Chinas Aufstieg gilt vielen als Bedrohung. Im Westen werden immer neue Notwehrmaßnahmen proklamiert und Schulterschlüsse erzwungen, wie jüngst von Präsident Biden. Inzwischen überlagert die Angst vor China die Aufmerksamkeit für die verheerenden Folgen der Klima- und der Biodiversitätskrise mit dem rasanten Artensterben. Wie könnte da ein aufgeklärtes Europa seine historischen Erfahrungen einbringen? Dies fragte sich vor achtzig Jahren bereits Erich Auerbach (1892–1957) in seinem im Istanbuler Exil geschriebenen Buch »Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur«, als ihn die Feststellung: „die verschiedenen Lebensformen sind durcheinandergeschüttelt, es gibt auch keine exotischen Völker mehr“, dazu führte, aus der „Wirklichkeitsfülle und Lebenstiefe eines jeden Augenblicks“ auf „das elementar Gemeinsame unseres Lebens“ zu schließen. Um nun angesichts der politischen und ökonomischen Veränderungen, die immer weniger das Ergebnis demokratischer Partizipation sind, die Frage Erich Auerbachs aufzugreifen, gilt es, einmal genauer nach China zu schauen und dabei auch den Stimmen aus Wissenschaft und Gesellschaft Chinas zuzuhören, wie sich dort „das elementar Gemeinsame unseres Lebens“ artikuliert. Die Herausgeber einer neuen im Campus-Verlag unter dem Titel »China – Normen, Ideen, Praktiken“ erscheinenden Reihe, deren ersten Band wir unten vorstellen, will genau dies fördern. Sie schreiben: „Zu selten kommt bei uns zur Sprache, dass China ein Land mit einer höchst regen intellektuellen Diskussion ist. Selbst wenn sich diese auf dem Festland nicht immer unbeschwert entfalten kann, gibt es doch eine große Zahl geistig unabhängiger Köpfe, deren Forschungsergebnisse und Thesen über ihr Land und dessen Wechselwirkungen mit der Welt wir kennen sollten.“ Tatsächlich eröffnet die Kenntnis dieser Diskurse und ihrer historischen Hintergründe überhaupt erst den Zugang zu einem Verständnis der Modernisierungskonzepte in China, die wohlgemerkt aus einem fundierten Wissen um die Krisen der europäischen und der amerikanischen Moderne heraus entwickelt wurden. Mehr als irgendein anderes Land kann daher China als Zukunftslabor des Anthropozän im digitalen Zeitalter gelten, als Menschheits-LAB und Testfall für ein Überleben der Menschheit, aber auch als ein Land, in dem die Menschen nach neuen Freiheiten suchen.
Thomas Heberer, Social Disciplining and Civilising Processes in China. The Politics of Morality and the Morality of Politics. London/New York: Routledge 2023. 236 S., 24 Abb., Hardback. ISBN 9781032404363. GBP 130,00.
Es könnte sich erweisen, dass im Übergang zu einer neuen Moderne mancherorts auch neue Formen der Zivilisierung und Disziplinierung gefunden werden müssen, gerade in jenen Gegenden, wo derzeit Hunger, Elend und Korruption vorherrschen und wo geregelte staatliche Strukturen längst zerfallen sind. Zehn Jahre nach der Installierung von Xi Jinping als Staatspräsident der Volksrepublik China und in einer Zeit, in der die Modernisierung Chinas in ein neues Stadium zu treten scheint, legt Thomas Heberer als ein Beispiel eine fundierte Analyse der sozialen Disziplinierung als Teil der Modernisierung Chinas vor. Diese sieht er als zivilisatorischen Prozess, wie er für die Europäische Frühe Neuzeit von Max Weber, Norbert Elias und Michel Foucault konstatiert und analysiert wurde. Dabei interessieren Heberer Gemeinsamkeiten ebenso wie Unterschiede, und man fragt sich von Anbeginn der Lektüre, ob sich im Modernisierungsprozess Chinas möglicherweise Elemente finden, welche den inzwischen offenkundigen globalen