Biografien

„ … den jüdischen Kindern mit ihren ungemalten Bildern gewidmet, die nicht so viel Glück hatten wie ich.“

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 2/2019

Judith Kerr: Geschöpfe. Mein Leben und Werk. Hürth: Edition Memoria Thomas B. Schumann, 2018. 176 S. ISBN 978-3-930353-37-8. € 38,00

Was für eine hochinteressante jüdische Familie, der wir in dem Buch Judith Kerr: Geschöpfe. Mein Leben und Werk begegnen, das die Edition Memoria nun dankenswerter Weise in deutscher Sprache vorgelegt hat. Die in Berlin 1923 geborene und in London lebende britische Künstlerin und Schriftstellerin Judith Kerr ist die Tochter des Theaterkritikers, Schriftstellers und Journalisten Alfred Kerr (1867–1948) und der Komponistin Julia Anna Kerr geb. Weismann (1898–1965), deren Vater ist der deutsche Jurist und Staatssekretär im preußischen Staatsministerium Robert Weismann (1869–1942). Judith Kerr ist die Schwester des britischen Juristen und Buchautors Sir Michael Robert Emmanuel Kerr (1921–2002). Sie heiratet 1954 den britischen Schriftsteller und Drehbuchautor Thomas Nigel Kneale (1922–2006), ihre Kinder sind die Schauspielerin und Malerin Tacy Kneale (geb. 1958) und der Historiker und Autor Matthew Kneale (geb. 1960). 1933 flieht die Familie Kerr aus Deutschland über die Schweiz und Frankreich nach England. Judith Kerr besucht die Central School of Arts and Crafts, arbeitet während des Zweiten Weltkriegs beim Roten Kreuz und danach als Redakteurin und Lektorin für die BBC. Dort lernt sie ihren Mann kennen. Als freiberufliche Malerin und Textdesignerin illustriert sie zahlreiche Kinderbücher. Und sie schreibt selbst Bücher. Die Flucht ihrer Familie aus Deutschland verarbeitet sie in drei Veröffentlichungen unter dem Obertitel Out of the Hitler Time (In deutscher Sprache Als Hitler das rosa Kaninchen stahlWarten bis der Frieden kommtEine Art Familientreffen), mit den Bilderbüchern Ein Tiger kommt zum Tee und 17 Bänden mit Geschichten über den Kater Mog. Sie wird in England eine Institution.

Lange Zeit meidet Judith Kerr ihre alte Heimat, erst 1975 nimmt sie dort den Deutschen Jugendliteraturpreis für ein Buch entgegen, das ein Klassiker der Jugendliteratur und jahrzehntelang Schullektüre ist: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl. Er ist einer ihrer vielen Preise. In London gibt es eine Judith Kerr Primary School und in Berlin die Judith-Kerr-Grundschule.

Dies alles und noch viel mehr erfährt der Leser in der eindrucksvollen Autobiografie, die zum 90. Geburtstag von Judith Kerr als Judith Kerr`s CREATURES: A Celebration of the life and work of Judith Kerr und nun zu ihrem 95. Geburtstag in deutscher Sprache in der Konzeption von Thomas B. Schumann, in der Gestaltung des Büros für visuelle Kommunikation werk3 Berlin Hannah Jennewein & Reinhard Köster und in der Übersetzung von Ute Wegmann erschienen ist. Schumann sicherte sich die Rechte für die deutsche Ausgabe und nimmt diese Erinnerungen in seine Edition Memoria Thomas B. Schumann auf, in der seit 1994 ausschließlich Werke von Autoren veröffentlicht werden, die von den Nationalsozialisten ins Exil getrieben wurden.

Judith Kerr bezeichnet ihre eigene Familie, die Haustiere und Tierhelden als ihre Geschöpfe – deshalb dieser Titel für ihre Autobiografie. Es ist ein kritischer, ein selbstkritischer Rückblick auf ein sehr turbulentes Leben. „Es war ein erstaunlich erfülltes und glückliches Leben, und es hätte so leicht anders sein können. Wenn meine Eltern nicht die Weitsicht gehabt hätten, wenn dieses Land uns keinen Schutz gewährt hätte“ (S. 168). Sie gibt mit Texten, Fotos, Skizzen, Faksimiles, Illustrationen und Kinderzeichnungen einen ganz persönlichen Einblick in ihr Leben. Sie schreibt unverstellt über Schicksalsschläge, Lebenskrisen, Ängste und Zweifel, aber auch über ihre großen Glücksmomente. Sie erzählt von den Eltern, ihrer Kindheit und den eigenen Kindern, von der großartigen Unterstützung durch Freunde und Fremde, von ihrem Mann und von der Arbeit und dem Entstehen ihrer Bücher. Und das immer humorvoll, trotz oder wegen des schweren, oft entbehrungsreichen Lebens.

Dieses Buch hat alles, was eine gute Autobiografie ausmacht und es ist großartig gestaltet, was für Autobiografien nicht selbstverständlich ist: es ist großformatig, hat ein ausgezeichnetes Layout und enthält umfangreiches Bildmaterial, insbesondere auch viele farbenfrohe Illustra­ tionen.

Judith Kerr leistet mit ihren Büchern, in denen sie das Thema der Flucht aus Deutschland thematisiert, einen großen Beitrag zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Ihre Autobiographie ist „den eineinhalb Millionen jüdischen Kindern mit all ihren ungemalten Bildern gewidmet, die nicht so viel Glück hatten wie ich“ (S. 171). Thomas B. Schumann von Edition Memoria wurde für Judith Kerr: Geschöpfe. Mein Leben und Werk im Rahmen der Hotlist 2018 der besten Bücher der unabhängigen Verlage mit dem Medienpartner-Preis des Freitag ausgezeichnet. (ds)

Prof. em. Dieter Schmidmaier (ds), geb. 1938 in Leipzig, ­studierte Bibliothekswissenschaft und Physik an der Humboldt-Universität Berlin, war von 1967 bis 1988 ­Biblio­theksdirektor an der Berg­ aka­demie Freiberg und von 1989 bis 1990 General­direktor der Deutschen Staatsbibliothek Berlin. ­ dieter.schmidmaier@schmidma.com ­ 

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