halle anzunehmen, während Georg ab 1778 am Collegium Carolinum in Kassel Naturgeschichte lehrte, bevor er 1784 eine Professur für Naturgeschichte in Wilna erhielt. Nach dem Scheitern seines Plans einer Pazifik-Expedition wechselte er 1788 auf die Stelle des Oberbibliothekars der Univ. Mainz, wo der »geborene Kosmopolit« und »natürliche Humanist« zum Freiheitskämpfer wurde, der im Pariser Exil tragisch verstarb [s. Jürgen Goldstein: Georg Forster. Zwischen Freiheit und Naturgewalt. Rez. FBJ 6/2015; G. Forster: Ansichten vom Niederrhein… (1790; s. Neuauflage 2016), Rez. FBJ 1/2018.] Zwar blieben Reinhold und Georg Forster Zeit ihres Lebens „ein prominenter Teil des Faszinationsgeschichte und des heroischen Narrativs der Entdeckungsfahrten“, jedoch landeten beide nach ihrem Wegzug aus England „im ruhigen Fahrwasser der akademisch organisierten Gelehrtenkultur“ (S. 12) und standen im intensiven Gedankenaustausch mit ihren bedeutendsten Zeitgenossen. Klassiker wurden sie jedoch nie.

Nach ihrem Tod gerieten die beiden Aufklärer außerhalb der Fachwelt bald in Vergessenheit, aber in der 2. Hälfte des letzten Jahrhunderts wurden sie, die die Welt aufgrund ihres Erfahrungshintergrunds aus distanzierter Perspektive sahen, zunächst in der DDR von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin und dann auch von westdeutschen Biographen wiederentdeckt – insbesondere was Georg Forster, wohl eine der interessanten Figuren der deutschen Geistesgeschichte, betrifft. Dass das „Geflecht der Forster’schen Arbeits- und Wissensfelder“ (S. 13) noch längst nicht ausgelotet ist, zeigt der vorliegende Band, eine Aufsatzsammlung, die weitgehend auf den Beiträgen der Jahrestagung »Gesammelte Welten« (2018) der Dessau-Wörlitz-Kommission in Wörlitz (Sachsen-Anhalt) beruht. Im Fokus stehen „die Materialitätsgeschichte der Aufklärung im Bereich der Sammlungs- und Objektpraxis sowie die sammlungsrelevanten Institutionen und Schauplätze des aufgeklärten Wissens“ (S. 13), wie die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Décultot und der Germanist Ingo Uhlig einleitend betonen. Zusammen mit den wiss. Mitarbeiterinnen Jana Kittelmann und Andrea Thiele forscht und lehrt das Herausgeber*innen-Quartett an der Univ. Halle-Wittenberg.

Im ersten Themenblock geht es um Die Forsters und Ihre Sammlungen: Standorte, Institutionen, Schauplätze. „Georg Forsters Bilderfahrzeuge“ (S. 17) nennt der Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp seinen profunden Aufsatz und greift damit auf den vom Kunsthistoriker Aby Marburg (1866–1929) geprägten Begriff zurück, der die Migration der den Kulturobjekten immanenten Bildformeln durch Zeit und Raum beschreibt. Ausgehend vom Landschaftsgarten und Südseepavillon Wörlitz zieht sich der „Strang deutschsprachiger Aufklärung, in den die Sammlungen der Forsters […] eingewoben sind“ über die Ethnographica in Göttingen zur Berliner Kunstkammer bis zum Völkerkundemuseum, das „die Rettung untergehender Kulturen [intendierte]“ (S. 41).

Anschließend zeigt der Hallenser Iberoromanist Thomas Bremer, wie die Bereitstellung realer Objekte aus der CookExpedition, „Naturgegenstände ebenso wie menschengemachte Artefakte des kulturellen Alltags“, in der Göttinger Sammlung zu einer „ganz neuen Erfahrbarkeit der Fremde“ (S. 57) führten, während der Dipl.-Museologe Uwe Quilitzsch (Kulturstiftung Dessau-Wörlitz) seinen faktenreichen Aufsatz aus dem Ausstellungsband »Georg Forster. Die Südsee in Wörlitz, Hrsg. F. Vorpahl, 2019« (Rez. in FBJ 6/2019) beisteuerte.