Herausforderungen eher gerecht werden als es das Modell des Westens bisher vermochte. Dieser Blick auf China steht in starkem Gegensatz zu der Deutung des Aufstiegs Chinas samt seiner Modernisierungsziele und der auf Weltoffenheit zielenden Belt-and-Road-Initiative als Bedrohung der bestehenden Weltordnung. Heberer geht von der Einsicht aus, dass gesellschaftlicher Wandel und alle Zivilisierungsprozesse von Maßnahmen sozialer Disziplinierung gekennzeichnet sind und China dabei keine Ausnahme darstellt. Bei seinen Darlegungen verbindet er eigene Erfahrungen und aktuelle Berichte mit dem in der chinawissenschaftlichen Forschungsliteratur niedergelegten angehäuften Wissen – allein 30 Seiten Literaturverzeichnis – und entfaltet dies in sieben Kapiteln, um im achten Kapitel einen Rückblick vorzunehmen und ein Resümee (S. 168-180) zu ziehen. Dort skizziert Heberer noch einmal Chinas Suche nach Modernisierung und Selbstbestimmung in den letzten 150 Jahren, immer wieder auch auf Japan als Vorbild und Parallele verweisend. Bevor er eine Europa und China vergleichende Perspektive sucht (S. 175), thematisiert Heberer vier für China kennzeichnende Besonderheiten, die, wie in den vorangehenden Kapiteln dargelegt und nun nochmals ausgeführt, bereits von Anfang an, also seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts, in China angelegt waren: Erstens, das Verständnis von einer zentralen staatlichen Instanz; zweitens die enge Verknüpfung zwischen Nationsbildung, Modernisierung und Erziehung der Bevölkerung; drittens die Notwendigkeit einer Bildung und Umerziehung zur Anpassung an die neue, überwiegend urbanisierte Gesellschaft; viertens die Zurechnung der personellen und institutionellen Verantwortlichkeit für diesen zivilisatorischen Prozess. Da in all diesen vier Feldern die Entwicklungsziele längst nicht erreicht sind, ist es in den letzten Jahren verstärkt zu Debatten und zu Maßnahmen der Nachsteuerung gekommen, woraus sich auch Regelungen zu stärkerer Steuerung durch die Kommunistische Partei ergeben haben. Heberers abschließende Diagnose fußt auf den sieben vorhergehenden Kapiteln, die allesamt höchst lesenswert sind und in der Summe gewissermaßen einer Differentialdiagnose der chinesischen Gesellschaft gleichkommen, die in ihren Besonderheiten gelegentlich fasziniert, aber auch befremdet, weil daran erkennbar wird, dass der weltweite Modernisierungsprozess eben auch in China zahlreiche Schattenseiten bereithält. Auch wird deutlich, dass manche heute für typisch „asiatisch“ gehaltene Maßnahmen die Folge von Nachahmungen europäischer Praktiken aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert sind. Das zeigt sich bereits in dem spannend geschriebenen ersten Kapitel zur Covid-19-Pandemie, in dem die Tradition von Seuchenbekämpfungen anhand einzelner historischer Beispiele mit der Politik der Null-Covid-Strategie der letzten Jahre verknüpft wird. Am Beispiel der Lockdown-Strategie in Shanghai und den landesweiten Protesten im November und Dezember 2022 zeigt Heberer die Grenzen der sozialen Belastbarkeit durch Zwangsmaßnahmen, und er stellt fest, dass bezogen auf die beiden Voraussetzungen für einen erfolgreichen Disziplinierungsprozess von oben, „effective state action and popular trust in that action“, „the pandemic disciplining process has ultimately failed“ (S. 7).
Ge Zhaoguang, Zentrum und Peripherien in der chinesischen Geschichte. Dynamische Grundlagen des heutigen China. Aus dem Chinesischen von Maja Linnemann. Frankfurt/M.: Campus 2023. 238 S. Kartoniert. ISBN 978-3-593-51735-3. € 30,00.
