Geschichte

Zeitreisen in die jüngere Vergangenheit

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 3/2019

Heribert Prantl: Vom großen und kleinen Widerstand. Gedanken zu Zeit und Unzeit. München: Süddeutsche Zeitung Edition 2018. Hardcover m. Schutzumschlag, 368 S., ISBN 978-3-86497-487-8. € 24,90

Es gibt die Formeln, die gern zur Beschwichtigung benutzt werden. Dazu gehört der Satz: „Alleine kann man ja doch nichts bewirken.“ Er stimmt nicht. Warum nicht? Darum geht es in diesem Buch.

Die Texte darin sind Aufruf wider die Gleichgültigkeit. Nicht vor dem sogenannten Rechtspopulismus muss man sich fürchten, sondern vor dem Phlegma und dem politischen Fatalismus.

Es stimmt nicht, dass die Weiße Rose Geschichte ist und nichts als Geschichte. Es stimmt nicht, dass aus der Weißen Rose für heute nichts zu lernen ist. Die Sätze aus deren Flugblättern haben ihre eigene Bedeutung in jeder Zeit, auch in der gegenwärtigen: „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit.“

Dieses Buch ist eine Laudatio auf Widerständler und Whistleblower. Es ist ein Lobpreis auf die Unangepassten, auf die Demokraten des Alltags, auf die Verteidiger der Grundrechte.

Heribert Prantl ist Autor und Kolumnist der Süddeutschen Zeitung, Dr. jur., gelernter Richter und Staatsanwalt, war Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung und 25 Jahre lang Leiter der innenpolitischen Redaktion. (ab)

 

Hans Sarkowicz (Hrsg.): Es lebe unsere Demokratie! Deutsche Reden 1945 bis heute. Wiesbaden: Marix Verlag 2019. Hardcover m. Schutzumschlag, 448 S., ISBN 978-3-7374-1114-1. € 26,00

Seit jeher gilt die Rede als zentral für das politische Geschehen. Ein einziger Auftritt kann viel bewirken, kann nachwirken über Zeiten und Grenzen hinweg. Die Geschichte Deutschlands nach 1945 ist geprägt von vielen bedeutenden Reden – vom „Schaut auf diese Stadt“ Ernst Reuters, Willy Brandts „mehr Demokratie wagen“ bis zu Christian Wulffs „Der Islam gehört zu Deutschland“. Doch nicht nur Politiker, auch Schriftsteller und Philosophen setzen mit politischen Reden Wegmarken in der deutschen Geschichte.

Eine Auswahl von 48 der wichtigsten dieser Reden sind – jeweils in ihren historischen Kontext eingebettet – in diesem Lesebuch der deutschen Geschichte versammelt. Eine Deutschstunde der besonderen Art.

Hans Sarkowicz ist Leiter des hr2-Ressorts Literatur und Hörspiel beim Hessischen Rundfunk. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt erschienen u. a. akustische Dokumentationen zur Weimarer Republik und zu den Rundfunkprogrammen deutscher Emigranten. (Geheime Sender, ausgezeichnet mit dem Deutschen Hörbuchpreis 2017). (ab)

 

Frank Bösch: Zeitenwende 1979 – Als die Welt von heute begann. München: C.H. Beck 2019, 512 S. mit 20 Abbildungen, Hardcover, ISBN 978-3-406-73308-6, € 28,00

Das Buch des Potsdamer Historikers Frank Bösch behandelt zehn einschneidende Ereignisse im globalen Rahmen des Jahres 1979: Revolution in Iran, Polen-Besuch von Papst Wojtyla, Revolution in Nicaragua, Deng-Reformen in China, Fluchtbewegung aus Vietnam, sowjetische Invasion Afghanistans, Thatchers Neoliberalismus und die politische Konsolidierung der ‚grünen‘ Bewegung, zweite Ölkrise, AKW-Störfall im amerikanischen Harrisburg und die TV-Serie ‚Holocaust‘.

