Zeitgeschichte

Flüchtlinge Vertriebene

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 6/2023

Ré Soupault: Katakomben der Seele. Eine Reportage über Westdeutschlands Vertriebenen und Flüchtlingsproblem 1950. Hrsg. von Manfred Metzner. Wunderhorn, Heidelberg 2016, 64 S., geb., ISBN 9783884235461. € 17,80.

Eine Reportage von 1950

Ré Soupault (1901–1996), Bauhaus-Schülerin, Fotografin, Übersetzerin u.v.m. reiste vom 3. bis 26. ­September 1950 nach Schleswig-Holstein, Niedersachsen und nach Bayern, um sich einen Überblick über die Situation von Flüchtlingen und Vertriebenen zu verschaffen. Entstanden ist eine Fotoreportage unter dem Titel „Westdeutschlands Vertriebenenund Flüchtlingsproblem“.

Ré ­Soupault besuchte Flüchtlingslager, führte Gespräche mit den Verantwortlichen der Lager, mit Politikern und mit Flüchtlingen und Vertriebenen. Sie beschreibt die fünf Jahre nach Kriegsende erschütternden ­Zustände in Massenunterkünften, berichtet über neue Flüchtlingssiedlungen, schreibt über den Verlust der Heimat und die Hoffnungen auf einen Neuanfang. Ré Soupaults T ­ ext ist von besonderer Klarheit, an Fakten orientiert und gleichzeitig das bewegende und empathische Zeit-Zeugnis ­einer Frau, die 1928 Deutschland verlassen, eigene Flucht- und Heimatverlusterfahrungen gemacht hatte und bis zu ihrem Tod 1996 nur noch für kurze Besuche nach Deutschland zurückkehren wird. Ihre Reportage zwingt zum Nachdenken. Und führt vor Augen, wie schnell wir vergessen, und wie sich vieles wiederholt, wenn es – aus welchen Gründen auch immer – um Überleben, Identität und Heimatverlust geht. Manfred ­Metzner, Verleger und Nachlass-Verwalter Ré Soupaults, stellte uns den Text zur Verfügung. Wir geben einige wenige Auszüge wieder. (red)

Wohin ich auch kam auf meiner Reise durch das herbstliche Deutschland: Sei es zu dem Universitätsprofessor, der im besten Viertel der niedersächsischen Universitätsstadt eine 6-Zimmerwohnung sein eigen nennt, sei es zu der Schlossbesitzerin in einer der schönsten Gegenden Bayerns, sei es zum Bauern in Schleswig-Holstein … sie alle verfügen nicht mehr frei über ihren Wohnraum. Unzählige Namen stehen anstelle eines einzigen an den Wohnungstüren. […] Niemand hat Anspruch auf mehr als ein Zimmer. Übrige Wohnräume werden beschlagnahmt, und der Wohnungsbesitzer muss die vom Wohnungsamt eingewiesenen Personen aufnehmen. In sehr vielen Fällen leben sogar ganze Familien in einem Raum. Und viele Hundertausende müssen mit Baracken oder sogar mit Bunkern vorlieb nehmen, diesen katakombenähnlichen, zwar bombensicheren aber fensterlosen Betonbauten, die oft bis zu drei Etagen unter der Erde liegen und – soweit sie nicht gesprengt worden sind – heute als Notwohnungen für Flüchtlinge dienen. […] Bei meinen Besuchen in den Wohnlagern Bayerns, Niedersachsens und Schleswig-Holsteins habe ich kaum einen Flüchtling gesehen, der allein über ein Bett verfügt hätte. Hygienisch unverantwortlich werden solche Lebensbedingungen, wenn ein Teil der Familienmitglieder an einer ansteckenden Krankheit leidet, was sehr häufig der Fall ist. In dem Münchener Lager Waldfriedhof sah ich z.B. eine Familie, deren beide älteste Töchter von 9 und 11 Jahren lungenkrank sind. Für fünf Personen sind nur zwei Betten und ein Brett mit Strohsack vorhanden. Dies ist ein Fall unter Hunderttausenden und längst nicht der schlimmste. Es gibt Baracken, in denen heute noch 15 Personen zusammenhausen, fremde Männer, Frauen, Kinder. Niemand macht sich eine Vorstellung von dem, was diesen Kindern allein in moralischer Beziehung angetan wird. […] Wie aber sieht es bei den Jugendlichen aus […] Diese Unglücklichen kommen zum grössten Teil aus den Ostgebieten, wo sie ihre Familienangehörigen, sei es durch das Kriegsgeschehen, sei es durch Verschleppung nach Russland oder durch Hunger und Kälte auf der Flucht im Winter 1944-1945 verloren haben. Sie alle haben eine völlig ungenügende Schulbildung, denn seit 1945 haben diese Kinder ein Vagabundendasein geführt. Sie bettelten und stahlen, schliefen in Höhlen oder Ruinen. Hunderttausende gingen damals zugrunde. Andere hatten Glück und gelangten nach Westdeutschland. Hin und wieder wurden sie von einer Fürsorge aufgegriffen, verschwanden dann aber wieder, bis schliesslich das Vagabundendasein zur Gewohnheit wurde. In den Städten sieht man diese Halbwüchsigen in Kneipen, Vergnügungslokalen, in den Bahnhofsgegenden umherziehen und man fragt sich, wie es möglich ist, dass der Staat nicht vor allem diese Gefahr – denn hier handelt es sich um eine der grössten sozialen und moralischen Gefahren – zu beseitigen versucht. […] Die grösste Tragik in unserem „Zeitalter des Hasses“ ist aber zweifellos das Schicksal elternloser Kinder.

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