Zu den Aushandlungen über die innere Verfasstheit Chinas und dessen Entwicklungen gehört ein die oben erwähnte Reihe des Campus-Verlages »China – Normen, Ideen, Praktiken« eröffnendes Buch von Ge Zhaoguang, auf dessen Überlegungen zu den Außengrenzen bereits in einem früheren Heft des fbj (3/2023, S. 30, „Wann debattiert China darüber, was China ist?“) hingewiesen wurde. Nun liegt ein ganzes Buch dieses Shanghaier Historikers in deutscher Sprache vor. In ihrer instruktiven „Einleitung“ stellt Sabine Dabringhaus, eine der Herausgeberinnen der Reihe, den Autor und seine Positionen vor und betont zu Recht, „Nur auf der Grundlage eines vertieften und nuancierten Wissens über China und seine politische und kulturelle Entwicklung können staatlich verordnete Geschichtsbilder auf chinesischer und schwach begründete Prognosen auf westlicher Seite einer rationalen Prüfung unterzogen werden.“ (S. 12) Mit der Thematisierung von Zentrum und Peripherie und der Rede von einem „fluiden Charakter des chinesischen Nationsbegriffs“ verweist Ge auf einen immer wieder neu sich verwirklichenden Prozess, den er als ein »zu ›China‹ werden« beschreibt und der es ausschließt, dass Chinas Geschichte in einer Globalgeschichte restlos aufgeht. Daher auch warnt Ge davor, wie Sabine Dabringhaus hervorhebt (S. 21), den historischen Begriff des »alles unter dem Himmel« als „ein Modell einer neuen chinesischen Weltordnung zu missbrauchen“. Damit wird ein hier nicht weiter ausgeführter, aber inzwischen doch „weltbewegender“ Diskurs angedeutet, der sich auf die Herausforderung der Vereinigten Staaten als einziger Weltmacht durch China bezieht. Denn inzwischen wird dem Selbstverständnis eines »American Exceptionalism« ein »Chinese Exceptionalism« entgegengesetzt (siehe Congyan Cai, The Rise of China and International Law. Taking Chinese Exceptionalism Seriously. Oxford 2019).
Marc Andre Matten / Egas Moniz Bandeira (Hg.), Globalgeschichten aus China. Aktuelle Debatten in der Volksrepublik. Frankfurt/M.: Campus 2023. 340 S. + 11 S. Anhang. Kartoniert. ISBN 978-3-593-51702-5. € 39,00
Einen Einblick in die innerchinesischen Debatten zum Verhältnis von globaler und nationaler Geschichte geben uns die Herausgeber eines neun Stimmen versammelnden Bandes, darunter auch ein Beitrag von Ge Zhaoguang aus dem Jahr 2013 unter der Fragestellung „Ist die nationale Geschichte im Trend der Globalgeschichte noch von Bedeutung?“ (S. 121-132). Die meisten Beiträge, einschließlich des letzten, Rückblick und Ausblick suchenden Beitrages von Liu Wenming, suchen das Verhältnis von Weltperspektive und einer nationalstaatlichen Perspektive zu bestimmen und streben an, eine „globale Geschichte mit chinesischen Merkmalen zu konstruieren“ (S. 338), so dass Liu Wenming bei einer „Suche nach einer Globalgeschichte mit chinesischen Besonderheiten“ hoffen zu können meint, dass dann „die Diskursmacht chinesischer HistorikerInnen in der internationalen Gemeinschaft der Globalhistoriker künftig zunehmen“ werde (S. 339).
Wáng Yángmíng, Luó Qinshùn, Ouyáng Dé, Kontroversen über die Grundlagen ethischen Handelns. Chinesisch-Deutsch. Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Iso Kern [= Sino-philosophica 01. 2023]. Hamburg: Felix Meiner 2023. 238 S., geb., ISBN 978-3-7873-4337-9. € 49,00.