Diese Ereignisse im globalen Rahmen werden insbesondere in Hinblick auf ihre Bedeutung für Deutschland beleuchtet und hier liegt auch der Schwerpunkt der eigenen Quellenrecherchen des Autors: Akten des Auswärtigen Amtes, Medienberichte und andere Dokumente aus Deutschland.

Im Jahre 1979 gab es zweifelsohne noch andere einschneidende Ereignisse und die getroffene Auswahl ist nicht ganz schlüssig, denn der Autor gibt als Auswahlkriterium an, ob die Ereignisse bereits von den damaligen Zeitgenossen als Zäsur wahrgenommen wurden. Das ist nicht unproblematisch, denn die inhärente Bedeutung von Ereignissen – im Sinne von nachvollziehbaren Folgewirkungen – wird nachrangig gegenüber ihrer damaligen medialen ‚Aufladung‘ und Wahrnehmung. Und das widerspricht dem Motto des Buches, die ja ‚die Welt von heute‘ aus diesen Ereignissen herleiten will.

Doch das kann man so machen, denn Bösch ist ein deskriptiv vorgehender Historiker. Allerdings wäre es keine schlechte Idee gewesen, hier konzeptionell etwas tiefer zu schürfen. Das hieße dann beispielsweise, zu untersuchen, ob es sich bei den ausgewählten Ereignissen von 1979 bzw. dem Jahr 1979 insgesamt um das handelt, was in der Politikwissenschaft als critical junctures (kritische Phasen oder Zeitfenster) bezeichnet wird. Damit sind relativ kurze Zeiträume gemeint, in denen sich bis dato bestehende formelle oder informelle Paradigmen, seien sie politisch, sozialökonomisch oder kulturell, einschneidend verändern. Mit einem solchen Phasenwechsel oder Paradigmenwandel wird zugleich eine neue Pfadabhängigkeit (path dependency) für künftige Handlungsoptionen begründet. Die Frage dabei ist, ob kritische Zeitfenster durch Zufallsfaktoren (Kontingenz) zustande kommen oder den manifesten Umschlagspunkt (tipping point) lange vorausgehender, aber noch latent gebliebener Veränderungsprozesse bilden. In jedem der von Bösch ausgewählten Ereignisse des Jahres 1979 haben Zufälle eine Rolle gespielt, aber sie alle hatten eine ‚Vorgeschichte‘, die zwar nicht zwangsläufig, aber mit einer gewissen inneren Logik auf einen Paradigmenwandel hinsteuerte. Stellenweise geht Bösch auf die jeweiligen ‚Vorgeschichten‘ der Ereignisse von 1979 ein, aber das bleibt recht knapp. Für ein anderes Vorgehen hätten die 500 Seiten des Buches sicherlich nicht ausgereicht. Was an analytischer Tiefenschärfe fehlt, versucht Bösch durch lebendige Darstellung auszugleichen. Und das gelingt durchaus.

Der erste Abschnitt des Buches über die iranische Revolution gibt einen guten Überblick über ihren komplexen, ja widersprüchlichen Verlauf. Khomeini hatte keinen ‚Masterplan‘ und das Regime der ‚islamischen Republik‘, wie wir es heute kennen, wurde erst ab 1980 konsolidiert, nachdem Saddam Hossein, wahrscheinlich von den USA ermuntert, einen Angriffskrieg gegen den Iran führte, der acht Jahre dauerte und schätzungsweise 500.000 Menschenleben kostete. Letztendlich dürfte der ‚revolutionäre schiitische Internationalismus‘ des iranischen Regimes nachrangig gegenüber dem iranischen Nationalismus mit seiner 2500-jährigen Staats- und Kulturtradition gewesen sein – und das gilt auch für den Iran der Gegenwart. Der Besuch von Papst Johannes Paul II hat zweifelsohne wesentlich zur Unterminierung der kommunistischen Herrschaft in Polen beigetragen. Damit wurde auch die militärstrategische Stellung der Sowjetunion in Europa in Frage gestellt, denn die Verbindungslinien vom Sowjet­ territorium zu den sowjetischen Truppen in der DDR konnten nicht mehr als sicher gelten. Aber eine paradigmatische Renaissance des Religiösen hat Wojtylas PolenBesuch nicht bewirkt – weder in Osteuropa noch in Westeuropa.

