Anthropologie, Evolution

Evolution | Anthropologie

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 1/2022

Matthias Glaubrecht: Eskapaden der Evolution: Von Menschen, Schimpansen und anderen Kapriolen der Natur. Paperback, S. Hirzel Verlag, 2021, 272 S., ISBN 978-3-7776-2909-4, € 18,00.

    Vielleicht haben Sie gerade das unablässig mahnende Untergangszenario, das Matthias Glaubrecht, Professor für Biodiversität der Tiere und Direktor des Centrums für Naturkunde (CeNak) der Universität Hamburg, in seinem über 1000-seitigen Werk Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung der Arten (2020) entwirft, »verdaut«, da erscheint schon ein weiteres Sachbuch des renommierten Evolutionsbiologen und Wissenschaftsjournalisten. Ganz neu ist es nicht, denn es handelt sich um die aktualisierte und erweiterte Auflage des vergriffenen Bestsellers Seitensprünge der Evolution, Machos und andere Myste­ rien der Biologie von 2005 mit verändertem Titel. Schon die Erstausgabe faszinierte mit 36 fesselnden, verblüffenden oder amüsanten Essays über Kapriolen der Natur und deren evolutionsbiologischer Entschlüsselung. Es ist sehr zu begrüßen, dass das erfrischend unterhaltsam und allgemeinverständlich verfasste Sachbuch des früheren Kurators für Mollusken und späteren Leiters der Abteilung Forschung am Museum für Naturkunde Berlin, das mit dem Bscher-Medienpreis gekürt wurde, in stark aktualisierter Neuauflage greifbar ist. Selbst für die Leser der »Seitensprünge« vermittelt das Update nicht nur Déjà-vus, sondern auch umfangreiche neue Erkenntnisse der Evolutionsbiologie mit zahlreichen jüngeren Literaturquellen „zum Nach- und Weiterlesen“ (S. 248-263); und für einen neuen Leserkreis bietet der Band ein staunenswertes Potpourri gelöster »Welträtsel« der Anpassungen. Es ist zu hoffen, dass die Bewunderung der Fruchtbarkeit der Evolution die notwendige Einsicht für den zwingenden Erhalt der Biodiversität vermittelt, um das dramatische Ausmaß des Artensterbens zu stoppen, das auch die Zukunft unserer Art hochgradig gefährdet.

    Glaubrechts Streifzüge durch die Kapriolen der Natur sind eine mit wissenschaftlicher Leidenschaft und sprachlicher Eleganz geschriebene »Hommage« auf die Biodiversität: Zum einen führt der Band feuilletonistisch mit einer Prise verschmitzten Humors in das Kuriositätenkabinett morphologischer, verhaltensbiologischer und ökologischer Adaptationen ein, zum anderen vermittelt er aber auch – eher beiläufig und ohne überflüssigen Fachjargon – basales Wissen über evolutive Prozesse, die die Artenvielfalt auf unserem »blauen Planeten« bewirkt haben. Die drei großen Mysterien der Biodiversität sind nach Glaubrecht erstens die Artenzahl, die bei lebenden Tieren von Biosystematikern auf acht bis neun Millionen Spezies geschätzt wird, zweitens der problematische Artbe­ griff, der wie kaum ein anderer in der Biologie bis heute umstritten ist, was Zyniker mit dem Bonmot ausdrücken, „dass eine Art das sei, was der Spezialist dafür halte“ (vgl. S. 16). Das sei jedoch ein Irrtum, betont der reputierte Biosystematiker, denn Biospezies sind nicht nur bloße Konstrukte, d.h. lediglich vom Menschen gemachte Ordnungskategorien, „sondern als die fundamentalen Einheiten der Evolution zu verstehen“ (S. 16). Schließlich gilt es drittens, das »Mysterium der Mysterien« (sensu Charles Darwin) zu lösen, das Rätsel der Artentstehung.

