Dass China auf dem Weg ist, zur Weltmacht zu werden, gilt den meisten als ausgemacht. Bereits vor 60 Jahren glaubten manche, dass China eine Weltmacht von morgen sein würde. Doch die Geschwindigkeit, in der sich dann China in diese Richtung entwickelte, hätten damals selbst die Kenner Chinas nicht vorauszusagen gewagt. Dies hatte seinen Grund auch darin, dass man es für unwahrscheinlich hielt, China werde den Entwicklungspfad des Westens nachholend beschreiten können. Eine PKW-Flut wie in Westeuropa oder den USA schien für China unvorstellbar. Doch spätestens als dann selbst konservative Politikwissenschaftler das Wachstum Chinas nach dem Zementverbrauch bemaßen, hätte allen deutlich werden müssen, dass China auch ökonomisch dem Westen zu folgen begann. Manche begrüßen diese Entwicklungen, einige haben sich damit abgefunden, doch die meisten Menschen und Regierungen reagieren mit Angst und Verunsicherung. Die wenigsten aber schauen genauer hin und unterscheiden dabei spezifische Sphären der Transformationen im heutigen China. Hierauf die Blicke zu lenken, ist die Absicht des folgenden Literaturberichts. Bekanntlich zeitigen Modernisierungsprozesse neben geplanten Ergebnissen auch unbeabsichtigte Folgen. Gerade der Blick auf solche „Kehrseiten“ ermöglicht nicht nur ein umfassenderes Verständnis Chinas, sondern eröffnet dem Betrachter Perspektiven für eine Überprüfung der eigenen Standpunkte. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, die historischen und kulturellen „Tiefenstrukturen“ zu berücksichtigen, die ebenso zu den „Ressourcen“ Chinas zu zählen sind wie Neuaufbrüche im Anschluss an Übernahmen von Techniken und Konzepten von außen, insbesondere aus dem Westen. Gerade auf dem Gebiet der Raumfahrt ist China inzwischen an vorderster Front und will nun die Rückseite des Mondes erkunden. Wir sehen bereits, wie der Wettlauf zwischen China und den USA gerade auf diesem Gebiet in ein neues Stadium zu treten beginnt. Doch neben den Dimensionen bis hin zum Weltall ist stets auch der Blick in kleinste Nischen für das Gesamtbild unerlässlich.
Du Qiang, Der Klub der Nutzlosen, in: Die drei besten Reportagen der Welt 2019. True Story Foundation (Hrsg.) True Stories – Die drei besten Reportagen der Welt 2019.
Bern: Reportagen Taschenbuch. o.J. [2020] Paperback. ISBN 978-3-033-07711-9. S. 166-223. € 12,00.
Manche Zonen des gesellschaftlichen Lebens bleiben in der Regel weithin unbeachtet, nicht zuletzt, weil sie im öffentlichen Bewusstsein auch in China ausgeblendet werden, wenn nicht gar als peinlich empfunden und deswegen von den offiziellen Vertretern Chinas tabuisiert werden. Natürlich gibt es gelegentlich Enthüllungen wie jene zu den Internierungslagern in Xinjiang. Doch weniger spektakuläre Berichte bieten oft viel umfassendere Einblicke wie etwa jene „Der Klub der Nutzlosen“ betitelte und preisgekrönte Reportage rund um den Tagelöhnermarkt in einem Stadtteil der boomenden neuen Metropole Shenzhen, wo nach Ansicht vieler die Zukunft der Menschheit mit all ihren Versprechungen und Absurditäten geprobt wird. Bei der Lektüre dieser Reportage kann man sich mittendrin fühlen.
Zhao Tingyang, Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung. Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann.
Berlin: Suhrkamp 2020. 266 S., Paperback. ISBN 978-3-518-29882-4. € 22,00.