Die regionalen und weltpolitischen Folgen der Ereignisse in Nicaragua seit 1979 dürften ziemlich begrenzt sein. Nicaragua war ein ‚Nebenkriegsschauplatz‘ des Kalten Krieges, der sich Anfang der 1980er Jahre noch einmal erhitzte. Die amerikanischen Geheimdienstoperationen in Nicaragua waren nicht erfolgreich und führten 1986 zur vielleicht schwersten Krise der Reagan-Administration (Iran-Contra-Skandal). Weit bedeutsamer in ihren Folgen war die lateinamerikanische Schuldenkrise (vor allem Mexiko und Argentinien betreffend). Für die bundesdeutsche Linke war Nicaragua eine wichtige Episode, aber sie blieb eben eine Episode ohne dauerhafte Folgewirkung. Massive Auswirkungen auf die ‚Welt von heute‘ dagegen hatten die Deng-Reformen in China, die den wirtschaftlichen und strategischen Aufstieg Chinas begründeten. Die Kombination von marktwirtschaftlicher Liberalisierung und der autoritären Herrschaft der KP Chinas wurde zu einem enorm erfolgreichen Gegenentwurf zum ökonomischen Neo-Liberalismus anglo-amerikanischer Prägung und zur liberalen Demokratie im Westen. Wenn man aber eine longue durée Perspektive einnimmt, dann ist der (Wieder-)Aufstieg Chinas seit 1979 eigentlich nur die Rückkehr zur historischen Normalität: Über fast zwei Jahrtausende hinweg bis ins 18. Jahrhundert war China die wirtschaftliche Supermacht im Weltmaßstab.

Ob die Fluchtbewegung aus dem seit 1975 unter kommunistischer Herrschaft wiedervereinten Vietnam (‚Boat People‘) ein einschneidendes Ereignis mit weltpolitischen Folgen war, ist mehr als zweifelhaft. Der Vergleich mit den Fluchtbewegungen aus Kriegs- und Krisengebieten und vor allem der massiven Wirtschaftsmigration im 21. Jahrhundert hinkt. Die hervorgehobene mediale Wahrnehmung der vietnamesischen Flüchtlinge in der damaligen Bundesrepublik macht diese nicht zu einem Vorläufer oder gar Ausgangspunkt der heutigen globalen Migrationskrise. Dagegen hatte der sowjetische Einmarsch in Afghanistan dramatische Folgen bis in die Gegenwart. Wie die Briten zuvor und die Amerikaner danach schätzte die Sowjetführung die innere Lage in Afghanistan falsch ein. Aus globalstrategischen Erwägungen wollte die Sowjetführung unmittelbar nach dem NATO-Doppelbeschluss, der wachsenden Unsicherheit über Polen und dem Verlust Ägyptens als Alliierten keine Schwäche zeigen – und tappte so in die ‚afghanische Falle‘. Ob der gescheiterte Militäreinsatz – ‚sowjetisches Vietnam‘ – wesentlich zum Zerfall der Sowjetunion beigetragen hat, ist fraglich. Nicht fraglich ist, dass auch die USA in die ‚afghanische Falle‘ getappt sind. Durch die massive Unterstützung der Mudschahedin wurden die Bedingungen geschaffen, aus denen dann die islamistischen Taliban in Afghanistan und diverse, international operierende islamistische Terrororganisationen erwuchsen. Ein klassisches Beispiel für ‚nichtbeabsichtigte Konsequenzen‘ in der Weltpolitik.

