Sprachwissenschaften

„…für die Wißenschaft, der ich von ganzer Seele lebe“

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 4/2017

Agnes Stache-Weiske: „…für die Wißenschaft, der ich von ganzer Seele lebe“. Otto Böhtlingk (1815-1904): ein Gelehrtenleben rekonstruiert und beschrieben anhand seiner Briefe. Wiesbaden: Harrassowitz. XV, 583 Seiten, 24 Abb., 3 Schaubilder, 1 Tabelle. Geb. ISBN 978-3-44710758-7, € 118,00

Wohl wahr – Theodor Mommsen hat mit seiner „Römischen Geschichte“ die Grundlagen für das Verständnis der römischklassischen Antike gelegt, und die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm haben mit ihrem Deutschen Wörterbuch (DWB) Richtungweisendes für den Gebrauch und die Kenntnis der deutschen Sprache geleistet. Das ist durchaus anerkennenswert, und Mommsen erhielt ja für sein Werk 1902 den Literatur(!)Nobelpreis, doch der hier erstmals in einer umfassenden BriefBiographie vorgestellte „Heros der Wissenschaft“, der Sprachwissenschaftler und Sanskritist Otto Böhtlingk, hat den dreien etwas ganz Entscheidendes voraus: während die Grimms zu ihren Lebzeiten über den Artikel „Frucht“ nicht hinauskamen und Mommsen beim Thema „Spätantike“ den Spaß an der Sache verlor und nur noch ein Kapitel über die Provinzen folgen ließ, gelang es Böhtlingk mit der ihm eigenen Kombination aus Zielstrebigkeit, Fleiß und Begabung auf den Tag genau an seinem sechzigsten Geburtstag, sein Lebenswerk zu vollenden und den kompletten Wortschatz einer klassischen, schriftlich fixierten Sprache und Literatur, des Sanskrit, zum ersten Mal komplett vorzulegen – im siebenbändigen sog. Petersburger Wörterbuch (PW).

Schon bei seinem Erscheinen galt dieses voluminöse Werk mit seinen mehr als 5.000 Seiten nicht nur als Meilenstein der Indologie, sondern der Sprachwissenschaft überhaupt, hatte Böhtlingk doch nicht nur „jedes Wort und jede Bedeutung mit der ältesten Quelle belegt“, sondern ganz auf die indischen, „einheimischen Wörterverzeichnisse“ verzichtet und sich über die „widersinnige[n] Anforderungen der Engländer hinsichtlich der Respectirung der Commentatoren“ hinweggesetzt, das heißt, die gesamte philologische Tradition Indiens außer Acht gelassen, die nach Ansicht seines Mitarbeiters Roth oft nur aus dem „hülfloseste[n] Rathen und Umhertasten“ bestand. Das von den Briten ehrfürchtig gehandhabte „handed down from school to school and from generation to generation“ wurde schlankweg verworfen, als eiserner Grundsatz der sprachwissenschaftlichen Methode galt seither, dass man „nur den Texten selbst ihren Sinn abgewinnen“ dürfe – was freilich eine enorme Sicherheit der Sprachbeherrschung und -übersicht voraussetzte, vor allem, wenn man nie im Lande selber war. Agnes Stache-Weiske hat in ihrer Brief-Biographie – eine Autobiographie in Briefen sozusagen – nicht nur die über 25jährige Korrespondenz Böhtlingks mit seinen Koautoren, sondern darüber hinaus weitere 500 Schreiben an zusätzliche 70 Adressaten ausgewertet – eine Sisyphusarbeit, deren Ausmaß und Gediegenheit sich dem erstaunten Leser erst nach und nach in den vorzüglich gegliederten Kapiteln und in den Fußnoten erschließt. Die Grenzen einer Lebensbeschreibung, die sich im Wesentlichen auf die erhaltene Korrespondenz stützt, sind der Verfasserin durchaus bewusst, nicht nur, weil Briefe zu den so genannten „Ego-Dokumenten“ zählen, bei denen so manches auf den Empfänger oder die Nachwelt zugeschnitten oder gar zusammenkonstruiert wird; der Leser bleibt ja auch an den Horizont der Briefeschreiber gekettet, wenn es dem Verfasser nicht gelingt, durch eine gute Portion Spürsinn, gesunden Menschenverstand und Expertise auf dem Fachgebiet des Beschriebenen die zeit- und personengebundenen Aussagen der Briefe zu einer übergeordneten Gesamtschau zu vereinen. Keine Frage – in detektivischer Kleinarbeit ist es der Autorin gelungen, das bisherige Wissen um Böhtlingk, diesen Giganten der Sprachwissenschaft und Sanskritphilologie, im persönlichen und faktischen Bereich um einige regelrecht sensationell zu nennende Tatsachen zu ergänzen. Oder wie soll man sonst die Tatsachen beschreiben, dass Dr. Böhtlingk im Grunde genommen nie regelrecht promoviert, dass er von seiner ersten Ehefrau nie ordnungsgemäß geschieden wurde und – nach immerhin drei Ehen – noch im Alter von 74 Jahren seine Hausdame, die Mutter seines unehelichen Sohnes, heiratete? Hier weiß die Autorin sogar mehr als seinerzeit die Familie des Geehrten selbst. Gehört es sich für einen deutschen Gelehrten, sich durch glückliche Aktienspekulationen ein kleines Vermögen erwirtschaftet zu haben, das ihm den Umzug vom heimatlichen St. Petersburg nach Jena und damit eine gewisse persönliche Unabhängigkeit ermöglichte? All dies sind Facetten einer Persönlichkeit, die – wie der Titel sagt – der „Wißenschaft … von ganzer Seele leb[t]e“ und von denen wir erst jetzt, hundert Jahre nach seinem Tod, aus seinen Briefen erfahren.