In krassem Kontrast zu solchen in den Alltag der Menschen eintauchenden Berichten stehen Abhandlungen wie jene des Philosophen Zhao Tingyang über die „Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung“. Darin sucht der Autor eine neue „Grammatik des Denkens“ zu formulieren, bei welcher die Welt als Ganzes (tianxia) zum gedanklichen Ausgangspunkt gemacht wird. Unter Rückgriff auf ein ganzes Arsenal in China entwickelter politisch-philosophischer Positionen wird eine Weltinnenpolitik unter der Maßgabe friedlicher Koexistenz postuliert. Die „Aktualität des antiken TianxiaSystems“ für die heutige Welt und die Zukunft liegen darin, dass mit einem „neuen Tianxia-System“, welches „keine Neuauflage des antiken Tianxia-Systems“ sein könne, eine „allen Menschen zugehörige Weltordnung“ geschaffen werden müsse (S. 227). Die Lektüre dieses Buches und die Beschäftigung mit dessen Konzept, das darauf abzielt, „der Menschheit allgemeine Sicherheit und gemeinsame Nutzenteilhabe“ zu garantieren (S. 228), könnte dazu beitragen, die Rede von der Rivalität der Systeme zu überwinden.
Rosemarie Zens, Moon Rabbit. The Chinese Journey.
Heidelberg: Kehrer 2020. 160 S., 70 Farbabb., Deutsch, Englisch, Hardcover. ISBN 978-3-86828-972-5. € 42,00.
Wie die Spiritualität altchinesischer Kultur in dem sich modernisierenden China fortlebt, dokumentiert die Fotokünstlerin Rosemarie Zens seit über zwanzig Jahren. In ihrem programmatisch „Moon Rabbit“ betitelten Foto-Text-Buch überlagern sich auf einer Reise durch Nordchina gewonnene Einblicke in Transformationsprozesse mit Erinnerungen an die Vormoderne im Westen. Der Mondhase steht für die Dauer im Wandel. Dabei rufen die Fotos, insbesondere die doppelseitigen, Geschichten auf, stoßen Assoziationsketten an und stellen so Offenkundiges und Rätselhaftes in einen Zusammenhang. Nach diesem Buch mit seinen Texten und Bildern fühlt man sich nicht mehr einsam, wenn einen Anblicke beim Reisen durch China verstören.
Kim Karlsson und Alexandra von Przychowski (Hrsg.), Sehnsucht Natur. Sprechende Landschaften in der Kunst Chinas.
Zürich: Musaeum Rietberg/ Berlin: Hatje Cantz 2020. 256 S., Hardcover. ISBN 978-3-7757-4669-4. € 42,00.
Wie sehr hinter all den Veränderungen der letzten Jahrzehnte noch Bilder von Natur und Landschaft lebendig sind, zeigt der Katalog zu einer Ausstellung im Museum Rietberg Zürich. Den kundigen Essays der Herausgeber ist ein höchst aufschlussreicher Text von Alfreda Murck über „Dichtung in der Malerei. Malerei als Dichtkunst“ zur Seite gestellt. Faszinierend, ja geradezu atemberaubend ist es, wie von heutigen Künstlern das ganze Unbehagen an der Moderne in der Bildsprache der Vergangenheit formuliert wird. Dabei zeigt die Ausstellung, dass solche Intertextualität und die Verbindung von alt und neu nicht erst Erscheinungen des 20. und 21. Jahrhunderts, sondern ein Charakteristikum der Landschaftsmalerei seit ihren Anfängen in China sind.
Isabelle M. Obrist, Nora Frisch, Das Fünf-Elemente Frühstücksbuch. Schnelle Rezepte für volle Power.
Esslingen: Drachenhaus 2020. 70 S., Hardcover. ISBN 978-3-943314-46-5. € 19,00.
Im weiteren Sinne gehört zu den Spezifika einer Kultur auch die Ernährung. Dabei ist es auffällig, dass sich trotz der vielen regionalen Küchen Chinas eine Tendenz zur Systematisierung nach Fünf Elementen (Wasser, Holz, Feuer, Erde, Metall) durchgesetzt hat. Die daran geknüpfte „Zuordnung aller Dinge“ in Verbindung mit dem Wissen um die Wechselwirkungen im Kreislauf der Elemente und das Wirken der inneren Organe hat zu einem hoch differenzierten Wissen um menschliche Stoffwechselprozesse geführt. Daraus ergibt sich die Grundregel, dem Körper stets eine ausgewogene Mischung der Zutaten aller Elemente zuzuführen. Wer sich auf diese Art zuordnenden Denkens auch persönlich einlassen möchte, ist gut beraten, das von Isabella M. Obrist und Nora Frisch vorgelegte Frühstücksbuch als Anleitung heranzuziehen.
