Landeskunde

Chinas Menschen: Neuaufbruch, Verunsicherung und Subjektivität

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 3/2017

Mark Siemons: Die chinesische Verunsicherung. Stichworte zu einem nervösen System. München: Carl Hanser Verlag 2017. 192 Seiten. ISBN 978-3-446-25537-1. € 22,00

Berichte aus dem heutigen China häufen sich. Wir werden mit einer wachsenden Vielfalt an Facetten konfrontiert, und gepaart mit beschleunigter Veränderung stellt sich der Eindruck der Verunsicherung ein. Dies thematisiert Mark Siemons nach zehnjähriger Tätigkeit als Kulturkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Peking in einem klugen und einfühlsamen und zugleich brillant geschriebenen Bericht. Ganz China, so stellt er fest, sei auf den Platz des Himmlischen Friedens hin als „seine leere Mitte“ ausgerichtet [S. 10]. Die an das Chinabild Georg Wilhelm Friedrich Hegels erinnernde Formulierung, China scheine „gar keinen Begriff von sich selbst zu haben“ [S. 20], erläutert Siemons mit dem Begriff der „Leere“ des Chinabegriffs und seiner „intellektuellen Ungreifbarkeit“. Dies gehe einher mit einer frappierenden „Fähigkeit zum Aushalten von Selbstwidersprüchen“ [S. 21]. Zwischen solche Bilder vom ambivalenten und „stummen“ China [S. 30] einerseits und den Rückblick auf die 4.-Mai-Bewegung von 1919, als in China „das letzte Mal“ der „Traum eines gesamtgesellschaftlichen Subjekts“ geträumt worden sei [S. 39], andererseits, drängt sich eine Fülle von Hinweisen auf reale Veränderungen, auf einen neuen Mittelstand und Hochgeschwindigkeitszüge und Urbanisierung. Sobald die Klage über die Leere verstummt ist und man sich auf Details einlässt, bleibt zwar die Verunsicherung, aber man gewinnt dann doch Kenntnisse von gelebtem Leben und einer beschleunigten Modernisierung in China, aus denen sich der Eindruck ergibt, dass sich mit China ein erheblicher Teil der Menschheit in eine neue Moderne und damit eine offensichtlich ungewisse Zukunft zu begeben scheint – allerdings nicht als Nation und somit ohne einen „Begriff von sich selbst“, aber doch mit Abermillionen Menschen mit neuen eigenen Lebensentwürfen. Vielleicht ist die von Mark Siemons mit dem Begriff der Leere adressierte Offenheit daher zugleich der Grundton der nachholenden und dabei doch eigene Wege suchenden Entwicklung Chinas und seiner Einwohner als eines Teils der Menschheit aus der Rückständigkeit in eine neue Moderne, deren Ausgang noch offen ist.

 

 

Fabian Heubel: Chinesische Gegenwartsphilosophie zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag 2016. 256 Seiten. Broschur. ISBN 978-3-88506-745-0. € 15,90