Thatchers Wahl als britische Premierministerin war ohne Zweifel ein einschneidendes Ereignis mit schwerwiegenden Folgen bis in die Gegenwart. Thatcher und ihr Umfeld nutzten gezielt das Scheitern des Keynesianischen Paradigmas in der Wirtschaftspolitik: Staatliche Wirtschaftsstimulierung führten nicht mehr zu Wirtschaftswachstum und höherer Beschäftigung, sondern Inflation, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung. Die alternative neoliberale Wirtschaftspolitik von Entstaatlichung-Privatisierung, Deregulierung, Monetarismus und Aufblähung des Finanzsektors gewann aber erst richtig Fahrt nachdem auch die USA unter der Reagan-Administration diesen wirtschaftspolitischen Kurs einschlugen. Im Endergebnis wurden Großbritannien und die USA weitgehend deindustrialisiert. In Kontinentaleuropa war man hier – glücklicherweise – weit vorsichtiger und behielt die technologisch fortgeschrittene industrielle Basis.

Parallel zum angloamerikanischen Neoliberalismus entstand die ‚grüne Bewegung‘, die ihren Schwerpunkt in Deutschland hatte, wo 1979 die Partei ‚Die Grünen‘ gegründet wurde. Dabei spielte die Anti-Atom-Bewegung eine entscheidende Rolle, die nur erklärbar ist, weil Deutschland das zentrale Schlachtfeld eines Nuklearkrieges zwischen NATO und Warschauer Pakt gewesen wäre. Die (berechtigte) Angst vor einem Atomkrieg wurde auf die zivile Nukleartechnik übertragen. Dies scheint mir wichtiger als der Reaktorstörfall von Harrisburg, der von Bösch als ein Schlüsselereignis des Jahres 1979 dargestellt wird. Die grüne Bewegung war auch eine Reaktion auf das ideologische Scheitern des Neo-Marxismus in den 1970er Jahren. Ökologie bot sich als ideologische Alternative an, die zudem medial breit transportiert wurde, dabei spielte insbesondere der von der Carter-Administration in Auftrag gegebene Bericht Global 2000 eine wichtige Rolle, der in Deutschland zum Bestseller wurde.

In Böschs Liste einschneidender Ereignisse des Jahres 1979 wird abschließend die amerikanische TV-Serie Holocaust angeführt. Dieses mediale Ereignis habe die Wahrnehmung der Shoah nicht nur in der deutschen Bevölkerung wesentlich verändert und wirke bis heute fort. Ob dies zutrifft, ist schwer zu beurteilen, denn es gab auch zuvor einschneidende Ereignisse bezüglich der Wahrnehmung der Shoah mit großer medialer Wirkung wie den Eichmann-Prozess in Jerusalem und den Frankfurter Auschwitz-Prozess.

Insgesamt ist das Buch von Frank Bösch durchaus empfehlenswert: Für diejenigen, die das Jahr 1979 bewusst erlebt haben und so ihre Erinnerungen abgleichen können wie diejenigen, die 1979 nicht erlebt haben und für die es wahrscheinlich weitgehend unbekannte Zeitgeschichte ist. Gerade für diese jüngeren Leser bietet das Buch eine spannende Lektüre.

 

Heiner Möllers: Die Affäre Kießling – Der größte Skandal der Bundeswehr. Berlin: Ch. Links Verlag 2019, 368 Seiten, 17 s/w Abbildungen, Hardcover, ISBN 978-3-96289-037-7, € 25,00

Möllers ist promovierter Militärhistoriker und am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam tätig. Sein Buch ermöglicht dem Leser eine einzigartige Innensicht einer Schlüsselinstitution der Bundesrepublik – der Bundeswehr – in den Jahren 1983–84, als der Kalte Krieg sich ein letztes Mal zuspitzte. Die Bundeswehr umfasste damals rund 500.000 Soldaten und 180.000 Zivilbeschäftigte. Hinzu kommt, dass in Westdeutschland damals rund 350.000 ausländische Truppen stationiert waren, aus den USA, Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Kanada. Das alles ist heute schwer vorstellbar.

