Editorial

ein einzelnes Stiefmütterchen

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 4/2023

Wir sind im Krisenmodus. Corona, Ukrainekrieg, Inflation. Hunger weltweit. Klimakrise. Die zeigt sich mittlerweile ganz brutal in langanhaltenden Hitze- und Dürreperioden, Flächenbränden, Starkregenereignissen, Überschwemmungen, Fichtensterben. Während über diese Krisen nun ständig berichtet wird, steht die Biodiversitätskrise noch weit abseits der öffent­lichen Wahrnehmung. Dabei ist sie im globalen Maßstab existentiell. „Der Klimawandel bestimmt, wie wir als Menschheit in Zukunft leben, das Artensterben, ob wir auf der Erde überleben.“ Diesen Satz aus dem Buch Vom Verschwinden der Arten. Der Kampf um die Zukunft der Menschheit der Biologin Katrin BöhningGaese und der Journalistin Friedrike Bauer muss man wohl mehrmals lesen. Wollen wir als Menschen auf der Erde überleben?

Diesem Thema widmen wir schwerpunktmäßig diese Ausgabe. Was für ein Wendepunkt! Wir erleben gerade das sechste Massenaussterben der Erd­geschichte! „Tatsächlich übernutzen wir Menschen die Natur in atemberaubendem und bisher nie gesehenem Tempo. Wir haben sie uns in einer Weise ‚untertan‘ gemacht, die jedes gesunde Maß überschritten hat“, beklagen die beiden Autorinnen. Und das wirklich Heim­tückische – und eben auch nicht so einfach medien ­ wirksam vermittelbar­ e – daran ist: „Der Prozess dieses Naturverlustes vollzieht sich schleichend und für uns nicht direkt spürbar; es ist also mehr ein stilles Sterben – und zwar auf allen drei Ebenen, die Biodiversität ausmachen: bei der Vielfalt der Arten, der Vielfalt innerhalb der Arten und der Vielfalt der Ökosysteme.“ Ich möchte Ihnen dieses hochaktuelle Sachbuch deshalb wirklich sehr ans Herz legen, denn die ­Autorinnen zeigen überzeugend und faktenreich, wo die Ursachen der globalen Krise liegen und wie wir alle, Wirtschaft, Politik und jeder Einzelne, aktiv werden können, um diesen existentiell gefährlichen Trend aufzuhalten.

Die Rache des Pangolin. Wild gewordene ­Pandemien und der Schutz der Artenvielfalt ist ein weiteres, unbedingt empfehlenswertes Sachbuch zu diesem Thema. Für unseren Rezensenten ist das Buch „in ­Kombination mit der fesselnden Geschichte früherer Seuchen und der intensiven Warnung vor dem ­Risiko ihrer Wiederkehr aufgrund ignoranter und verfehlter, einseitiger Umweltpolitik ein fulminant-souveränes Plädoyer für den Schutz der Biodiversität“. Der Evolu­tionsbiologe Matthias Glaubrecht zeigt darin, dass weder Tiere noch die Natur selbst am Ausbruch von Infektionskrankheiten ‚Schuld‘ haben und auch nicht ‚Rache‘ nehmen, obwohl sie allen Grund dazu hätten. Wenn einer an Seuchen ‚schuld‘ ist, dann wir Menschen. Denn mittlerweile übersteigt die anthro­pogene Masse (Beton, Zement, Plastik) bereits die gesamte Biomasse auf der Erde! Wir Menschen sind der prägende Faktor des Erdsystems ­geworden. Glaubrecht hofft, dass die jüngste Pandemie „der Beginn eines neuen Verständnisses und Verhältnisses zur Natur“ sein möge.

Natürlich haben wir auch viele weitere, auch angenehmere Themen in dieser Ausgabe. In der Auswahl von Biografien über Frauen in der Kunst können Sie wahre Meisterinnen entdecken. Und wie jedes Jahr in unserer Sommerausgabe haben wir die Neuerscheinungen aus der Astronomie gesichtet, die Sie wieder zu nächtlichen Erkundungstouren verführen sollen. Dabei bin ich jedes Jahr mehr gerührt von der Vorstellung, dass dieser von uns Menschen so arg gebeutelte, wunderschöne blaue Planet sich in diesem unendlichen Universum so gelassen behaupten kann. Und wenn ich ab und zu am Nachthimmel die ISS vorbeihuschen sehe, dann beruhigt mich die ­Vorstellung, dass dort oben auf engstem Raum Menschen verschiedener, auf der Erde verfeindeter Nationen gemeinsam leben, forschen, diskutieren und lachen können.

Auf Seite 4 finden Sie einen Feldführer über die wilden Orchideen Europas. Diese wunderschönen ­Geschöpfe sind gar nicht so selten, wie Sie vielleicht denken. Glauben Sie mir: Sie zeigen sich denen, die mit ­offenen Sinnen, ohne Hektik und ohne Apple Watch durch die Landschaft bummeln. Und wenn Sie auch nur ein einzelnes, vom Menschen unverändertes, ursprüngliches Stiefmütterchen finden. Auch das ist wunderschön.

Angelika Beyreuther

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