Denn die Leere Chinas ist keineswegs so leer wie sie scheint, sondern in der Frage der Orientierung und Entwicklungsrichtung der Moderne brennt in China seit über hundert Jahren eine heftige Debatte darüber, in welchem Ausmaße man westliches Wissen und westliche Kultur übernimmt und in welchem Umfang das Chinesische – was immer das im Einzelnen sei, denn China ist mindestens so vielfältig wie Europa! – auch die Zukunft prägen soll. Es geht um eine Suche nach einer die Zeitenbrüche überdauernden Identität. Da überrascht es wenig, wenn diese Frage gewissermaßen die Folie abgibt, vor welcher Fabian Heubel seine kluge und wohlinformierte Darstellung der chinesischen Gegenwartsphilosophie entfaltet, die er aus der Perspektive des Verhältnisses von Philosophie und Revolution entwickelt, weil ihm zu Recht eine Rekonstruktion der chinesischen Gegenwartsphilosophie unmöglich erscheint, ohne die im Aufbruch entfalteten revolutionären „(Ab)Gründe von Philosophie in China zu berücksichtigen“ [S. 13]. Verknüpft mit den Jahreszahlen 1898, 1911 und 1949 sieht Heubel drei Weisen des Umgangs mit den Herausforderungen der Moderne: eine konservative, eine liberale und eine sozialistische, bei denen sich seit 1989 zunehmend herausstellt, dass sie tunlichst nicht voneinander separiert oder gegeneinander gestellt werden sollten, sondern – wenn auch unter Hinnahme paradoxer Konstellationen – nur miteinander gedacht werden können. Bereits die ersten beiden Sätze im Eingangskapitel „Hybride Modernisierung“ sind Programm: „Die hybride Kommunikation zwischen China und Europa verändert sich einschneidend, sobald die Perspektive der politischen und kulturellen Modernisierung Chinas mitsamt ihren intellektuellen Konsequenzen Berücksichtigung findet. Seitdem anglo-europäische Staaten im 19. Jahrhundert begonnen haben, imperialistisch nach China zu expandieren, sind chinesisches und europäisches Denken in China dazu genötigt worden, miteinander zu kommunizieren.“ [S. 20] Es gibt ebenso nachdenkliche wie wunderschöne anregende Passagen in diesem Buch wie jene sich an den von dem Philosophen des Altertums Zhuangzi angefachten paradoxen Diskurs über Traum und Besinnung anschließende Frage: „Müsste Europa, um zur Selbstbesinnung zu kommen, nicht zunächst einmal gewahren, dass es einen Traum träumt, von dem es noch nicht weiß, dass es ein Traum ist, weil es sich selbst für den Ort der großen Besinnung, des großen Erwachens, der großen Aufklärung, der großen Vernunft hält?“ [S. 150]. Man versteht nach der Lektüre dieses Buches mehr von der geistigen Vielfalt des heutigen China und von den Verschränkungen chinesischen und europäischen Denkens und vermag sich dann vielleicht besser auf jene transkulturelle Dynamik einzulassen, ohne deren Erörterung wir wohl kaum zukunftsfähig werden dürften. Diese dynamische Entwicklung ist zugleich ein Neuaufbruch, den wirklich zu verstehen durch die immer wieder angestimmte Rede von der kollektiven Natur der Chinesen im Gegensatz zur Individualität des Abendländers verstellt wird. Es handelt sich um eine Vorstellung, die auch von einigen chinesischen Intellektuellen aufgegriffen wurde. Andere verknüpfen das angebliche Fehlen individualistischer Haltungen und den „tief verwurzelten, autoritären und kollektivistischen Charakter ‚der Chinesen‘“ mit dem fortdauernden Bann der imperialen Ordnung, die trotz wirtschaftlicher Modernisierung noch nicht wirklich überwunden sei. Dann gibt es aber auch solche, die, wie es Fabian Heubel zeigt, eine auf frühe chinesische Traditionen zurückgreifende „Philosophie der Transformation“ propagieren. [S. 97-99]

 

 

Jörg Endriss, Sonja Maass: China Kinder. Moderne Rebellen in einer alten Welt. Meerbusch: Conbook Verlag 2017. 432 Seiten. 16-seitiger Bildteil. Premium-Broschur mit Einbandklappen. ISBN 978-3-95889-137-1. € 12,95

Was noch von Mark Siemons als Leere apostrophiert wird, ist vielleicht aber doch nur Ausdruck einer sich in rascher Bewegung befindlichen überwiegend urbanen Bevölkerung, deren Jugend tatsächlich neue Wege geht, die zwei Journalisten in einer Serie von Portraits schildern und dabei zu dem Ergebnis kommen: „Chinas Jugend ist viel bunter, moderner und reflektierter, als es uns aus der Distanz oft erscheint.“ Die Zeugnisse junger Chinesinnen und Chinesen haben Jörg Endriss und Sonja Maas dank der Förderung durch die Robert Bosch Stiftung in dem Buch „China Kinder. Moderne Rebellen in einer alten Welt“ zusammengetragen und mit hilfreichen Erläuterungen zum besseren Verständnis versehen. Tatsächlich ist das Leben der meisten von Mühsal und wirtschaftlichen Zwängen und sozialem Druck geprägt – doch gerade die Vielfalt der Perspektiven und die Unterschiedlichkeit der sozialen Lagen zeugen von der Differenziertheit der Gesellschaft Chinas, in der die Jungen davon ausgehen, dass sie selbst ihres Glückes Schmied sind und der Staat bestenfalls günstige Rahmenbedingungen schafft, auf die freilich kein Verlass sei. Eine überaus lesenswerte Reihung von authentischen Selbstzeugnissen und Selbstbildern des jungen China.