Diskussionen und Kontroversen hat es in China immer schon gegeben, und anders wäre das Gelingen dieser aus höchst disparaten Elementen zusammengesetzten und sich immer wieder neuen Einflüssen aussetzenden Kultur auch nicht denkbar gewesen. So anspruchsvoll allein schon die Beschäftigung mit Debatten und Kontroversen im heutigen China ist, so viel mehr trifft dies auf Debatten der Vergangenheit zu. Umso mehr muss man den Herausgebern der neuen Reihe Sino-Philosophica, dem Felix Meiner Verlag und dem Autor Iso Kern danken. Die Grundfrage, die Iso Kern als Philosophen beschäftigt und die er nun an einige auf uns gekommene Texte aus der Zeit um 1500 n.Chr. richtet, also der Zeit der europäischen Reformationsbewegung, lautet: „Hat sich ethisches Handeln nach der empirisch zu erkennenden objektiven kosmischen Ordnung (»Ordnungsprinzipien des Himmels«) und nach den objektiv vorliegenden tradierten Schriften der »Heiligen« […] oder aber nach dem eigenen Herzen (Geist) bzw. nach dem »ursprünglichen Wissen« und nach der eigenen Einsicht zu richten?“ (S. 10). Letzteres favorisierte Wang Yangming und erörterte dies mit Zeitgenossen. Es geht also um den Gegensatz von Tradition und eigenem individuellem Denken, und gerade deswegen ist das vorliegende Buch zum Studium dieser traditionsreichen Debatte ebenso wie zum Nachlesen geeignet. Zudem ist es ein schönes Buch, welches in die Beschäftigung Wang Yangmings (1472–1529) mit der konfuzianischen Tradition, insbesondere mit der Philosophie Zhu Xis (1130–1200), einführt. Die Einleitung (S. 15-66) stellt die Korrespondenzpartner Wang Yangmings vor, die Mitdiskutanten Luo Qin shun (1465–1547) und Ouyang De (1496–1554) und leuchtet das philosophische Themenfeld im Einzelnen aus und unterstreicht die bis heute große Aktualität von Wang Yangmings Denken in der chinesischen Geisteswelt. Die zweisprachige synoptische Edition (S. 70-199) ist ein wahres Lesevergnügen. Die Auflösung vieler erläuterungsbedürftiger Passagen im Chinesischen bietet die reich annotierte Übersetzung. Wang Yangming will Zhu Xis letzte Lehre gegen eine missverstehende Zhu Xi-Interpretation wieder in ihr Recht einsetzen, zugleich um seine eigenen Überzeugungen dadurch zu bestätigen. Wenn man dann weiterliest und die Einwendungen des Korrespondenzpartners, der auf einer anderen Deutung Zhu Xis beharrt, nachzuvollziehen sucht und schließlich Wang Yangmings ausführliche Antworten liest, bleibt man im Dreieck zwischen der sprachlich wohldurchdachten Übersetzung Iso Kerns, dem chinesischen Text und fortdauernd neu einsetzender Verständnisbemühung. Nach einem den Teil II des Buches bildenden Lehrschreiben an seinen Schüler Ouyang De, folgt dann im dritten Teil ein Briefwechsel zwischen diesem Schüler Wang Yangmings, der die Auseinandersetzung seines Lehrer mit Luo Qinshun fortsetzt, ein die Debatte ausweitender Briefwechsel, der mit der Devise des Ouyang De endet, dass es das Höchste sei, den eigenen Lehrer zum Freunde zu gewinnen. Man kann dieser Reihe nur eine Fortsetzung dieses wunderbaren Auftaktes wünschen.
Rainer Kloubert, Warlords. Ein Bilderbogen aus dem chinesischen Bürgerkrieg. Berlin: Elfenbein 20 Leinen, geb., ISBN 978-396160-077-9. € 65,00.
Die Frage nach einem ethisch verantwortbaren Handeln interessierte auch die sogenannten Kriegsherren, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die von ihnen beherrschten Teile Chinas mit zum Teil drastischen Erziehungsprojekten zu modernisieren suchten. Rainer Kloubert, der es inzwischen zu hoher Professionalität in Fundsachen gebracht hat, spannt einen weiten, mit dichten Informationen und eigenen Erlebnissen zusammengehaltenen Bilderbogen um den „Jungen Marschall“ Zhang Xueliang (geboren am 3. Juni 1903) auf. Das großformatige Buch dreht sich um Bilder, um Personennetzwerke und immer auch um Orte, wie um den von Chiang Kai-shek nach seinem, aber auch Zhang Xueliangs Lieblingsphilosophen Wang Yangming genannten Yang-ming-Berg (S. 17). Zhang Xueliang, der älteste Sohn des „Königs der Mandschurei“, der aus dem Norden gegen Chiang Kai-shek kämpfte, steht im Mittelpunkt. Der sechsunddreißigjährige „Junge Marschall“ hatte einmal sogar Chiang Kai-shek festnehmen lassen, im Jahre 1936, ihn dann aber zurück nach Nanjing begleitet, wo ihm selbst der Prozess gemacht wurde und sein weiteres Schicksal „lebenslänglicher Arrest“ bedeutete, zunächst in der Geburtsstadt Chiang Kaisheks in der Provinz Zhejiang (S. 330), zuletzt auf Taiwan bis 1990. Nach diesem Auftakt erzählt Kloubert reich bebildert Kindheit und Jugend und führt uns so durch die Geschichte Nordchinas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Beim Durchblättern entfaltet sich die bunte Welt jener Zeit, das Militär, die Frauen, die Reichen und die Künstler. Alle treten auf und alle Ereignisse werden verortet und ausführlich geschildert, und wir können die ganze Lebensgeschichte jener Zeit der Rivalitäten unter den Kriegsherren miterleben, Jahre der Entscheidungen, in denen noch lange nicht feststand, wie der weitere Verlauf der Geschichte werden würde. Das Buch lebt von dem Nebeneinander von Bildern, der Aufhellung von Zusammenhängen und Beziehungen und Rückblicken in vergangene Zeiten. So wird der Band selbst zur Quelle zum Verständnis jener Zeit der Kriegsherren, die der Gründung der Volksrepublik China vorausgegangen war.
