Kulturgeschichte

Vom Streben nach Glück

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 4/2017

Willi Kulke und LWL-Industriemuseum (Westfälisches Landesmuseum für Industriekultur) (Hrsg.) Vom Streben nach Glück. 200 Jahre Auswanderung aus Westfalen nach Amerika. Klartext-Verlag, Essen 2016, 164 S., zahlr. farbige Abb., Hardcover, ISBN 978-3-8375-1616-6. € 14,95

Das Thema Migration löst gegenwärtig heftige politische Kontroversen und gesellschaftliche Verunsicherung aus. Deshalb sollte man sich in Erinnerung rufen, dass räumliche Mobilität aus anthropologischer Perspektive zur Conditio humana gehört. Seit jeher sind Menschen mobil, wobei Ursachen und Motive sowie Verlauf und Strukturen der Migrationsprozesse stark variieren. Laut UNHCR-Report gab es in 2016 weltweit 65,6 Millionen Binnenvertriebene, Asylsuchende, Flüchtlinge und Staatenlose, die ihre Heimat vor Krieg, Terror, Verfolgung und Naturkatastrophen verlassen mussten − Tendenz steigend. Wie viele sog. Wirtschaftsflüchtlinge darunter sind, ist aufgrund der Gemengelage ökologischer, ökonomischer, sozialer, kultureller und politischer Motive hoch umstritten. Zuwanderungsgegner behaupten, der weitaus überwiegende Anteil der Asylbewerber würde die Asylkriterien der Genfer Flüchtlingskonvention gar nicht erfüllen, denn ihr tatsächliches Motiv sei das Entkommen aus wirtschaftlichem Elend.

Um das gegenwärtige ‚Massenphänomen‘ Migration besser einordnen zu können, lohnt eine detaillierte, regional fokussierte Rückschau auf die deutsche Bevölkerung, aus der seit dem 18. Jhdt. sieben Millionen Menschen in die USA auswanderten. Nach Willi Kulke, Leiter des Ziegeleimuseums Lage und Kurator der Sonderausstellung „Vom Streben nach Glück – 200 Jahre Auswanderung aus Westfalen nach Amerika“, gaben fast immer wirtschaftliche Motive den Anlass zur Suche nach einem besseren Leben. Allein von 1800 bis 1914 verließen 300.000 Menschen Westfalen, um in den USA ihr Glück zu finden.

In den zwölf Kapiteln des vorliegenden Bandes wird deutlich, dass „das starke Wachstum der Bevölkerung in Westfalen, die Hungersnöte durch Missernten und Ernteausfälle aufgrund der Kartoffelfäule sowie die enormen wirtschaftlichen Veränderungen durch die beginnende Industrialisierung“ (S. 11) für die Migration ursächlich waren.

Als die westfälische heimgewerbliche Leinenindustrie, die lange eine Weltmarktstellung innehatte, im 19. Jhdt. aufgrund der Mechanisierung der Leinenweberei dem englischen Konkurrenzdruck nicht mehr standhalten konnte, verloren viele Heuerlinge und Tagelöhner ihren lebensnotwendigen Zuverdienst und Leinenspinner und -weber oft ihre gesamte Existenz. Kulke beschreibt die Perspektivlosigkeit mittelloser Menschen und schildert nachvollziehbar deren Entschluss zur Abkehr von der Heimat. Auch das Anerbenrecht, wonach je nach westfälischer Region entweder der älteste oder der jüngste Sohn des Landbesitzers den Hof erbte, war oft ursächlich für die Auswanderung der von der Erbfolge ausgeschlossenen Geschwister. Da die Überfahrt in die Neue Welt häufig nur mit finanzieller Unterstützung durch Verwandte möglich war, scheiterten manche Auswanderungspläne frühzeitig. Dietmar Osses, Leiter der Zeche Hannover, eines Standorts des LWL-Industriemuseums, zitiert in seinem inhaltsreichen Beitrag „Von der Ruhr in die Neue Welt“ den Amerikaauswanderer Peter Horn, der aus Pennsylvania an seine Eltern schrieb: „Hier lebt man besser als in Deutschland“ (S. 23). Amerika wurde zum gelobten Land und zur Hoffnung auf Freiheit, Wohlstand und Abenteuer.