Von bestechender Belesenheit ist der Beitrag des habilitierten Literatur- und Kunsthistorikers Michael Niedermeier (BBAW). Sein unterhaltsamer Exkurs über Paradiesvögel in Landschaftsgärten der Goethezeit (S. 77) schildert das vorwiegend brandenburg-preußische Phänomen der durch die Südseebeschreibungen inspirierten Gartenanlagen. Kurzweilig verbindet der Autor die Tahiti-Sehnsucht und Liebesgartensemantik des Wörlitzer Gartens mit der Potsdamer Pfaueninsel, dem »Refugium der Liebe« des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm II., sowie Aristophanes’ Die Vögel und Goethes otahitischem Mistfink. Den Auftakt des Themenblocks über Objekte und Netzwerke macht der Aufsatz des ZDF-Redakteurs Frank Vorpahl über Georg Forsters Aneignung der Fremde in Bildern und Artefakten. Der Historiker, der als Weltenbummler mit unvergleichlichem Enthusiasmus die Spuren Georg Forsters verfolgt hat (s. Biographie Der Welterkunder. Galiani, 2018), berichtet über seine konservatorische Bestandsaufnahme von Forsters Arbeit als Naturzeichner sowie der ethnologischen Artefakte im Rahmen der Wörlitzer Ausstellung Rückkehr ins Licht (2017/18). Seine Studie unterstreicht die eminente Bedeutung der Provenienz-Forschung für die polynesischen Kulturen, „ihre so lang verkannte und vergessene Geschichte mit Hilfe musealer Spuren zu rekonstruieren“ (S. 131). Frank D. Steinheimer, Biologie am Naturkundemuseum der Univ. Halle, zeigt in seiner exemplarischen Studie an einem Berliner Ou-Exemplar (Psittirostra psittacea) die aufwändige Spurensuche nach den gesammelten Vögeln der James-Cook-Expeditionen, während die Magistra Alana Thyng in ihrem englisch-sprachigen Beitrag kulturgeschichtliche Aspekte der Nephrite-Artefakte von Wörlitz erörtert.

Die Historikern Anne Mariss (Univ. Regenburg) berichtet am Beispiel von J. R. Forster über die Verwobenheit der europäischen Wissenslandschaft des 18. Jahrhunderts und die Gelehrtenpraxis des Sammelns von Mitgliedschaften in internationalen Akademien, die zwar Reputation brachte, ansonsten aber brotlos blieb. Sie verdeutlicht exemplarisch, „wie versatil sich das sozioprofessionelle Konzept der Patronage gestaltete“ (S. 184) und macht mit ihrem scharfsinnigen Beitrag Appetit auf die Lektüre ihrer Tübinger Dissertation A world of new things (Campus, 2015). „Briefe als bewegliche Wissens- und Informationsspeicher“ (S. 196) sind seit langem Gegenstand literatur-, kulturund sozialgeschichtlicher Forschung. Nach der Brieftheorie (1751) von Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769) treten in der Aufklärung „an die Stelle von servilen barocken Titularien und kommunikativen Zwängen“ „Natürlichkeit, Spontanität, (vermeintliche) Regellosigkeit, Empfindungen und die gefühlvolle Rede“ (S. 190), wie Jana Kittelmann, Germanistisches Institut der Univ. Halle, in ihrer Abhandlung über Die Briefnetzwerke der Forsters schreibt. Das bedauernde Resümee ihrer intensiven Recherche lautet: „Prekär, verschollen, verloren, nicht mehr identifizierbar sind viele naturkundliche Objekte der Forsters…“ (S. 205). Im dritten Themenblock geht es um Wissens- und Diskursordnungen (S. 209). Der Kasseler Literaturwissenschaftler Stefan Greif zeigt in seinem anspruchsvollen Diskurs, wie die Forsters eine innovative Forschungspraxis betrieben, bei der „Verstehen […] auf dem Wissen um die komplementäre Fremdheit des beobachtenden und analysierenden Forschers [basiert]“ (S. 225).

Die Spurensuche des Germanisten Christian Helmreich (LMU Halle-Wittenberg) zu Georg Forster im Werk von Alexander v. Humboldt (1769-1859) verläuft selbst für oberflächliche Kenner der Biographen beider »Leuchttürme« weitgehend erwartbar, während dem Münchener Historiker Michael Ewerts mit seinem Aufsatz über Georg Forster und die transkulturelle Öffnung der deutschen Literatur (S. 247) eine neuartige Würdigung von Forsters „transnational ausgerichtete[r] Wissenschafts- und Schreibpraxis“ (S. 248) gelingt.

Im letzten Exkurs geht es um Die Perfektibilität bei Georg Forster. Emmanuel Hourcade beschreibt Forsters Konzeptualisierung des Terminus zwischen Naturwissenschaften und Anthropologie, wodurch es gelingt, „den Menschen so in ein System der Natur zu integrieren, dass kein Volk von Natur aus als über- oder unterlegen erscheint“ (S. 276). Wie konnte diese großartige Erkenntnis so schändlich in Vergessenheit geraten?

Fazit: „Weltensammeln“ ist ein außergewöhnlich engagiert verfasster, auserlesen illustrierter und – abgesehen vom Fehlen eines Autorenverzeichnisses – perfekt editierter Band, der für Kulturhistoriker*innen ein Muss ist. Bildungsorientierten Laien ist der Sammelband über die Forster’schen Arbeits- und Wissensfelder und die empirisch-kulturhistorische Erforschung der »Dinge« in der Aufklärung als äußerst inhaltsreiche, gut geschriebene und unterhaltsame Lektüre zu empfehlen. (wh)

Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Direktor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

henkew@uni-mainz.de

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