Bernd Ziesemer , Maos deutscher Top Agent. Wie China die Bundesrepublik eroberte. Frankfurt/M.: Campus 2023. 232 S., geb. m. Schutzumsch lag. ISBN 978-3-593-51795-7. € 28,00.
Einen Rückblick ganz anderer Art legt Bernd Ziesemer vor, den China seit der Zeit seiner Begeisterung für die Kulturrevolution Anfang der 1970er Jahre offenbar nicht mehr loslässt, der es sich aber nun zur Aufgabe gemacht hat, die Eroberung der öffentlichen Meinung in Deutschland, wie sie auch durch Russland betrieben werde, nun auch für den Fall Chinas nachzuzeichnen. „Seit ihrer Gründung 1949“ betreibe die Volksrepublik China erfolgreich ihre »internationale Einheitsfrontarbeit« (S. 9). Dies zeichnet er am Beispiel der Person Gerhard Ludwig Flatows (1910–80) nach. „Ein erfolgreicher Millionär und Stahlgroßhändler, ein Spion und Einflussagent, ein Lobbyist und Gründer der ersten deutschen Mao-Partei, ein Hasardeur und Strippenzieher, der streckenweise zum wichtigsten Helfer der Chinesen in Deutschland und zu einer Schlüsselfigur in Europa wurde.“ (S. 10) „Nur jemand wie er selbst“, Bernd Ziesemer also, „der beide so gegensätzliche Welten von innen kennt: den deutschen Maoismus der späten sechziger Jahre und die deutschen China-Geschäfte der letzten Jahrzehnte“, konnte diesem Mann auf die Spur kommen. (S. 11) Natürlich war der Mann schon früher auf den Schirm von Geheimdiensten geraten, des CIA etwa, und auch andere Archive bargen für die mehrjährigen Recherchen des Autors Material, der so „erstmals in Deutschland den Prototyp des »alten China-Freundes«“ zu portraitieren vermochte. (S. 12) Ausdrücklich geht es nicht um eine Deutung dieser Biografie, sondern darum zu zeigen, wie, so auch der Untertitel, „China die Bundesrepublik eroberte“. Damit geraten dann zugleich alle Institutionen und Aktivitäten, bei denen Gerhard Flatow irgendwie beteiligt war, in einen Generalverdacht, wie etwa die im Jahre 1957 in Köln gegründete Deutsche China-Gesellschaft (DCG) im Wikipedia-Eintrag, Zugriff am 21.08.2023. Und doch bilden der Lebenslauf und die hierfür zusammengetragenen Details ein beeindruckendes Bild dieses Mannes in seiner Zeit. Es ist nicht nur eine Bildungsbiografie, sondern das Buch zeichnet politische Richtungskämpfe in Deutschland nach, insbesondere in den Universitätsstädten, und dann die Rolle Flatows in Shanghai und die Bemühungen der deutschen Industrie, in den 1930er Jahren in China Fuß zu fassen. Und dann folgt die Schilderung von Flatows Aktivitäten und Netzwerken in der Zeit seit 1950 bis zum Ende der Kulturrevolution. Damit endet die Zeit dieses „bestvernetzten Mannes in der deutschen China-Szene“ (S. 185), während die „neuen Einflussagenten“, betont Ziesemer, „sich stark von Männern wie Flatow unterscheiden“. Das Buch, das Ergebnis einer großartigen Rechercheleistung, hat allerdings zwei gravierende Mängel. Vor allem entwertet es sich selbst durch die Einbettung der Biografie in das gegenwärtige Narrativ von der „lautlosen Eroberung“ und der chinesischen „Unterwanderung der westlichen Demokratien“, ohne die tatsächlichen geopolitischen Kontexte auch nur aufzurufen. Zudem wäre in einem Buch, in dem es um Netzwerke von Personen geht, ein Personenregister wünschenswert gewesen.