Nele Noesselt (Hrsg.), Reassessing Chinase Politics. National System Dynamics and Global Implications.
Baden-Baden: Tectum 2019. xii+199 S., Paperback. ISBN 978-3-8288-4325-7. € 38,00.
Die nach dem Zweiten Weltkrieg anscheinend relativ stabile Weltordnung ist aus mehrfachen Gründen längst Vergangenheit – und bei dieser Transformation spielte China lange Zeit nur eine Nebenrolle. Dass sich daran, wie eingangs festgestellt, etwas zu ändern begonnen hat, ist Thema des vorliegenden acht Beiträge umfassenden Buches. Die Herausgeberin beginnt mit Überlegungen zur allgemeinen Konstellationsanalyse. Sie verwirft zu Recht die schwarz-weiß-Rhetorik „liberal vs. illiberal“ und verweist auf die Strategie Chinas, sich durch Anpassung innerhalb bestehender Strukturen einen größeren Einfluss und Mitspracherechte zu sichern. Dabei geht es weniger um eine Ablösung der USA als globaler Supermacht, sondern darum, dass China einen seiner Größe entsprechenden Einfluss sucht und zugleich entsprechende Verantwortung für die internationale Ordnung zu übernehmen bereit ist. Dabei führen die erweiterten Interessen Chinas natürlich auch zu einer Reformulierung der Militärstrategie, bis hin zur „Cybersecurity“. Während sich in der allgemeinen Diskussion manche auf den Satz des Menzius beziehen, wonach die Chinesen die Fremdvölker verändern, nicht aber von diesen verändert werden, stellen die Beiträge dieses Bandes die Frage, wie sich tatsächlich jener Vorgang darstellt, den manche als „Export von Chinas autoritärem Regierungsmodell“ beschreiben. Danach ergibt sich, dass China mit den im Zuge der Neuen Seidenstraßeninitiative (Belt and Road-Initiative BRI) ergriffenen Maßnahmen vor allem nach Lösungen sucht, die seinem Selbstbild entsprechen, nämlich kooperativ und friedenssichernd zu handeln.
Mit dem Blick auf die Beziehung zwischen Innen- und Außenpolitik („the domestic-global nexus of Chinese politics“) konstatiert die Herausgeberin als wesentliches Ergebnis der Studien, dass China weniger durch sein „sozialistisches System“ eine Herausforderung darstellt, sondern sich seine Erfolge vor allem durch die erfolgreiche Adaptierung und Umsetzung von Handlungsmustern des westlichen Kapitalismus erklären – „successful implementation of borrowed (and partly recycled) patterns of Western capitalism“ (S. 16). Insofern widerspricht China gerade jenem dem Menzius zugeschriebenen Selbstbild: „I have heard of using Chinese ways to change the barbarians, but never of Chinese ways being changed by those of the barbarians“ 吾聞用夏變夷者,未聞變於夷者也. (Menzius 3A.4) Dabei weiß jeder Informierte, auch unter den Chinesen, dass der langen Geschichte der Sinisierung, die es gab, eine über die Jahrhunderte verlaufende und weiterhin anhaltende viel stärkere Übernahme von Fremdem und von Importen nach China gegenübersteht. Ebenso wie China in der Vergangenheit Wissen und Können importierte, geschieht also auch heute in der Realität gerade das Gegenteil von dem, was Menzius propagierte. Die folgenden Studien des Bandes werfen Licht auf verschiedene Aspekte der inneren wie der auf internationale Zusammenhänge gerichteten Politik Chinas. Dabei zeigt sich, dass die Verknüpfung von Ein-Parteien-Herrschaft und beschleunigter nachholender Modernisierung das System attraktiver erscheinen lässt als etwa das durch das Taiwan der letzten Jahrzehnte repräsentierte Mehrparteienmodell. Dabei sind allerdings manche Prozesse ergebnisoffen, wie etwa Tobias Bohne in dem Beitrag „Spaces of Resistance in China: The weiquan Movement from a Social-Spatial Perspective“ zeigt, nach dessen Lektüre die Antwort auf die Frage offen bleibt, ob nicht gerade die Konstruktion eines geeinten bzw. vereinheitlichten gesamtchinesischen Rechtsraumes im Ergebnis auch neue Möglichkeiten für einen Regionen übergreifenden Widerstandsdiskurs eröffnet.