    Der Eskapadenreigen „um Arten und ihre Geschichte, ihre Entstehung, ihr Leben und ihr Verschwinden“ (S. 17). beginnt mit Glaubrechts langjähriger malakozoologischer Forschung an tropischen Süß- und Brackwasserschnecken des Tanganjika-Sees, deren unterschiedliche Formen von Viviparie (Lebendgebären) erst durch die Kombination von „äußeren Umweltbedingungen“ […] „mit den inneren, gleichsam von den Organismen selbst mit ins Spiel gebrachten Faktoren“ (S. 33) Überlebensvorteile für den Gastropoden-Nachwuchs schufen.

    Dann wechselt die Expedition ins Tierreich der Karibik, ein „Experimentierfeld der Evolution“ (S. 34), wo Jonathan B. Losos an Reptilien der Gattung Anolis zeigte, wie „sich Kolonien dieser Kriechtiere auf den einzelnen Inseln zu eigenständigen Arten wandelten“ (S. 35). Der Variantenreichtum beruht auf der Einnischung nach Größe, die Konkurrenzvermeidung ermöglichte. Losos bewies, dass die Evolution entgegen der allgemeinen Annahme nicht unbedingt langsam verlaufen muss, sondern selbst in kurzen Zeiträumen zu Anpassungen an eine neue Umwelt führt (vgl. auch FBJ 4/2019: J.B. Losos (2018): Glücksfall Mensch, Rezension wh).

    Dann geht’s nach Australien mit seiner überraschend andersartigen Beuteltier-Fauna. Die großen Kängurus, die James Cook (1728–1779) anfangs für Windhunde hielt, weisen aufgrund der elastischen Eigenschaften ihrer Sehnen und Muskeln eine elegant-federnde, energiesparende Sprungtechnik auf und sind ein Kunstwerk der Natur, von dem sich Bioniker einiges abschauen sollten. Zu den bekannteren Eskapaden gehören die Verhaltensstudien an den »liebesversessenen« Bonobos (Pan panis­ cus) mit ihrer »Frauenpower«. Ihre face to face-Paarung und ihr friedensstiftender und konfliktabbauender Sex ohne Fortpflanzung führen zum Fremdschämen so manchen Zoobesuchers.

    Im zweiten Streifzug dominieren paläoanthropologische Berichte zur Bipedie früher Homininen bis hin zu den Out-of-Africa-Wanderungen der Gattung Homo und dem „Schmelztiegel Europa“, der erst aufgrund molekularbiologischer Forschung entschlüsselt werden konnte. Ferner geht es um die indonesische nanowüchsige Menschenart Homo floresiensis und ihr »Pampelmusen-Hirn«, bevor erklärt wird, welche evolutiven Vorteile das Trinken von Muttermilch fremder Arten für unsere Spezies brachte. Ob man hier den von Johann Blumenbach (1752–1840) stammenden, aus der Kraniologie abgeleiteten Begriff „Kaukasier“ für die „weißhäutigen Menschen europäischer Abstammung“ (S. 141) überhaupt weiterverwenden sollte, ist dringend zu überdenken.

    Ferner geht es um die »Signale der Liebe« (sensu Karl Grammer), d.h. die immer wieder punktenden soziobiologischen Themen wie „wählerische Weibchen und MachoMännchen“, die „Biologie des Seitensprungs“ oder aber Großelterninvestment. d.h. die „Rolle der Großmutter“, bevor die „Mär von der Wiederkehr der Mammuts“ (S. 176) kritisiert wird. Angesichts der enormen Biodiversität und des fortschreitenden Artensterbens brandmarkt Matthias Glaubrecht Klonierungsprojekte ausgestorbener Tiere mit Recht als „ungeheuer lächerlich“ (S. 179). Essays über den Aufstieg und Untergang der Dinosaurier fehlen ebenso wenig, wie die über die Ahnen von Riesenstraußen und die Verwandtschaft der Riesenalke, der »Pinguine des Nordens«. Weitere handeln vom kuriosen und noch weitgehend rätselhaften Paarungsritual bei Tintenfischen oder erklären, wie „Blüten den Insekten das Lotterbett bereiten“ (S. 215).