Ein noch hoher Anteil des höheren Offizierskorps der damaligen Bundeswehr hatte im Zweiten Weltkrieg in der Wehrmacht gekämpft oder gehörte zur ‚FlakhelferGeneration‘. So auch Günter Kießling, der 1925 geboren über die Unteroffizierslaufbahn zum Wehrmachts-Offizier wurde. Nach der Gefangenschaft arbeitete Kießling als Hilfsarbeiter, machte aber in der Abendschule das Abitur und studierte Volkswirtschaft. Nach dem Abschluss trat er in den Bundesgrenzschutz (BGS) ein und promovierte (berufsbegleitend) in Volkswirtschaft. In der Bundeswehr machte er in Truppen- und Stabsverwendungen, auch bei NATO-Stäben, zügig Karriere. 1982 wurde Kießling schließlich als Vier-Sterne-General zu einem der beiden Stellvertretenden NATO-Oberbefehlshaber (Deputy SACEUR) im NATO-Hauptquartier in Mons, Belgien ernannt. Der scheinbare Karrierehöhepunkt bedeutete aber in der Realität, dass Kießling zu einem militärischen ‚Frühstücksdirektor‘ wurde, der praktisch keinen eigenständigen Verantwortungsbereich besaß. Hinzu kam, dass sein Vorgesetzter, der amerikanische SACEUR Gen. Bernhard Rogers, alles tat, um Kießling auszugrenzen. Mehr noch, Rogers versteifte sich auf die Annahme, Kießling sei homosexuell und damit auf seinem Posten untragbar. Dieses Gerücht wurde ihm, so berichtet Möllers, von dem britischen General Sir Antony Farrar-Hockley und dem US-General Glenn K. Otis zugetragen. Vielleicht wurde das Gerücht auch aus anderen Quellen kolportiert, Kießling selbst vermutete ‚Nachrichtendienste‘. Bei der späteren Aufarbeitung des ‚Kießling-Skandals‘ im Bundestag wurden jedenfalls alle die NATO betreffenden Fragen ausdrücklich ausgeklammert. 1983–84 bedeutete die letzte Hochspannungsphase des Kalten Krieges: Unter der Reagan-Administration wurden atomare Mittelstreckenwaffen und modernste konventionelle Waffensysteme in Westeuropa stationiert, die SDIRaketenabwehr wurde verkündet, in der Barentssee wurden hochriskante Marineoperationen durchgeführt, eine südkoreanische Boeing 747 wurde von der sowjetischen Luftabwehr abgeschossen und im September 1983 kam es durch einen sowjetischen Fehlalarm beinahe zum Atomkrieg. Dies bildete den Hintergrund des ‚Kießling-Skandals‘, was aber in Möllers Buch unterbelichtet bleibt. Die Gerüchte über die angebliche Homosexualität Kießlings erreichten auch die Ministerialbürokratie im Bonner Verteidigungsministerium. Es wurden – absurd schlampige – Nachforschungen durch den MAD angestellt, deren ‚Ermittlungsergebnis‘ die stümperhafte Verwechslung Kießlings mit einem ihm ähnlich sehenden homosexuellen Wachmann war. Dabei ist zu berücksichtigen, dass 1983 Homosexualität kein Straftatbestand mehr war und folglich auch kein Sicherheitsrisiko durch Erpressbarkeit darstellte.

Kießling bestritt gegenüber Verteidigungsminister Manfred Wörner kategorisch, homosexuell zu sein, erklärte aber zugleich, nicht weiter an der für ihn völlig unbefriedigenden NATO-Position interessiert zu sein. Es wurde im September 1983 mit Wörner vereinbart, dass Kießling zum April 1984 in den Ruhestand treten werde. Doch dann wurde Kießling plötzlich doch zum ‚Sicherheitsrisiko‘ erklärt und von Wörner zum 31. Dezember 1983 aus der Bundeswehr entlassen.

