Biologie | Ökologie

Die Hälfte der Erde. Ein Planet kämpft um sein Leben

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 1/2017

Edward O. Wilson: Die Hälfte der Erde. Ein Planet kämpft um sein Leben. Aus dem Englischen von Elsbeth Ranke. C.H. Beck, München, 2016, 256 S., 22 Abbildungen, Gebunden, ISBN 978-3-406-69785-2. € 22,95

Das vorliegende Buch von einem der einflussreichsten Biologen unserer Zeit ist der Schlussband einer Trilogie, die aktuelle Antworten auf uralte anthropologische Fragen gibt: Woher kommen wir? – Wer sind wir? – Wohin gehen wir? Auf E.O. Wilsons frühere Bände Die soziale Eroberung der Erde (2013) und Der Sinn des menschlichen Lebens (2015; siehe Rezension in FBJ 6/2015, S. 78-80) folgt mit Die Hälfte der Erde ein ökologisches Plädoyer, das zu entschlossenem Handeln aufruft, um die drohende sechste große Aussterbewelle in der Erdgeschichte zu verhindern. Während frühere globale Exstinktionsereignisse natürliche Ursachen hatten, trägt diesmal der Mensch durch ungezügeltes Konsumverhalten, seinen verheerenden Einfluss auf den Klimawandel und mangelndes Umweltbewusstsein entscheidend zur rapide fortschreitenden Zerstörung der Umwelt und damit auch seiner eigenen Existenzgrundlage bei.

Bereits 2002 hatte Wilson in seinem Buch Die Zukunft des Lebens (Siedler, München) das Grundargument für ein weltweites Reservat zur Rettung der Biosphäre formuliert. Und eineinhalb Jahrzehnte später appelliert der zweifache Pulitzerpreisträger erneut an die Vernunft des Menschen. Es geht „jetzt ums Ganze“ (S. 9), denn es ist allerhöchste Zeit, die unübersehbaren ökologischen Probleme ernst zu nehmen und „der Größe des Problems angemessen“ (S. 11) zu handeln. Nach Ansicht des emeritierten Harvard-Professors ist die unermessliche Vielfalt der Lebensformen auf der Erde, von der wir bislang nur einen Bruchteil kennen, dadurch zu retten, dass wir die Hälfte der Oberfläche unseres Planeten der Natur überlassen. Ja, die Hälfte! Wem diese Naturschutzforderung völlig überzogen erscheint, dem erklärt Wilson, dass sein Ansatz zur Rettung der Biosphäre aufgrund populationsdynamischer Gesetze sogar nur eine „erste Notlösung“ ist, von deren Gelingen auch „die für unser eigenes Überleben nötige Stabilität“ (S. 11) abhängt.

Wie kein anderer hat der 87-Jährige Evolutionsbiologe, der auch als „Vater der Biodiversität“ bezeichnet wird, das Gleichgewicht der Arten, die Gesetzmäßigkeiten der Biosphäre und das Sozialverhalten von Tieren und Menschen erforscht. Unermüdlich hat er in seinen Werken auf die Verletzlichkeit der Biodiversität hingewiesen; immer wieder hat er die Notwendigkeit des Erhalts der Artenvielfalt betont, um auch unsere eigene Existenz nicht zu gefährden: „Auch der Mensch entgeht nicht dem ehernen Gesetz der Interdependenz der Arten“, denn „die Biosphäre gehört nicht uns; wir gehören zu ihr“ (S. 24).

Als erfahrenem Feldforscher und Kurator gehen Wilson die Beispiele nicht aus, dass wir gerade dabei sind, den Wettlauf zwischen der wissenschaftlichen Erforschung der globalen Biodiversität und der Vernichtung zahlloser bekannter sowie immer noch unbekannter Arten zu verlieren. Vehement beklagt er das nahezu auf null geschrumpfte Allgemeinwissen über „die weltweit dominanten Wirbellosen“, die nur noch als Getier und Ungeziefer wahrgenommen werden, „aufgrund eines massiven Versagens von Bildung und Medieninteresse“ (vgl. S. 34).

Für Wilson ist jede Spezies „ein Wunder für sich, eine lange, leuchtende, lesbare Geschichte, ein Held, der sich in unsere Zeit herübergerettet hat nach einem Tausende oder Millionen Jahre dauernden Überlebenskampf…“ (S. 33). Deshalb hält er alle Arten für uneingeschränkt schützenswert. Für einen effizienten Artenschutz ergibt sich jedoch ein schwerwiegendes Problem, nicht jeder teilt diese Ansicht, wie die lange Liste der durch anthropogene Einflüsse ausgerotteten Arten belegt. Wilsons „Nachruf auf das Nashorn“ dokumentiert, wie medizinische Mythen und gigantische Erlöse für Nashornpulver die Ausrottung vorantreiben. In „Apokalypse now“ liefert der leidenschaftliche Feldbiologe deprimierende Beispiele für Exstinktionen, z.B. die durch eine Chytridpilzinvasion ausgelöste katastrophale Seuche bei Fröschen und Schwanzlurchen; ferner die Ausrottung des mauritianischen Dodo, eines flugunfähigen Vogels, dessen letzter Artvertreter vermutlich 1662 verzehrt wurde; und schließlich der Verlust von 19 Flussmuschelarten durch die Errichtung eines Staudamms im Mobile River (USA). Wilson wäre seinem Sachbuchstil nicht treu geblieben, würde er nicht mit beeindruckender Fachkompetenz zugleich erklären, „welchen praktischen Wert sie [die Flussmuschel] für das Wohlergehen des Menschen hat“ (S. 51).