    Als versierter Biograf des Naturforschers Alfred Russel Wallace (1823–1913) wundert sich der Autor, dass der weitgereiste Brite in seinen Tagebüchern nie die Frage aufwarf, „warum Geweihfliegen eigentlich jene bizarren Körperanhänge wachsen“ (S. 224), womit Darwins Zeitgenosse die Chance für die epochale Entdeckung der »sexuellen Selektion« verpasste.

    Als einer der Direktoren des Leibniz-Instituts zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB), dessen Ziel es ist, „Lösungen für den Erhalt von Ökosystemen und Arten zu ent- wickeln, um die Grundlage jetzigen Lebens zu erhalten“ (https://leibniz-lib.de/), beschwört Glaubrecht im Epilog die dramatische Gefährdung der Artenvielfalt und fordert Maßnahmen zum Stopp des weltweiten Artenschwunds. Wenn auch alle vom Klima reden und von den apokalyptischen Folgen der anthropogen verursachten Treibhausgase und der fatalen Erwärmung unseres Planeten, „so darf [das] nicht vom Artensterben und vom Erhalt der Arten­ vielfalt ablenken“, mahnt Glaubrecht, „[d]enn auch ohne Klimawandel ist der vom Menschen verursachte Exitus von Tieren und Pflanzen für sich eines der drängendsten Probleme der Menschheit: weil von größter Gefahr für den Menschen selbst, ist es die wahre Krise des 21. Jahr­ hunderts“ (S. 242).

    Fazit: Mit überarbeiteten Essays aus dem Kuriositätenkabinett der Evolution belegt Matthias Glaubrecht seine exzellente Fähigkeit, die Leistungen zoologischer Forschung einem interessierten Laienpublikum verständlich und unterhaltsam zu vermitteln. Als engagierter Naturforscher belässt es der erfahrene Wissenschaftspublizist aber nicht dabei, durch den Blick auf die Vielfalt, Launen und Schönheit der Natur nur kurzweiliges Staunen zu erzeugen, sondern appelliert zugleich eindringlich an unsere Verantwortung für den Erhalt der Biodiversität. – Es ist längst fünf Minuten vor zwölf, um das „Ende der Evolution, wie wir sie kennen“ (S. 247) zu verhindern. Und das klingt noch optimistisch! (wh)

     

    Bernd Herrmann: Thanatologie. Eine historisch-anthropologische Orientierung. Springer Spektrum, Fachmedien Wiesbaden, Essentials, Softcover, XIII + 62 S., 30 Abb., 1 Tab., ISBN: 978-3-658-32783-5, € 9,99, eBook, ISBN 978-3-658-09866-7, € 4,99.

      Im Kleinkompendium »Prähistorische Anthropologie. Ei­ne Standortbestimmung« (Springer Spektrum 2015) legte der Anthropologe Bernd Herrmann (*1946) den State-ofthe-Art dieser Disziplin in der gebotenen Kürze der es­ sentials dar [Rez. FBJ 5/2016, S. 74f. (wh)]. Anschließend richtete der ehemalige Leiter der Historischen Anthropo­ logie und Humanökologie an der Universität Göttingen den Fokus seiner Publikationstätigkeit auf einen weiteren wesentlich von ihm geprägten Forschungsschwerpunkt. Das belegt neben der zweiten Auflage seines profunden Lehrbuchs »Umweltgeschichte« (Springer 2016) auch die essentials-Trilogie »Umweltgeschichte« (2016-2018, zus. mit Jörn Sieglerschmidt) [Rez. FBJ 4/2020, S. 83f. (wh)]. Diesbezüglich sind auch der Essay »Das menschliche Öko­system« (Springer 2019) sowie das aktuelle essential »Hu­manökologie« (zus. mit Bernhard Glaeser u. Thomas Potthast, 2021) hervorzuheben.

      Auch zehn Jahre nach seiner Entpflichtung trägt Herrmann weiterhin zur Innovation und Optimierung der Anthropologie bei. Damit folgt der Leopoldinaner beispielgebend der Maxime der Akademie: „Nunquam otiosus“ (lt., „Niemals müßig“). So ergänzte er jüngst das erwähnte Kompendium »Prähistorische Anthropologie« um zwei weitere, hier rezensierte Abhandlungen. Auch diesmal war das Prokrustes-Schema eines Einzelbandes der erfolgreichen Buchreihe für die Vermittlung seines über fünf Dezennien erworbenen Expertenwissens und seinen Bildungsanspruch zu eng.