Science-Fiction aus China. Sechs Geschichten von heute über morgen. 2. überarb. Aufl. Augsburg: Maro 2022. 160 S., offene Fadenheftung. ISBN 978-3-87512-856-7. € 25,00.
Xi Xi, Meine Stadt. Roman. Aus dem chinesischen Kantonesisch und mit einem Nachwort von Karin Betz. Berlin: Suhrkamp 2023. 254 S., Hardcover. ISBN 978-3-518-43106-1. € 24,00.
Martina Bölck, Was Sie dachten, niemals über China wissen zu wollen. 55 süßsaure Einblicke in ein Land mit vielen Menschen. Neuss: Conbook 2022. 253 S., Paperback. ISBN 978-3-95889-369-6. € 9,95.
François Jullien, Vom Sein zum Leben. Euro-chinesisches Lexikon des Denkens. Berlin: Matthes & Seitz 2023. 340 S., Paperback. ISBN 978-3-75180120-1. € 18,00
Tu Weiming, Menschsein lernen. Entwurf eines Humanismus im konfuzianischen Geist. Hrsg. Von Kai Marchal. Berlin: Matthes & Seitz 2023. 156 S., Paperback. ISBN 9783-7518-0543-8. € 15.00.
Nun wird gelegentlich übersehen, dass China-Kompetenz vor allem bedeutet, sich auf die Gedanken und Gefühle einzelner einlassen zu können und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Die Science-Fiction-Literatur Chinas bietet hier einen guten Zugang, spiegelt sie doch Träume und Dystopieerwartungen gerade unter der jüngeren Generation. Die vorliegenden Geschichten wurden zuerst in einem Berliner Workshop vorgetragen und sind mit dabei entstandenen Illustrationen nun zusammen publiziert und durch fünf Antworten aus Berlin ergänzt – allesamt verstörend und bevölkert von seltsamen Wesen und Maschinen und doch in der ganzen Verwirrtheit wieder menschlich. Man muss sich schon auf die Texte einlassen. – Ähnliches gilt übrigens für den 1975 erstmals als Serie erschienenen Hongkong-Roman »Meine Stadt« der in Shanghai geborenen Schriftstellerin Xi Xi, eigentlich Zhang Yan (1937–2022), die 1950 nach Hongkong übersiedelte und dort blieb. Mit der Schilderung des Alltagslebens setzt sie dieser Stadt der 1970er Jahre ein Denkmal, die aufs Engste mit der weiteren Entwicklung Chinas verwoben bleibt, auch wenn ein halbes Jahrhundert die Stadt nochmals grundlegend veränderte. – Um sich auf China vorzubereiten, kann man sich auch von Martina Bölck an die Hand nehmen lassen, der China „wegen der Menschen, mit denen ich dort Freundschaft schließen konnte, ans Herz gewachsen“ ist und die in 55 Kolumnen einlöst, was etwas provokativ mit dem Titel »Was Sie dachten, niemals über China wissen zu wollen« beginnt. Martina Bölck, viele Jahre in China als Deutschlehrerin tätig und mit gründlichen Reiseerfahrungen, verdichtet diese Erfahrungen in leicht geschriebenen und oft witzigen Beobachtungen, derer man sich in China selbst dann wieder erinnern wird, um solchen Notizen durchaus eigene hinzuzufügen. Zusätzlich auf den Seiten 127 bis 130 gibt sie 55 Antworten zur Frage, „warum Sie immer wieder nach China reisen sollten“. Das Buch ist so ehrlich wie informativ und von Anfang bis Ende – im letzten Abschnitt geht es um die Kunst der List – einfach unterhaltsam zu lesen. – In starkem Kontrast zu Martina Bölck steht das nun als Paperback günstig zu erwerbende „Euro-chinesische Lexikon des Denkens“ des französischen Philosophen und Sinologen François Jullien. Der Autor sucht den Abstand und zugleich eine „schrittweise Gegenüberstellung“. Er will durch sich so eröffnende Distanz „das Denken wieder in Spannung versetzen“ (S. 8). Wenn er die „Rekonfiguration des Denkbaren“ in einen