Biologie | Ökologie, Evolution

VERHALTENSBIOLOGIE

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 1/2021

Becker, Peter-René, Wie Tiere hämmern, bohren, streichen. Werkzeuggebrauch und Bandbreite der Kultur bei Tier und Mensch, 2021, Verlag S. Hirzel, geb., 232 S., 15 farbige Abb., ISBN 978-3-7776-2848-6, € 24,00.

Seit der Antike bis ins 19. Jhdt. gewann der Mensch sein Selbstbild dadurch, dass er die Einzigartigkeit seiner diversen Fähigkeiten gegenüber dem Rest der Natur betonte: „immer, bipolar statt linear, immer isoliert statt integriert“ (S. 9). Seit dem Darwinschen Paradigmenwechsel und der wissenschaftlichen Absage an teleologische Hypothesen der Menschwerdung ist der Homo sapiens evolutionsbiologisch nur noch eine weitere einzigartige Tierart. Für viele ist das nach wie vor schwer zu begreifen, da sie an der Natur-Kultur-Antinomie festhalten. Die ganze Herausforderung der Evolutionstheorie besteht aber darin, nicht nur die physische Evolution der Organismen, sondern auch die Verhaltensevolution von Tier und Mensch auf biologischer Grundlage ohne Ausnahme monistisch zu erklären.

„Kultur fiel nicht vom Himmel“ (S. 200), schreibt der promovierte Biologe und Ethnologe Peter-René Becker (*1949) im vorliegenden Sachbuch zur Vielfalt kultureller Leistungen im Tierreich. Ältere Leser dürften sich vielleicht noch an den ersten, 1993 in der Edition Universitas veröffentlichten Überblick erinnern, den der pensionierte ltd. Direktor des Landesmuseums Natur und Mensch in Oldenburg (2011–17) ausführlich überarbeitet hat. Becker stützt seine Metaanalyse auf über 2800 Publikationen zur Werkzeugnutzung bei Tieren sowie bei fossilen Menschenformen bis zum Homo sapiens.

Von Werkzeugen und Augenzeugen lautet das Eingangskapitel, in dem der Autor seine Definition von tierischem »Werkzeug« unterbreitet. Danach handelt es sich „grundsätzlich [um] körperfremde Gegenstände, die von einem Tier zur Erlangung eines kurzfristigen Ziels eingesetzt werden“ (S. 13). Nichtpassende Objekte können dabei von manchen Tierarten, z.B. Schimpansen oder Krähen, zu gezielten Zwecken in passende verändert werden. Becker betont zu Recht, dass Freilandbeobachtungen tierischen Werkzeuggebrauchs keineswegs banal sind. Sie müssen erst mal entdeckt und stimmig interpretiert werden. Ein problematischer Aspekt ist dabei die Differentialdiagnose von ererbtem und erlerntem Verhalten, denn „[n]ach wie vor können wir davon ausgehen, dass genetisch bedingte Verhaltensweisen eine ebenso große Rolle spielen wie individuell Erlerntes und alle Zwischenstufen“ (S. 14). Beckers akribische Recherche beschreibt ein faszinierendes Verhaltensspektrum von hämmern, quasi-hämmern, bohren, stochern, sondieren, angeln, schwammtrinken, ködern, schießen, wasserspucken, werfen, wischen, reiben, fegen und tarnen bei zahlreichen Tierarten, darunter Insekten, Schnecken, Tintenfische, Fische, Schlangen, Vögel und Säugetiere. Die Fälle werden im Kontext von Nahrungs-, Jagd-, Aggressions-, Balz-, Brutpflege- und Kommunikationsverhalten gedeutet. Die entscheidende Voraussetzung für Kultur ist stets ein kognitives Verhalten, „denn Kultur ist gelernt; ihre Regeln und Gewohnheiten werden von mehreren Gruppenmitgliedern geteilt und bilden auf diesem Weg Traditionen aus“ (S. 200). Obwohl Werkzeuggebrauch von Tieren seit langem bekannt ist, verblüfft immer wieder, wie einzelne Tierarten Gegenstände nach Funktion und Passung sorgfältig auswählen, zweckmäßig einsetzen und offenbar erlerntes Verhalten in ihrem Sozialverband tradieren. Spätestens seit Jane Goodalls bahnbrechenden Freilandbeobachtungen an Schimpansen des Gombe-Nationalparks gehören die Fähigkeit von Gebrauch (tool-using) und sogar Herstellung bestimmter Werkzeuge (tool-making) sowie die Tradierung innovativer Verhaltensweisen innerhalb von Tierpopulationen zum ethologischen Schulbuchwissen. Seitdem wurden ständig neue Fälle «tradigenetischen Verhaltens» [sensu Christian Vogel (1933–1994)] entdeckt, womit das menschliche Alleinstellungsmerkmal einer bewussten Werkzeugnutzung und -herstellung und Tradierung innerhalb einer Population obsolet wurde. Beckers Übersicht geht auch auf »sozialen Werkzeuggebrauch« bei Primaten ein, bei dem meist jüngere Gruppenmitglieder zur „Beschwichtigung, Deeskalation, Feindabwehr oder auch nur als »Materialspender«“ (S. 14) instrumentalisiert werden. Und dass „[e]s auch ohne Werkzeug“ geht (S. 185), belegen spezielle Evolutionsstrategien, z.B. die bizarre Tradition der «eye-pocking-session» bei Weißschulterkapuzinern zur Vergewisserung von sozialer Bindungsstärke.