      Anders als bei den uns alle betreffenden soziokulturellen Fragen, z.B. Patientenverfügung, Sterbebegleitung und assistierter Suizid, die im Fachbuchjournal 3/2021, S. 26-40, »Im Fokus« standen, konzentriert sich der Autor aufgrund seiner Expertise auf eine historisch-anthropologische Orientierung der Thanatologie. Es geht ihm um „strukturelle Fragen“, um die wissenschaftliche und ethische Orientierung „für die Interpretation der oftmals komplexen Auffindesituationen und für die Ansprache menschlicher Überreste“ (S. IX).

      Gerade noch löst die Lektüre zum Märchen »Vom singen­ den Knochen« der Gebrüder Grimm kindliche Erinnerungen aus, da begreift man, wenn an dieser „thanatologischen Erzählung in nuce“ die Begriffe »Anzeichen« und »Zeichen« und deren „herausgehobene Bedeutung als Interpretamente“ (S. 1f.) exemplifiziert werden, dass die zuvor ausgesprochene Empfehlung, „die thematisch einschlägigen Lemmata in Reallexika und Enzyklopädien“ (S. X) nachzuschlagen, insbesondere für Studierende und interessierte Laien notwendig und hilfreich sein kann.

      Das betrifft vor allem den ambitionierten etymologischen Exkurs zur Semiotik, der auf Aussagen von Ernst Cassirer (1874–1945) und Max Weber (1864–1920) über die „Produktion von Sinn mittels der menschlichen Symboltätigkeit“ (S. 3) sowie die praxeologische Bedeutung natürli­ cher und konventioneller Zeichen in William v. Ockhams (1288–1347) Werk und Johann Lockes (1632–1704) Reflexionen Bezug nimmt. Der gegenüber dem semiotischen Konzept der »Befundung« vereinzelt vorgebrachten Polemik entgegnet Herrmann entschieden mit der Feststellung, dass diese »Wissensordnung« auch heute keineswegs von den qualitativen und quantitativen Hilfsmitteln der medizinischen Diagnostik vollends ersetzt, sondern nur in den Hintergrund gedrängt wurde (vgl. S. 4). Die fächerübergreifende Thanatologie [s. Rez. FBJ 3/2021, S. 28f., Komm, süßer Tod? (wh)] wird nur grob umrissen, da sich Herrmann hier gezielt auf „die postmortalen Abläufe und Umstände konzentriert und ggfls. auf historische und kulturelle Spezifitäten von Praktiken hingewiesen [wird], soweit auf sie aus Sachüberresten geschlossen werden kann“ (S. 10). Deshalb bleiben wesentliche historische Themen wie die spätmittelalterliche Ars moriendi unberücksichtigt.

      Komprimiert werden die Thanatologischen Bedingungen wie Körper und Grab und die für den Tod eines Menschen ursächlichen Sachverhalte wie Alter, Krankheit oder Gewalt (inkl. Zufall) geschildert. Nach der Auflistung der Todeszeichen, die schon historisch zur Deklarierung des Exitus letalis eines Individuums führten, folgten zeitnah – wie auch heute – kulturspezifische Vorbereitungen der Bestattung. Wann erstmals Reflexionen über den Tod stattgefunden haben, bleibt paläoanthropologisch im Dunkeln, aber vermutlich geschah das weit vor den ältesten fassbaren Bestattungen vor ca. 100.000 Jahren.

      Es folgen Ausführungen zur rituellen Behandlung des Leichnams (z.B. Leichenkonservierung, Verbrennung) und zu Bestattungsformen (z.B. Höhlen- und Himmelsbestattungen, Grabguben, Sarkophage) sowie die Auflistung der üblichen und der vom »normalen Ritus« abweichenden Grablegungen (z.B. Seiten-, Rücken- oder Bauchlage; Doppelbestattungen; Fesselung der Extremitäten) und eine Skizze zur diachronen Entwicklung abendländischer Grabmalformen, von Steinabdeckungen bis zu Denk- und Seh-Malen.