Das Ruhrgebiet war – im Gegensatz z.B. zu Ostwestfalen, Lippe und dem Münsterland – bis ins 20. Jhdt. aufgrund des industriellen Wachstums sogar Einwanderungsregion, aber infolge der Hungerjahre 1846/1847 kam es wie auch in anderen deutschen Regionen aufgrund rapide steigender Lebensmittelpreise zu Unruhen im Revier. Mit der Auflösung der Nationalversammlung im Mai 1949 eskalierte die Situation. Es kam zu blutigen Auseinandersetzungen und zur Verfolgung und Verhaftung der Aufständischen durch die Behörden. Nicht wenige 1848er, „eine intellektuelle demokratische Elite“ (S. 25), flohen in die Vereinigten Staaten, wo sie als humanistisch Gebildete bald als „latin farmers“ und „ethnic leaders“ reüssierten. Unter ihnen der Publizist und Politiker Caspar Butz, der in seinem Abschiedsbrief schrieb: „… Verfolgt, verbannt von deutscher Erde, suchen wir uns im freien Amerika ein neues Vaterland“ (S. 26). Auch die westfälische Bürgerrechtlerin Mathilde Franziska Anneke flüchtete aus politischen Gründen und wurde „zu einer führenden Stimme der amerikanischen Frauenbewegung“ (S. 28). – Um „Entrechtung, Vertreibung und Verfolgung in Deutschland 1933–1945“ geht es in dem Kapitel von Manfred Neumann, um die Ausplünderung und die „Flucht der Intellektuellen und das Ende der deutsch-jüdischen Geschichte“ (S. 35). Der nicht regionalhistorisch auf Westfalen beschränkte Artikel beschreibt den Exodus jüdischer Familien. Von den 525.000 Juden, die zur Zeit der Machtergreifung in Deutschland lebten, wanderten um die 360.000 aus und entgingen damit dem Holocaust. Da das amerikanische Immigrationsgesetz von 1924 eine Einwanderungsquote aus Deutschland und Österreich von 27.000 vorschrieb und ein sog. „affidavit of support“ verlangte, wurde vielen die Einreise verweigert. Denen, die es dank der Hilfe von Verwandten, Freunden oder Hilfsorganisationen schafften, die bürokratischen Hürden zu überwinden, gelang meistens die rasche Akkulturation an die offenere amerikanische Gesellschaft. – Im Kapitel der Projektmitarbeiterin Katarzyna Nogueira geht es um die „Auswanderung in einer globalisierten Welt“ und die gewandelten Motive und Formen der Amerikaauswanderung nach 1945. – In seinem zweiten Beitrag schildert Manfred Neumann substanziell, wie sich die Reise ins Ungewisse vollzog, welche Reisevorbereitungen getroffen werden mussten, was man mit an Bord nahm, mit welchen Risiken man auf der Überfahrt rechnen musste und was einen bei der Ankunft erwartete. – Die Volkskundlerin und Historikerin Anne Wieland erläutert, warum sich deutsche Einwanderer häufig in Wisconsin ansiedelten. – Der Artikel der Historikerin und Germanistin Kerstin Wölki handelt von den prekären Arbeitsverhältnissen, denen die Einwanderer in den Bergwerken und Fabriken ausgesetzt waren, von den enttäuschten Erwartungen an schnellen Reichtum, dem Kampf um Rechte von Arbeitern und die Etablierung einer spezifischen Arbeiterkultur. – Um „Deutschamerikaner in Kultur und Wirtschaft“ geht es in der Studie der Historikerin und Amerikanistin Anne Overbeck. Sie greift nochmals den Einfluss der 1848er und „deren Wunsch nach Freiheit, Gleichheit und politischer Partizipation“ (S. 95) auf. Anhand von Biografien prominenter westfälischer Einwanderer, u.a. des Abenteurers und Revolutionärs Anton Schütte, der Publizistin und Frauenrechtlerin Mathilde Franziska Anneke, des Anthropologen und Antirassismuskämpfers Franz Boas und der vier Berghoff-Brüder, berühmte Bierbrauer (Dortmunder Beer), sowie Wilhelm Böing und William E. Boeing, Gründer der gleichnamigen Flugzeugfirma, wird der Einfluss deutscher Zuwanderer exemplifiziert. – Ferner untersucht die Münsteraner Postdoktorandin Jana Weiß speziell den „Einfluss deutschamerikanischer Einwanderung auf die US-amerikanische Brauindustrie vor der Prohibition“. – Jürgen Overhoff, Professor für Historische Bildungsforschung und Leiter der Arbeitsstelle für Deutsch-Amerikanische Bildungsgeschichte an der Universität Münster skizziert die Biografie des Unternehmers, Freidenkers und Bildungsbürgers Clemens Vonnegut (1824–1906), der „einer der prominentesten und einflussreichsten Deutschamerikaner des Mittleren Westens“ (S. 121) war. – Der zweite Beitrag von Kerstin Wölki greift ausgewählte Biografien „Westfälische(r) Auswanderer in Kalifornien und Texas“ auf. Sie zeichnet u.a. die Lebensgeschichte des erfolgreichen Goldsuchers Ferdinand Detert (1850–1929) aus Horn in Lippe, der im kalifornischen Jackson die höchst ertragreiche Argonaut Mine leitete, Bankdirektor und Rancher wurde. Solche steilen Karrieren waren aber im Golden State die absoluten Ausnahmen. In Texas war es nicht das Gold, sondern die Möglichkeit der Selbstverwirklichung, die Abenteuerlustige anzog, wie z.B. den Arzt Dr. Christian Althaus (1821–1915), der ein Leben an der Frontier führte, „das dem gegenseitigen Verständnis, der Unterstützung Notleidender und dem Frieden verschrieben war und […] viel Mut abverlangte“ (S. 136). – Im abschließenden Kapitel fragen Anne Overbeck und Kerstin Wölki: „Goethe oder Washington?“ Es geht dabei um die deutschamerikanische Kultur, die schon vor dem Ersten Weltkrieg sehr kritisch beobachtet wurde, ein Trend, der sich mit Ausbruch des Krieges rasch verstärkte. Der Begriff German Kultur wurde zum Inbegriff antideutscher Propaganda. Die Deutschamerikaner standen vor der Loyalitätsfrage, sich zu ihrem Geburtsland oder den USA zu bekennen. Ein spannender Diskurs über Identitätsbewahrung in Zeiten nativistischer Tendenzen und der „Furcht vor dem Feind im eigenen Land“ (S. 152).

Der reich illustrierte, ästhetisch gestaltete Band zeigt fachlich und didaktisch kompetent die Ursachen und Formen der Auswanderung, die Anziehungskraft der Neuen Welt und die vielfältigen Facetten deutsch-amerikanischer Geschichte auf. Er eröffnet gleichzeitig einen gewinnbringenden Perspektivwechsel auf heutige Situationen und induziert nachhaltige Diskussionen. (wh)

Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Direktor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

henkew@uni-mainz.de

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