Die enzyklopädische Übersicht demontiert den vermeintlichen Exklusivanspruch des Menschen auf Werkzeuggebrauch und zeigt eindrucksvoll, dass es sich dabei weniger um eine Folge von Nachahmungen handelt als vielmehr um das „Zusammenspiel [.] von erworbenen kognitiven und sozialen Einflüssen“ (S. 194).

Erfreulicherweise setzt der Oldenburger Museologe den Kulturnachweis im Tierreich in einem – wenn auch nur knappen – archäologisch-paläoanthropologischen Exkurs fort, angefangen bei den ältesten, 3,3 MJ alten Steinartefakten aus Kada Gona (Kenia) bis zu Werkzeugen früher Sapienten, deren Herstellung und Verwendung eine ausgefeilte kognitive und mentale Leistungsfähigkeit erfordert und „Ausgangspunkt für unsere heutigen Verhaltensweisen“ (S. 204) ist.

Obwohl die Tier-Mensch-Demarkationslinie bzgl. der materiellen Kultur gefallen ist, verbleiben Elemente der immateriellen Kulturentwicklung, die bislang nur dem Menschen zugeschrieben werden. Wenn die Primatenethologie Abschiedsrituale bei Schimpansen als Verlust und Trauer beschreibt oder einen abendlichen Sound bei einer OrangUtan-Population Sumatras als Symbolik für Gruppenzugehörigkeit interpretiert, so bleibt Becker diesbezüglich skeptisch. Aber möglicherweise hat sich gerade so Sprache als Indikator für Gruppenzugehörigkeit bei einer „Tierart wie dem Menschen“ (S. 202) entwickelt. Nachweislich ist es mehrfach von basalem tierischem Bewusstsein zu einer Komplexitätssteigerung bis zur Ich-Erkennung und Selbstreflexion gekommen.

Die Archäologie zeigt, wie speziell in der Homininen-Linie symmetrisch gearbeitete Faustkeile, intelligent gefertigte Speere, Grabbeigaben, Schmuck und Kunstobjekte, z.B. Tier-Mensch-Figurinen, Flöten und Wandmalereien, eine zunehmende Kognitionsfähigkeit sowie Religiosität und künstlerische Kreativität belegen. Als komplexeste Form des Bewusstseins hat Homo sapiens „ein scheinbar grenzenloses Erinnerungsvermögen und die Fähigkeit zur unbegrenzten Antizipation“ (S. 208), woraus erstmals im Tierreich «ein Denken über das Denken» und damit ein Verantwortungsbewusstsein erwächst. Hierzu hätte ich mir bei dem höchst empfehlenswerten Band weiterführende Verweise auf Michael Tomasellos «Wagenhebereffekt» und Eckart Volands «Grundkurs Soziobiologie» gewünscht! –

Dem spannend und erfrischend einfach geschriebenen Buch, das kulturelle Vermittlung als biologischen Mechanismus begreift, ist eine breite Leserschaft zu wünschen, denn die «Botschaft», dass zahlreiche Tiere kulturelle Leistungen vollbringen und dass Homo sapiens auch nur eine Tierspezies ist, freilich eine, bei der »Kultur zum natürlichen Rüstzeug gehört« [sensu Hubert Markl (1938–2015)], ist noch längst nicht überall angekommen. (wh)

Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Direktor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

henkew@uni-mainz.de

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