      Ferner geht es um zeit- als auch kulturübergreifende Überlieferungsformen des Leichnams wie Skelett, Leichenbrand oder Mumien und um postmortale Abläufe und historische Behandlungsweisen. Das erkenntnistheoretische Ziel der Begutachtungen ist die „Herstellung einer Verbindung zwischen dem körperlichen Überrest und der personalen wie sozialen Identität des Menschen zu seinen Lebzeiten“ (S. 23). Herrmann greift bei der Beschreibung der methodischen Möglichkeiten der historischen Thanatologie auf seinen breiten Forschungsfundus zurück. Wie gut, wenn man für exemplarische Fälle und Abbildungen autark und nicht von „Zitationskartellen und Netzwerken der Missgunst“ (S. X) abhängig ist! So gelingt dem (Un-)Ruheständler eine ungewöhnlich dichte Abhandlung zur Schematisierung der historischen Vorschriften, Konventionen, Lagerung der Toten, Gesten und Zeichen. Das gilt auch für das Subsummationsschema zu Zeichen der Gewalt: Verletzungen, Leibzeichen, Kannibalismus, welches sich durch einen seriösen Aufklärungsduktus dezidiert von bisweilen sensationsheischenden Publikationen zur Thanatologie absetzt.

      Im letzten Kapitel geht es um erkenntnistheoretische Hin­ weise, da thanatologische Begutachtungen „besonders anfällig für Überbewertungen von Sachverhalten und spekulationsanfällige Dehnungen der Faktenlage“ (S. 55) sind, was an drei eklatanten Fällen rechtsmedizinischer und archäologischer Fehlinterpretationen belegt wird. Das konzise Propädeutikum erklärt souverän das logische Rüstzeug wie Deduktion, Induktion und Abduktion, sowie die Rolle des Zufalls. Es warnt vor dem Einfluss von Vorurteilen sowie vor „Vereinfachern der Methoden wie der Befunde“ (S. 55) und ist ein wichtiger Ratgeber für qualifizierte »Hochwahrscheinlichkeitsaussagen«, denn mehr können Experten nicht leisten.

      Leider enthält die Printversion wegen erschwerter Produktionsabläufe durch die Corona-Pandemie trotz eines Er­ ratums immer noch Druckfehler. Das ist jedoch eine Petitesse gegenüber dem Fehlen eines Literaturverzeichnisses. Dieses ist leider nur kapitelweise über Links als elektronisches Zusatzmaterial abzurufen. Deshalb und auch wegen der besseren Qualität so beeindruckender Bilder wie „Der Tod trifft mit einem Ausfall den Schatten Janssens“ [H. Janssen (1929−1995)] und „Der Triumph des Todes“ [P. Bruegel d. Ä. (verm. 1525/30−1569)] ist es ratsam, gleich zum eBook zu greifen.

       

      Bernd Herrmann. Menschliche Überreste in Sammlungen. Springer Spektrum, Fachmedien Wiesbaden 2021. Essentials, Softcover, XI + 79 S., 23 Abb., ISBN 978-3-662-64171-2, € 14,99, eBook, ISBN978-3-662-64172-9, € 4,48.