Renzai Su, Das Aufsichtsratsgremium in den börsennotierten Aktiengesellschaften in China – Ein Vergleich mit deutschem Recht.
Berlin: Duncker & Humblot 2020. 197 S., Paperback. ISBN 978-3-428-15863-8. € 62,90.
Ausgehend von der zentralen Bedeutung börsennotierter Aktiengesellschaften für das moderne Unternehmenssystem erhebt sich die Frage, inwiefern etwa Aktiengesellschaften in China in spezifischer Weise gleich oder verschieden von solchen Gesellschaften in Deutschland sind. Die Studie, eine Hamburger rechtswissenschaftliche Dissertation von 2018, zeigt, wie trotz verschärfter Regeln Aufsichtsräte, etwa bei Aktiengesellschaften in Shenzhen, ihrer Aufgabe zur Geschäftsüberwachung nicht nachkamen. Der Verfasser fragt nach den Gründen und sucht unter Befolgung einer rechtsvergleichenden Methode nach Ansätzen für Verbesserungen durch weitere Rechtsveränderung. Da es im Gegensatz zum deutschen Recht in China neben dem Aufsichtsrat noch die Institution von „Independent Directors“ gibt, stellen sich hier zusätzliche Probleme der Zurechnung von Verantwortung sowie der Abhängigkeit. Da die Arbeit sowohl die historischen Hintergründe des gegenwärtigen Geschäftsüberwachungssystems als auch dessen Mängel benennt und daraus Verbesserungsvorschläge ableitet, ist diese Arbeit ein wichtiger Beitrag zum Gesellschaftsrecht und gibt damit zugleich Hinweise zur Risikoabschätzung. Gerade für zukünftige Kooperationen ist die Kenntnis der unterschiedlichen Systeme und ihrer Mängel von entscheidender Bedeutung, wie der Fall Wirecard gerade vor Augen führt.
Peter Kupfer, Bernsteinglanz und Perlen des Schwarzen Drachen. Die Geschichte der chinesischen Weinkultur.
Gossenberg: Ostasien Verlag 2019. ii+412 S., Hardcover. ISBN 978-3-946114-29-1. € 49,80.
Die gegenwärtigen Diskussionen zur Neuen Seidenstraße könnten auch das Interesse an der historischen weiträumigen Kulturbeziehung zwischen Ostasien und Europa beleben, und dabei insbesondere an der Geschichte des Weinbaus. Friedrich Schillers Feststellung „an den Ufern des Rheins blühen Asiens Reben“ kann man heute erst richtig verstehen, wenn man das soeben erschienene Werk eines der besten Kenner chinesischer Weinbaugeschichte zur Hand nimmt. Peter Kupfer hat nicht nur älteres und bisher verstreutes Wissen zusammengetragen, sondern die neuesten Forschungsergebnisse zu den Anfängen der Weinkultur in China berücksichtigt und dabei zugleich stets einen Blick auf die gegenwärtige Weinbaupraxis behalten. Bereits für die Epoche der ausgehenden Steinzeit werden die „Zusammenhänge zwischen magisch-spirituellem Ritual, alkoholischem Getränk und Entstehung zivilisatorischer Errungenschaften“ (S. 1) entfaltet. – Das Buch dürfte auf Jahre hinaus das Standardwerk zur chinesischen Weinkultur darstellen und gehört in jede Weinbibliothek.