 

 

Anett Dippner: Miss Perfect – Neue Weiblichkeitsregime und die sozialen Skripte des Glücks in China. Bielefeld: Transcript Verlag 2016. 338 Seiten, kartoniert. ISBN 978-3-8376-3743-4. € 39,99

Dieser intensiven Suche nach dem Glück geht mit Blick auf die Frauen eine sozialwissenschaftliche Studie mit dem Titel „Miss Perfect. Neue Weiblichkeitsregime und die sozialen Skripte des Glücks in China“ von Anett Dippner nach. Sie rekonstruiert unter Heranziehung von „Frauenratgebern“ die Geschlechteridentitätsentwürfe der als „neue neue Frauen“ bezeichneten jungen urbanen weiblichen Generation und zeigt ernüchternd, wie unsicher und weiterhin benachteiligt trotz oft zur Schau gestellten Selbstbewusstseins gerade auch jüngere Frauen in China sind. Durch die systematische Betrachtung der Formen der Interessensaushandlung und eine sprachlich auf sozialanalytische Abstraktion zielende Darstellungsweise empfiehlt sich dieses Buch Personen mit einem nachhaltigen Interesse an analytischer Durchdringung der Geschlechterbeziehungen und der Suche nach emanzipatorischen Handlungscodes in einer für Frauen oft ungünstigen Lage. Die Studie ist jedoch auch jedem ganz allgemein an der chinesischen Gesellschaft Interessierten zu empfehlen, denn sie führt im Ergebnis zu einem frischen und erweiterten Blick auf die Dynamik in den sich neu formierenden Mittelschichten Chinas. Wie etwa die Erwartung weiblicher „Sanftheit“ (wenrou) verhandelt und als Maßstab für gelungene Weiblichkeit auch anerkannt wird, gibt Einblicke in die zahlreichen Aushandlungsprozesse von Geschlechterrollen und Geschlechteridentität im heutigen China.

 

 

Frank Quilitzsch: Auf der Suche nach Wang Wei. Eine Reise durch China zwischen Damals und Heute. Esslingen: Drachenhaus Verlag 2016. 239 Seiten. Hardcover. ISBN 978-3-943314-31-1. € 16,95

Die Reise eines ehemaligen DAAD-Lektors für Deutsch im Frühjahr 2015 nach China und seine Begegnung mit ehemaligen Studenten nach 25 Jahren bringt viele Erinnerungen und neue Beobachtungen zusammen. Diese Beschreibung verwirrt zunächst in ihrem häufigen Perspektivwechsel, und doch spiegelt sich gerade darin trefflich die Zusammensetzung eines durch zeitliche Abstände differenzierten Bildes von China, in dem die Traumatisierungen der Vergangenheit trotz gegenteiligen Anscheins weiter wirksam und oft handlungsbestimmend sind. Erinnerungen des Autors und seiner chinesischen Gesprächspartner fließen ineinander. Eingeflochten sind die aufgezeichneten Erinnerungen in fünf Teilen des Nanjinger Germanisten Ye Fengzhi (1929–1997), dem das Buch gewidmet ist, jeweils unter dem Titel „Aus den geheimen Aufzeichnungen des Herrn Ye“. Dieser „Herr Ye“, in den achtziger Jahren Lektor für Chinesisch an der Universität München, berichtet von seinen Erinnerungen an die Zeit der Kulturrevolution. So wird ein halbes Jahrhundert deutsch-chinesischer Begegnungen lebendig einfangen und stellt sich neben die neueren Bilder von scheinbarer Leere und bunter Lebensfülle der Gegenwart. Erst beim Ausschreiten dieses komplexen Chinabildes entsteht die Chance einer angemessenen Urteilsfähigkeit über Risiken und Chancen des neuen China. (hsg) ¢

Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer (hsg) ist ein deutscher Sinologe und Publizist und als Seniorprofessor der Universität Tübingen seit 2016 Gründungsdirektor des China Centrum Tübingen und Präsident des Erich-Paulun-Instituts. Von 1981 bis 1993 Inhaber des Lehrstuhls für Ostasiatische Kultur- und Sprachwissenschaft an der Universität München, von 1993 bis 2015 Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Seit 2015 Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Asienkunde. Er unterrichtete an den Universitäten Bonn, München, Göttingen, Hamburg und Hannover. Im Jahr 2015 erhielt er den „Staatspreis der Volksrepublik China für besondere Verdienste um die chinesische Buchkultur“. Helwig.Schmidt-Glintzer@gmx.de

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