        Der dritte Band der Trilogie zur Prähistorischen Anth­ropologie befasst sich mit der Vielfältigkeit menschlicher Überreste, die in Sammlungen der Anthropologie, Anatomie, Pathologie, Rechtsmedizin, und Ethnologie sowie Naturkunde-, Archäologie-, Völkerkunde- und Kunsthistorischen Museen verwahrt resp. exponiert werden, aber auch in sakralen Räumen wie Kirchen, Kapellen und Krypten oder Totengedenkstätten zur Schau gestellt werden. Experten und Studierende einschlägiger Disziplinen dürften die Richtlinien zum angemessenen Umgang mit sensiblen Sammlungsobjekten aus den »Empfehlungen« kennen, die der Deutsche Museumsbund (DMB) erstmals 2013 publizierte. Im Juni 2021 erschien fast gleichzeitig mit dem vorliegenden essential eine aktualisierte „Praktische Arbeitshilfe für sehr sensibles Sammlungsgut“ [https:// www.museumsbund.de/wp-content/uploads/2021/06/], auf dessen „inhaltliche Änderungen und Akzentverschiebungen“ (S. 1) der Autor nicht mehr Bezug nehmen konnte. Das mindert den Wert seines »Kommentars« aber keineswegs, da die AG, die den aktuellen DMB-Leitfaden verantwortet, „fachlich augenscheinlich reduziert wurde“ (S. 1). Das ist ein hinreichender Grund, Herrmanns kritische »Stimme« wahrzunehmen, da der Emeritus neben internationaler Forschungs- und Lehrerfahrung als ehemals Verantwortlicher für die Göttinger Anthropologische Sammlung auch über jahrelange Expertise bzgl. Sam­ meln, Bewahren, Forschen, Ausstellen, Vermitteln und Rückgabe menschlicher Sammlungsobjekte verfügt. Seine geschliffene Kritik ist ein wertvolle »Wortmeldung« zum – endlich – wissenschaftlich und politisch intensiv geführten Dialog.

        Herrmann geht mit den »Empfehlungen« konform, wenn er betont, dass auch „menschlichen Überresten eine Menschenwürde […] als ethischer (nicht verhandelbarer) Höchstwert [eignet]“ (S. 1). Er rekurriert auf P. Descolas (*1949) Einsicht, dass dem „europäisch-aufgeklärten Erkenntnis- und Wissenschaftsinteresse […] nicht ohne weiteres der Vorrang gegenüber dem historisch oder kulturell Fremden [gebühre]“, und sieht die Notwendigkeit eines „beständigen Aushandlungsprozesses“ (S. 2) zwischen den in der Sache betroffenen Akteuren, wenn Rückgabeforderungen verhandelt werden.

        Das eine eingehende Erörterung der Zuordnung menschlicher Überreste als Leichensachen, die juridisch dem ‚Sachenrecht‘ zugerechnet werden, ausbleibt (vgl. S. 5), kri­tisiert der Autor, da so eine verbindliche rechtliche Auslegung bzgl. der Dauer der Schutzwürdigkeit offen bleibt, was auch für die Rechtssituation der sog. Totenehrung gilt.

        Da die »Empfehlungen« nicht auf menschliche Überreste in sakralen und sepulkralen Räumen eingehen, weist der Autor auf die Problematik eines vielfach „kommerzialisierten, sehr profanen Umgangs“ mit solchen Exponaten hin, „in dessen Zentrum überwiegend ein nekroaffiner Voyeurismus der Besucher oder deren sublime Faszination durch Grusel vermutet werden darf“ (S. 6). Als ungelöstes Problem benennt er die Unvereinbarkeit der rational-materialistisch-naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise mit Welterklärungen, denen diese Position fremd ist. Das Dilemma um Rückforderungen wäre nur dann „vermeidbar, wenn derartige Sammlungen auf die Aufnahme von Exponaten aus Kulturen anderer Welterklärungssysteme verzichteten“ (S. 7).

        Weitere Kritikpunkte betreffen die nicht hinreichende Beachtung der »Motive« für das Sammeln menschlicher Überreste und den Umfang der Sachliste, die nach Herrmann zwar für museale Zwecke ausreiche, aber – wissenschaftlich betrachtet – um „Abgüsse (Lebender wie Toter), Konkremente (feste Ablagerungen in Körperhohlräumen bzw. Organen), Inhalte archäologisch fassbarer Latrinengruben („Kloaken“) und Koprolithe“ (S. 9) systematisch erweitert werden müsse.

        Ist die wissenschaftliche Bedeutung menschlicher Überreste „als kulturhistorisches Quellenmaterial zur Rekonstruktion, Erklärung und Bewahrung kultureller Praktiken und Eigenheiten“ (S. VII) auch unbestritten, so bestehen doch gravierende Probleme aufgrund historischer „Sammelaktivitäten, [die] fast ausschließlich auf zutiefst unethischen Handlungen [beruhten]“ (S. 17), sowie wegen ungeklärter Provenienz, Restitutionsansprüchen und erforderlicher Deakzession.