Als Kollateralschaden will Wilson das ökologische Chaos, das die Menschheit angerichtet hat, nicht hinnehmen. In dem sehr emotionalen Kapitel „Gleichen wir Göttern?“, fragt er dann auch, ob wir uns denn gar nicht schämen würden, die Arten so zu behandeln, als wären sie „nichts Besseres als Unkraut und Ungeziefer“ (S. 58).

Als weltweit engagierter Naturschützer belegt er, dass Artenschutz funktioniert, dass Erfolge zu verzeichnen sind, sofern zerstörerischen Aktivitäten wie Habitatverlust, invasiven Arten, Verschmutzung, Populationswachstum sowie Überfischung/ Überjagung gezielt entgegengewirkt wird. Skepsis klingt jedoch an, wenn wir zwei Imponderabilien nicht in den Griff bekommen: Da ist erstens der „wütende Dämon Klimawandel “ (S. 75), der auch durch das „Pariser Abkommen“ wohl kaum in den Griff zu bekommen sein wird, und zweitens sind da ideologisch verblendete Utilitaristen, die „[dazu] drängen, eine extrem anthropozentrierte Weltsicht zu übernehmen, in der der Mensch die Erde vollständig beherrscht“. Teil I „Das Problem“ endet mit harscher Kritik an der Ideologie der New Conservation-Bewegung, die Wilson für die „gefährlichste Weltanschauung“ hält, denn sie ist, wie bereits Alexander von Humboldt warnte, „ … die Weltanschauung derjenigen, die die Welt nicht geschaut haben“ (S. 89). Da die apodiktisch formulierte Kritik auch jene trifft, die im Menschenzeitalter (Anthropozän) verantwortungsvoll nach einem Spannungsausgleich zwischen ökologischen Erfordernissen und humanitären Maßstäben suchen, gerät das Schlusskapitel des Problemaufrisses leider zu einer merkwürdig undifferenzierten, verbissenen Philippika.

Teil II „Die wahre lebende Welt“ schildert die Großartigkeit von Arten und Ökosystemen. Der Meister naturwissenschaftlicher Prosa knüpft mit seiner faktendichten Beschreibung unbekannter Netze des Lebens, fremder Wasserwelten und unsichtbarer Mikrobiome an seine früheren Bestseller an. Auf der Basis einer Umfrage an „18 der weltweit erfahrensten Biologen“ schildert er die besten Reservate „mit Ansammlungen erwiesenermaßen einzigartiger, wertvoller Arten“ (vgl. 148). Die Beschreibung der Best Places kann das hohe Niveau und die Spannung leider nicht halten, – oder sind wir durch die exzellenten Dokumentationsfilme von David F. Attenborough und Kollegen schon zu sehr verwöhnt?

Gegenwärtig stehen nur etwa 15% der Erdoberfläche unter Naturschutz; wie kann auf der Erde, die im Anthropozän zu einem globalen Dorf geworden ist, eine Steigerung um mehr als das Dreifache erzielt werden, um Wilsons Forderung zu erfüllen, damit ca. 80% der derzeit lebenden Spezies überleben? „Die Lösung“ lautet der letzte Teil, der völlig entmutigt; konkrete Pläne und Strategien, um das hochgesteckte Ziel zu erreichen, fehlen gänzlich. Wilson entwickelt weder ein Lageszenario der prospektiven Biodiversitätsreservate, noch erklärt er, wie politische und demographische Folgeprobleme gelöst werden könnten. Zwar prognostiziert er die „Reduzierung des ökologischen Fußabdrucks“ (S. 208) durch eine Verschiebung von extensivem zu intensivem Wirtschaftswachstum, aber überzeugend wirken seine Ausführungen nicht. Seine Zuversicht, dass durch die „Schlüsseltechnik-Industrien Biologie, Nanotechnologie und Robotik“ (S. 221) unsere zukünftigen Energieprobleme rechtzeitig gelöst werden, mag man vielleicht noch teilen; dass der Ökologe Wilson zur Bewältigung von zu erwartenden Ernährungsengpässen vorbehaltlos auf die synthetische Chemie setzt, ohne die damit verbundenden Risiken zu thematisieren, bestürzt und desillusioniert angesichts der durch die Biochemie ausgelösten agrarwirtschaftlichen Probleme.

Fazit: „Die Hälfte der Erde“ ist ein ambitioniertes Alterswerk des Doyen der Biologie, das die Vielfalt des Lebens grandios beschreibt und die Probleme der hauchdünnen Biosphäre unseres Planeten offenlegt. Schwächen in der Stringenz sowie seltsam undifferenzierte und irritierend unkritische Positionen (u.a. zum Anthropozän, zur Rolle von Neozoen, zur Synthetischen Chemie) sind jedoch unübersehbar. Dass Wilson sich für die Lösung der hochgesteckten Ziele zur Wahrung der Biodiversität in Fiktionen und Utopien verliert, ist befremdlich, dass er keine echte Problemlösung weiß, dagegen verzeihlich und hochgradig alarmierend: Denn wenn er keine Lösung kennt, wer dann? Aber ging es ihm vielleicht auch nur um einen Warnruf, ein leidenschaftliches Signal an die Menschheit, wie sein pathetisches Credo im Vorwort vermuten lässt (s. S. 12): „Sich gegen alle Wahrscheinlichkeiten für das gesamte Leben einzusetzen, wäre Menschlichkeit in ihrem edelsten Sinn.“ (wh)

Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Direktor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

henkew@uni-mainz.de

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