Gegensatz zu dem stellt, „was die sinologische Gelehrsamkeit nur allzu oft an Freudlosigkeit an sich hat“ (S. 8), möchte ich ihm einfach deswegen nicht folgen, weil eine solche Herabsetzung der sinologischen Gelehrsamkeit allenfalls eine schwache Grundlage für die Erweiterung des eigenen Denkens sein kann. Es ist aber nun einmal das Prinzip des Autors, statt den Entstehungsbedingungen „typischer“ europäischer bzw. chinesischer Denkformen nachzuspüren, die Denkformen selbst kontrastiv einander gegenüberzustellen und dabei dann auf die so entstehenden Zwischenräume zu verweisen. Dies führt nun aber dazu, die chinesische Welt gegenüber der europäischen zu essentialisieren. Und doch gelingen Jullien immer wieder wunderbare Positionierungen wie in jenem Text über Neigung, Wahlmöglichkeit und Freiheit und über die Bewegungen und Verschiebungen bei der Neigung des Ensembles (S. 1719). So gesehen sind die von Jullien durch Distanznahme entdeckten „Defizienzen“ im westlichen Denken im Kontrast zu dem Chinesischen anregend und Selbstreflektion einfordernd. Das „Nachwort: Vom Abstand zum Gemeinsamen“ (S. 283-334) endet mit der Feststellung, dass es ihm darauf ankomme, an der Figur des „Abstands“ festzuhalten, „an der Spannung, die der Abstand aufrechterhält und in der zu verbleiben und zu arbeiten er veranlasst“ (S. 334). Hiergegen lässt sich allerdings einwenden, dass auch ein solcher „Abstand“ konstruiert ist und man nach dem programmatischen „Umweg über China“ (S. 314) dann doch nicht wirklich weitergekommen ist, weil das Leben eben davon abhängt, dass Abstände schwinden. So ist am Ende dann vielleicht die Neigung für alle Seiten die Lösung. – Ganz im Gegensatz zu Jullien versucht der chinesisch-amerikanische Philosoph Tu Weiming die Menschheit insgesamt als Einheit zu verstehen, die sich einem geistigen Humanismus verpflichten könnte. Der Text dieser auf dem 24. Weltkongress für Philosophie in Peking 2018 unter dem Titel »Geistiger Humanismus: Selbst, Gemeinschaft, Erde und Himmel« vorgetragenen Position liegt nun in deutscher Übersetzung vor. Als Vertreter eines neuen Konfuzianismus sieht sich Tu in der Tradition chinesischer Weltzugewandtheit unter Einschluss und Fortgeltung des Religiösen und damit in einer Konstellation, die auch als chinesische Zivilreligion bezeichnet wurde. Er beerbt damit eine spezifische Aufklärung und Säkularisation, verbunden mit einer die Menschheit insgesamt einschließenden Vorstellung von einer Moderne, an welche die heutige Weltgesellschaft im Interesse eines allgemeinen Wohlstandes anknüpfen könnte. Zur Vorbereitung der Lektüre des ein Drittel des Bandes einnehmenden Textes, der durch weitere Kommentare ergänzt wird, sei die Lektüre des von dem Herausgeber Kai Marchal verfassten Nachwortes empfohlen, überschrieben »Einige Nachgedanken« (S. 127-135), in denen die unterschiedlichen Grammatiken der Modernisierungsnarrative mit der von Erich Auerbach im Hinblick auf das „elementar Gemeinsame unseres Lebens“ gestellten Frage konfrontiert werden, wie „das Elementare und Gemeinsame der Menschen überhaupt“ ins Bewusstsein gerufen werden kann. (S. 152)
Sonja Schäffler, Markenrecht in China / Trademark Law in China. Risikominimierung für Unternehmen und Rechtsberatung / Risk Minimization for Companies and Legal Advisors. Stuttgart: Schäffer-Poeschel 2023. 272 S., Broschur. ISBN 978-3-7910-5757-6. € 69,99.