Hermes Spiegel, China liegt nah. Über chinesisches Denken und seine zeitgenössische westliche Rezeption.
Hamburg: Felix Meiner 2020. 518 S., Hardcover. ISBN 978-3-7873-3714-9. € 68,00.
Während in dem Handbuch zum Wein im Hintergrund stets auch praktische Verkostungen stattfanden und daraus persönliche Erfahrungen berichtet wurden, tritt das Buch von Hermes [Coassin-]Spiegel von vornherein als „ein Stück Autobiographie“ (S. 11) auf. Im Vordergrund steht die Frage, „ob die alten Chinesen ganz anders“ gedacht haben als „‚wir‘ in der westlichen Hemisphäre“ (S. 453), und er kommt zu dem Ergebnis, dass die „in der westlichen Welt allenthalben vorkommende […] Art zu denken in den alten chinesischen Texten weitgehend vorhanden ist“ (S. 456), und er spricht von einer „Nähe des chinesischen zum westlichen Denken“ (S. 457). Damit unterstreicht er seine im Hauptteil des Buches durch Kritik einer Anzahl von Sinologen gewonnene Erkenntnis, dass sich die meisten bisherigen sinologischen Positionen „durch ein ausgesprochen unkritisches Verhältnis zu den philosophischen Ansätzen“ auszeichneten, „die bei ihnen zur Anwendung kommen.“ (S. 458) Den „sinologischen Umweg“ (S. 459) rechtfertigt der Verfasser gleichwohl im Schlusswort, der dann nochmals hervorhebt, „dass es ein chinesisches Denken nur insofern gibt, als die jeweiligen Interpretationen aus ihnen ein solches machen.“ (S. 459) Ausgehend von der Kritik an einzelnen Auslegungen zu philosophischen Positionen im klassischen China dann auch „den Sinologen“ generell eine „Objektivitätsillusion“ zu unterstellen, scheint mir jedoch nicht gerechtfertigt. Auch ohne solche Unterstellung steht es jedem frei, es zum „Ziel der China-bezogenen philosophischen Forschung“ zu erklären, herauszufinden, wie sich die Aussagen der klassischen Autoren „in westliche Denkweisen einfügen und verwerten lassen.“(S. 463). Hierzu ist das Buch durchaus eine Ermunterung.
Heinrich Geiger, Den Duft hören. Natur, Naturbegriff und Umweltverhalten in China. Berlin:
Matthes und Seitz 2019. 307 S., Hardcover. ISBN 978-3-95757-550-0. € 28,00.
Wer einmal, mit den eigenen Vorannahmen im Gepäck, neue Perspektiven sucht, ist gut beraten, sich den Exkursen Heinrich Geigers anzuschließen, der den Naturdiskurs des klassischen China bis in die Gegenwart ausschreitet. Bei diesen Erkundungen kann man sein Gespür für den in China zuerst entwickelten Landschaftsbegriff überprüfen und sich Weltbildkonstruktionen vor Augen stellen, welche sich tatsächlich von den gewohnten westlichen Vorstellungen unterscheiden. Seinen Ausgang nimmt Heinrich Geiger von dem uns selbst inzwischen längst vertrauten „Garten in der Stadt“ und führt den Leser dann in die seit jeher künstliche und doch so ersehnte „Harmonie von Natur und Mensch“ im chinesischen Denken.
Marcel Grzanna, Eine Gesellschaft in Unfreiheit. Ein Insiderbericht aus China, dem größten Überwachungsstaat der Welt.
München: Goldmann 2020. 320 S., Paperback. ISBN 978-3-442-14265-1. € 15,00.
Wolfram Elsner, Das chinesische Jahrhundert. Die neue Nummer eins ist anders.
Frankfurt am Main: Westend 2020. 384 S., Paperback. ISBN 978-3-86489-261-5. € 24,00.
Christoph Leitl, China am Ziel! Europa am Ende?
Salzburg-München: Ecowin 2020. 166 S., Hardcover. ISBN 978-3-71100256-3. € 20,00.
Wolfgang Hirn, Shenzhen. Die Weltwirtschaft von morgen.