Was genau diese Wende verursachte, wird dem Leser nicht wirklich klar. Wörners Verhalten entbehrte jeder souveränen Distanz und erscheint wie eine Flucht nach vorne. Möllers schreibt denn auch, im Fall Kießling „liegt vieles noch im Dunkeln“ (33).

Eine heftige Auffälligkeit ist die Tatsache, dass der stellvertretende Leiter des MAD, Oberst Joachim Krase, der direkt mit dem ‚Fall Kießling‘ befasst war, ein Stasi-Agent war. Aber Krase hat sich gegenüber Kießling – im Gegensatz zu anderen Führungsfiguren im Verteidigungsministerium – sehr zurückgehalten.

Nach seiner Entlassung aus der Bundeswehr wehrte sich Kießling: er beantragte ein Disziplinverfahren gegen sich selbst, nahm einen Rechtsbeistand und wendete sich an die Presse. Recherchen des Kölner Express ergaben schnell, dass der MAD und die mit diesem zusammenarbeitende Kölner Kriminalpolizei bei ihren Ermittlungen Kießling mit dem Wachmann Jürgen Baum verwechselt hatten. Doch nun wurde es im Verteidigungsministerium noch tolldreister: Verteidigungsminister Wörner ließ den dubiosen homosexuellen Publizisten Alexander Ziegler aus der Schweiz einfliegen und führte persönlich mit diesem ein mehrstündiges Gespräch, an dem auch andere Spitzenbeamte teilnahmen. Ziegler behauptete, aus dritten Quellen zu wissen, dass Kießling homosexuell sei. Diesbezügliche Beweise konnte er aber nicht vorlegen. Was als der finale Schlag gegen Kießling gedacht war, erwies sich als Rohrkrepierer: Wörner, nicht Kießling, wurde zum Skandal. Nun griff Bundeskanzler Kohl ein: Er entzog Wörner den ‚Fall Kießling‘ und ordnete die Rehabilitierung Kießlings an. Seine Entlassung aus der Bundeswehr wurde aufgehoben und im April 1984 wurde Kießling mit einem Großen Zapfenstreich ehrenvoll in den Ruhestand versetzt. Wörners persönliches und politisches Ansehen war schwer angeschlagen, aber er blieb trotzdem Verteidigungsminister. 1988 wurde Wörner NATO-Generalsekretär in Brüssel, wo er 1994 starb. 2009 starb Kießling. War er das Ziel eines Komplotts? Oder ‚nur‘ das Opfer von diensteifrigen, vorauseilenden Opportunisten in hoher Position? Möllers Buch gibt keine abschließende Bewertung, denn vieles liegt ja noch im Dunkeln. Kießling wurde durch militärische ‚Männerwelten‘ – Wehrmacht, BGS und Bundeswehr – geformt und er blieb unverheiratet. Das machte ihn offensichtlich ‚irgendwie suspekt‘.

Verstörend ist der eklatante Mangel an Kameradschaft – oder Empathie – seitens der aktiven und ehemaligen Generale der Bundeswehr gegenüber Kießling. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, duckten sich die Generale einfach weg. Unschuldsvermutung, Kameradschaftsgebot und der Präzedenzfall des Generalobersten Fritsch, der 1938 wegen angeblicher Homosexualität durch ein Gestapo-Komplott aus dem Amt entfernt wurde, scheinen für die Generale keine Rolle gespielt zu haben. Kießling wurde alleine gelassen und als er sich in der Öffentlichkeit zur Wehr setzte, machten ihm selbst dies noch einige Generale zum Vorwurf.

Wie oben bereits gesagt, Möllers Buch verschafft eine singuläre Binnensicht der Führungsstrukturen der Bundeswehr in der Endphase des Kalten Krieges. Besonders jüngere Leser dürften sich bei der Lektüre öfter die Augen reiben über das, was damals geschah. Ältere Leser, die damals den Kießling-Wörner-Skandal medial mitbekamen, übrigens auch. ˜

Dr. Michael Liebig ist Politikwissenschaftler.

michael.liebig1@gmx.de

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