        Während sich der Kommentar zu den »Empfehlungen« (Kap.  1) wie ein ethisch-rechtliches Sachverständigengutachten liest, das als Beitrag eines universitären Seminars für Fortgeschrittene tiefen Eindruck machen würde, jedoch das Interessenniveau von Laien eher übertreffen dürfte, sollte letztere nicht dazu veranlassen aufzugeben, denn es folgt der Pflicht die Kür.

        Zunächst wird [d]ie kulturhistorische Facette skizziert und erörtert, warum der mögliche Umfang menschlicher Selbstreflexion ursächlich für Probleme beim Umgang mit menschlichen Überresten werden kann. Herrmann vermutet, dass in den „Mehrfacheigenschaften eines menschlichen Körpers […] eine Motivation zur Sammlung menschlicher Überreste [gründet]“, sofern nicht medizinisches-naturwissenschaftliches Interesse ursächlich ist. Diese These wird belegt durch die gemeinsame Präsentation von Scientifica, Artificalia und Naturalia in den Kunstkammern, den Vorläufern von Museen in der Spätr ­ enaissance und im Barock, sowie durch Reliquienkulte und die historisch beschriebene Vorgehensweise mit Hingerichteten, Märtyrern, sozialen Außenseitern, Straftätern, vermeintlichen Vampiren und Nachzehrern (vgl. S. 14) Auf eine kompakte Literaturübersicht zu den Grundlagen der Begutachtung folgt Herrmanns inhaltsreiche »Führung« durch bedeutende Sammlungen und Museen. Der »Rundgang« beginnt mit der im 19. Jh. gegründeten Schädelsammlung des Göttinger Gelehrten J. F. Blumenbach (1752–1840) am Zentrum Anatomie der Univ. Göttingen und Erläuterungen zu den Gründen ihrer Errichtung und Rolle im Kontext der aufkommenden sog. »Rassenkunde« bis zur Pervertierung durch den »Staatsrassismus«. Nächste exemplarische Station ist die berühmte Meckel-Sammlung in Halle/Saale mit einzigartigen Anatomie- und Pathologie-Präparaten. Das Skelett einer doppelköpfigen dreiarmigen und zweibeinigen Fehlbildung (Dicephalus tribrachius dipus) unterstreicht einerseits die wissenschaftliche Bedeutung der einzigartigen Exponate und andererseits die Notwendigkeit einer fachkundigen Führung, denn es geht nicht um makabren Lustgewinn. Das im Museum-Naturalienkabinett Waldenburg (Sachsen) ausgestellte Feuchtpräparat „Monstrum humanum rarissimum“ von 1735, eine multiple Fehlbildung, hat offenbar nicht nur die zeitgenössischen Laien, sondern auch Mediziner vor Rätsel gestellt. Heute wissen wir dank gesamtgenomischer DNA-Analyse des Feten, dass das Syndrom durch die teilweise Deletion des Chromosoms 17 verursacht wird.

        Die barockzeitlichen Vanitas-Dioramen des niederländischen Anatom Frederik Ruysch, in denen vorwiegend Skelette von Feten und Neonaten künstlerisch arrangiert wurden, stehen im Mittelpunkt der „ästhetischen Dramatisierungen des Schreckens“ und unterstreichen die „Toddurchdrungenheit der Epoche“ (S. 29f). Herrmann beschreibt den Zwiespalt des Betrachters, einerseits „irritiert, abgestoßen und […] doch fasziniert“ (S. 30) zu sein. Sein kunstgeschichtlicher Exkurs über die Motive und die Wirkung dieser und weiterer künstlerischer Objekte (KarnerSchädel; Trophäen- u. Schrumpfköpfe) sowie gewaltiger Inszenierungen aus Skelettelementen von ca. 10.000 Individuen (mememto mori der Allerheiligenkirche in ­Sedlec/ CZ) unterstreichen die „Faszination durch das Morbide“ (S. 32).