Frankfurt am Main: Campus 2020. 286 S., Hardcover. ISBN 978-3-593-51192-4. € 25,00.
Die Flut der Bücher über das heutige China ist kaum mehr zu überblicken. Lesenswert sind die meisten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Wer etwa mehr über einen immer wieder zu China in den Medien sich äußernden Journalisten wissen möchte, kann zu Marcel Grzannas „Insiderbericht“ greifen, in dem dieser von seinen Erfahrungen und Erlebnissen aus neun Jahren im „Reich der Mitte“ berichtet und seine Überlegungen zu den „Kosten“ darlegt, welche die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte einfordert. – Einen wohlwollenden und damit gelegentlich weniger verengten, dann aber doch auch wieder viel Euphorie verströmenden Blick auf China vermittelt der Professor für Volkswirtschaft Wolfram Elsner in seinem Buch, dessen Lektüre wegen der zahlreichen Hinweise auf die übliche China-Berichterstattung in den MainstreamMedien zur Gewinnung eines eigenen Standpunktes gut beitragen kann. – Der österreichische Unternehmer und Politiker Christoph Leitl wirbt mit seinem Pamphlet „China am Ziel! Europa am Ende?“ für ein selbstbewussteres Europa mit einer eigenen Sicherheitskonzeption. – So wichtig eine neue innereuropäische Debatte ist, so besteht doch die vorrangige Herausforderung darin, Chinas eigene Entwicklungsperspektive besser zu verstehen. Dazu liefert der bekannte China-Kenner Wolfgang Hirn mit seinem Buch über Shenzhen als Beispiel für „Die Weltwirtschaft von morgen“ einen wichtigen Beitrag. Denn dort, unweit von Hongkong, kann man heute Entwicklungen erleben, in deren Verlauf sich China weiter verändern wird, und zwar in einer geradezu atemberaubenden Weise. Wie diese neue Welt regierbar und für Menschen erträglich oder gar zuträglich bleibt, ist vollkommen ungewiss. Sich gedanklich auf diese Prozesse einzulassen, hilft Wolfgang Hirn bei seinem genaueren Blick auf Shenzhen, dem man die eingangs erwähnte Reportage mit dem Blick auf den „Klub der Nutzlosen“ an die Seite stellen sollte.
Klaus Mühlhahn, Making China Modern. From the Great Qing to Xi Jinping.
Cambridge, Mass.: Belknap Press of Harvard University Press 2019. xvi+717 S., Hardcover. ISBN 978-0-674-73735-8. GPB 31,95.
So wichtig einzelne Orte und Zonen Chinas sind, so unabdingbar ist zugleich der Blick aufs Ganze, im Falle des heutigen China die Berücksichtigung der Krisen und Erfolge seit der Errichtung der Fremdherrschaft der Mandschu in der Mitte des 17. Jahrhunderts. In vier Schritten schildert Klaus Mühlhahn zunächst den Glanz des Mandschu-Reiches, um sodann als Begleiterscheinungen zu den Globalisierungsprozessen seit dem 19. Jahrhundert die Revolutionen und gesellschaftlichen Umbrüche sowie den programmatischen Aufbau des sozialistischen China bis zum Tode Maos 1976 und im letzten Teil den seither die Welt in Atem haltenden Aufbruch Chinas in die Moderne zu schildern. Ein detailreiches und doch die großen Linien nicht aus dem Auge verlierendes Buch, dem eine große Leserschaft zu wünschen ist.
Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer (hsg) ist ein deutscher Sinologe und Publizist. Er lehrt seit 1981 auf ostasienwissenschaftlichen Lehrstühlen in München und Göttingen und war bis 2015 Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Seither ist er Seniorprofessor an der Eberhard Karls Universität und Direktor des China Centrum Tübingen. Zuletzt erschienen von ihm in der Reihe C.H.Beck Wissen in neuen Auflagen „Das alte China“ (2018), „Der Buddhismus“ (2019) und vollständig neu bearbeitet „Das neue China“ (2020).
Helwig.Schmidt-Glintzer@gmx.de