Geradezu ein Exempel für Anerkennung von Distanz ist der Ratgeber zum Markenrecht, den Sonja Schäffler nach 35 Jahren im gewerblichen Rechtsschutz vorgelegt hat. Der Ratgeber ist zweisprachig und benutzt „in der Praxis üblicherweise verwendete Begriffe“, unabhängig davon, ob sie „sprachlich und grammatikalisch korrekt sind oder nicht“ (S. 12) und stützt sich auch nicht auf Übersetzungsprogramme wie DeepL. Angesichts der engen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen Deutschland und China ist ein solcher Ratgeber hilfreich, denn die notwendigen Schritte und Schrittfolgen zur Sicherung der eigenen Interessen beim Handel mit und beim Produzieren in China, aber auch Details wie Fristen werden ausführlich dargelegt. Für Praktiker kann hier wegen der zahlreichen digitalen Quellen und Verweise die e-Publikation hilfreich sein.
Martin Gimm. Kleine Schriften. Zur Geschichte und Kultur der Qing-Dynastie [=Sinologica Coloniensia 38]. Wiesbaden: Harrassowitz 2023. 278 S., 74 Abb., geb., ISBN 978-3-447-11985-6. € 68,00.
Zum Abschluss verweise ich bewusst auf eine Auswahl von Beiträgen Martin Gimms, die er im Vorwort als „einen „Querschnitt unterschiedlicher Thematik zur Geschichte der vielgestaltigen europäisch-fernöstlichen Beziehungen“ (S. 7) bezeichnet, zu denen wir neben chinesischen auch manjurische Quellen – Gimm verwendet bewusst nicht mandschu! (Anm. 2, S. 9) – sowie Aufzeichnungen in extrachinesischen Sprachen, darunter solche in Koreanisch, Japanisch und in westliche Sprachen, verfügen. So notizenhaft die meisten Beiträge des Bandes zunächst erscheinen, rufen sie doch eine Vielzahl von Themen nicht nur zur Geschichte und Kultur der Manju-Zeit auf, sondern bringen zugleich Licht in wissenschafts- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge. Wir erfahren Neues über die früheste Erwähnung der manjurischen Stammessage, über die Haltung der Kaiser zu Mehrsprachigkeit, über eine manjurische Jin Ping Mei-Übersetzung und über die Förderung von Übersetzerexamina durch Kaiser Kangxi. Ein von einem Manju-Prinzen veranlasstes Bildwerk zum Leben des Buddha sowie Materialien zu Leben und Wirken der Sinologen Wilhelm Grube und Georg von der Gabelentz werden aufgegriffen und ein besonderes Licht auf die Beziehungen von Franz Liszt zu der Familie von der Gabelentz geworfen. Der schriftstellerisch äußerst produktive Athanasius Kircher S.J. (1602–1680), von dem Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799) schrieb, „Wenn Athanasius Kircher eine Feder in die Hand nahm, floß ein Foliant aus derselben“ (S. 112), und der vielleicht auch deswegen in engstem Austausch mit dem Wolfenbütteler Büchersammler Herzog August d.J. stand, verknüpfte das gesamte Wissen seiner Zeit. Die Verbindung von Sinologie und Musikologie dient Martin Gimm dazu, die Beschreibung zweier großer Glocken in Peking bzw. Erfurt in zwei zentralen Werken Kirchers (S. 120) zu kommentieren. So kommen die Anfänge der Qing-Dynastie im 17. Jahrhunderts ins Bild und damit auch Adam Schall von Bell, S.J., dessen chinesischen Namen »Tang Ruowang« Martin Gimm als Umschrift für [A]Adam Johann deutet, während er auf weitere Details zur Gestalt dieses Ausnahme-Astronomen am Pekinger Hof mehrfach auf eine noch in Vorbereitung befindliche Monografie verweist.
Prof. Dr. Helwig Schmidt-Glintzer (hsg) ist ein deutscher Sinologe und Publizist. Er lehrt seit 1981 auf ostasienwissenschaftlichen Lehrstühlen in München und Göttingen und war von 1993 bis 2015 Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Seither ist er Seniorprofessor an der Eberhard Karls Universität und Direktor des China Centrum Tübingen. Zuletzt erschien von ihm in der Reihe „Fröhliche Wissenschaft“ bei Matthes und Seitz Berlin „Der Edle und der Ochse. Chinas Eliten und ihr moralischer Kompass“.
Helwig.Schmidt-Glintzer@zentr.uni-goettingen.de