Agnes Stache-Weiske lässt keinen Stein unumgewendet, wenn es darum geht, den persönlichen, aber auch den fachlichen Dingen auf den Grund zu gehen: durch ihre ebenso beharrlichen wie fundierten Nachforschungen kam ans Licht, mit welch harten Bandagen zwischen Paris, Jena, St. Petersburg, Yale und London um die Finanzierung, Herausgabe und Konzeption dieses Jahrhundertwerkes gefochten wurde. Weit über die Darlegung in den Briefen selbst hinausgehend, die in Auszügen immer wieder wörtlich zitiert werden und dem Stoff Substanz geben, führt sie den Leser behutsam, in ihrem Urteil zurückhaltend und für ein so trockenes Thema in wunderbar klarem Stil in die akademische und wissenschaftliche Welt des späten 19. Jahrhunderts, in der sich Böhtlingk mit großer Souveränität bewegte. Seine Herkulesarbeit, das PW, wie das Petersburger Sanskrit-Wörterbuch abgekürzt zitiert wird, wurde sofort nach Erscheinen nicht nur von den Eingeweihten, sondern auch von einer breiten Öffentlichkeit begeistert aufgenommen. Selbst die missgünstigsten Stimmen verstummten, und die enormen Kosten des Projekts in Höhe von 100.000 Rubeln wurden nicht mehr erwähnt. Stattdessen hagelte es Orden (die der Geehrte in bürgerlicher Bescheidenheit nicht trug), Mitgliedschaften in gelehrten Gesellschaften (in denen Böhtlingk sich selten zeigte) und Adelsdiplome und Titel wie den russischen „Staatsrat“ bzw. das „von“, und von seinen Kollegen in der St. Petersburger Akademie, der er bis zu seinem Tode angehörte, erhielt der Geehrte für seine epochemachende Leistung ein förmliches Anerkennungsschreiben in russischer Kaiserschrift.

Stache-Weiskes Buch ist ein Musterbeispiel einer Brief-Biographie raisonnée mit einer klaren, reichen Gliederung und einer Fülle von ebenso nützlichen wie informativen Anhängen, die nichts zu wünschen übrig lassen – bis auf Informationen über die Verfasserin selbst: Werdegang, Schriften, derzeitige Tätigkeit, Forschungs vorhaben oder Ähnliches. Darüber wüsste man gerne etwas mehr, aber die Autorin hat sich in einer für die Zunft geradezu typischen Selbstverleugnung hintangestellt und sich hinter dem breiten Rücken ihres Protagonisten, Otto von Böhtlingk, versteckt. Da möchte man zurufen: mehr Mut! (tk)

Dr. Thomas Kohl (tk) war bis 2016 im Universitäts- und Fachbuchhandel tätig und bereist Südasien seit vielen Jahren regelmäßig.

thkohl@t-online.de

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