        Wenn im Kapitel über menschliche Überreste in Archäologischen und Ethnologischen Museen die unausweichliche Frage gestellt wird, „[w]arum es zu einer Ausstellung eines Skeletts, einer Mumie oder eines Leichnams kommt“ (S. 38), dann dürften sich nach Herrmann Kuratoren meist auf die Erfüllung einer museumsdidaktischen Grundfunktion beziehen und Museumsbesucher vermutlich stereotyp so rechtfertigen: „Ist doch schon lange her“ (S. 47). Wer aber die detaillierten Argumente des Autors für eine uneingeschränkt verantwortungsgeleitete ethische Positionierung bei der Präsentation menschlicher Überreste und seine beißende Kritik zur unsensiblen „Instrumentalisierung“ menschlicher Überreste als „materielle Zeugen für Krankheitsformen bzw. von Gewalteinwirkung“ (S. 38) oder den Vorwurf der „Selbstfeier einer Schlachtfeldarchäologie“ (S. 39) im Fall des Massengrabs von Lützen (LM Halle) sowie die „Sensationalisierung des Entsetzens“ bei der Inszenierung des steinzeitlichen Massenhomizids von Thalheim (BW) oder Katastrophenopferszenarien von Pompeji reflektiert, wird nachdenklich werden, insbesondere wenn dann noch bemerkt wird, dass sich doch eine unbefangene Betrachtung von ausgestelltem „Knochenklein“ (Leichenbrand) ausschließt, „weil die assoziative Verbindung mit jenen Ereignissen eigentlich unausweichlich ist“ (S. 45).

        Die thematische Breite des Kompendiums zeigt sich, wenn Herrmann zum Rechtsgut der Totenruhe auch den Totenund Ahnenkult zählt und dezidiert den »Immerwährenden-Gültigkeitsanspruch« (S. 47) der Menschenwürde hervorhebt.

        Es folgt ein wissenschaftlich spannendes Kapitel über Haut und Haare (und Nägel), da es vermutlich keine diesbezügliche systematische museale und archivalische Sammlung gibt, obwohl diese menschlichen Überreste auch immer Gegenstand authentischer Memorabilien oder mythologischer Vorstellungen waren und heute auch Gegenstand anthropologisch-forensischer Forschung sind. Aus Gründen systematischer Vollständigkeit geht der Verfasser im Kapitel Anhaftungen sive Antragungen auch auf extrakorporale Überreste wie Blutspuren, Antragungen an Leichentüchern (Turiner Grabtuch Jesu) oder Anhaftungen an Kleidung (Blut- und Schweißspuren im Fall Kaspar Hauser) ein und beschließt die »Museumsexkursion« mit sog. Varia, d.h. Koprolithen, Kloakensedimenten, Konkrementen des Körpers (u.a. Blasensteine) und Körperabformungen, insbesondere von Köpfen, die im Kontext sog. »rassenkundlichen« Physiognomik in Ethnologischen Museen noch bis vor kurzem exponiert wurden und rassistische Vorurteile perpetuierten.

        Das essential schließt mit der persönlichen ethischen Position des Autors, der sich das Prinzip der immerwährenden Totenruhe ausspricht und damit (mit optionalen Ausnahmen für Nat.-Hist. Museen) für eine Nicht-Präsentation in Ausstellungen für ein öffentliches Publikum (vgl. S. 71) ausspricht.

        Fazit: Das Kompendium vermittelt geballtes Expertenwissen und bietet eine bewundernswert belesene tour d’horizont durch ein wissenschaftsgeschichtlich schwer belastetes Forschungsfeld. Chapeau! Herrmanns Erfahrungsschatz und seine stringente Argumentation zum ethisch angemessenen Umgang mit sterblichen Überresten machen das essential zur Pflichtlektüre für Lehrende und Studierende einschlägiger Disziplinen. Für interessierte Laien sollte der lehrreiche Abriss nicht nur wissenschaftliche Kenntnisse vermitteln, sondern bei dem uns alle betreffenden ethisch-moralischen Thema zum Umgang mit den Toten zur Nachdenklichkeit anregen. (wh)

        Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Di­ rektor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

        henkew@uni-mainz.de

         

         

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