Literatur-und Kulturwissenschaften

Spiegelbild der Kulturen

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 6/2019

1 Naoji Kimura: Spiegelbild der Kulturen. Philologische Wanderjahre eines japanischen Germanisten. Reihe: Deutsch-ostasiatische Studien zur interkulturellen Literaturwissenschaft; Band 9. Bern: Peter Lang 2018. 528 S. Softcover. ISBN 978-3-0343-3260-6. € 88,95

Der Titel des Buches Spiegelbild der Kulturen lädt den Leser zum heute viel beschworenen Perspektivwechsel oder zur verlorengegangenen Fähigkeit der Empathie mit Menschen aus anderen Kulturen ein. Das Buch gibt einen interessanten Einblick in das Leben Naoji Kimuras, und seinen geistigen Werdegang. In der heutigen Debatte um Integration, Fremdheit und Globalisierung, um Sprache und ziviles Zusammenleben gewinnt dieses Buch, aus der Sicht der Erfahrungen eines japanischen Germanisten geschrieben, eine unerwartete Brisanz. Spiegelbild der Kul­turen ist als eine Mahnung an die Zeitgenossen anzusehen, selbst wenn Naoji Kimura dies in seiner ihm eigenen Bescheidenheit sicher so nicht nennen würde. Um den Geist seiner Sprache etwas einzufangen, werden wichtige Feststellungen Kimuras aus seinen Texten zitiert. Bei dem Sammelband handelt es sich überwiegend um Kimuras kultur- und literaturwissenschaftliche Aufsätze der letzten zehn Jahre, die zum großen Teil im Laufe seiner Lehrtätigkeit in Regensburg entstanden sind. Nach seiner Emeritierung im März 2000 (Sophia-Universität, Tokyo) unterrichtete er von April 2001–2006 japanische Sprache und Literatur an der Universität Regensburg. Während dieser Zeit lehrte er auch an der Goethe-Universität in Frankfurt und hielt Vorlesungen über japanische Geschichte und über Literarische Übersetzungen aus dem Japanischen seit der Meiji-Zeit.

Das Buch ist dem Andenken des 1993 verstorbenen Münchener Theologen Michael Schmaus gewidmet, der Kimura während seiner Studentenzeit in München vor mehr als 50 Jahren betreut hatte. Kimura war damals, dank eines DAAD Stipendiums (1959–1961) zum Studium nach München gekommen. In jener „schönsten Zeit seines Lebens“, wie es in einer DAAD Notiz heißt, ermöglichte ihm das Stipendium die Bekanntschaft „mit dem Geist der deutschen Philologie“. Kimura wurde 1934 in Sapporo, der

1 Dieser Text wurde für die Veröffentlichung im fachbuchjournal gekürzt. Im Internet gibt es die ungekürzte Fassung unter http://www.frontiere.eu/naoji-kimura-spiegelbild-der-kulturen-philologischewanderjahre-eines-japanischen-germanisten/

Hauptstadt der japanischen Nordinsel Hokkaido, geboren. Als er 1955 anfing, an der von deutschen Jesuiten gegründeten Sophia-Universität in Tokyo zu studieren, war sein Hauptfach Philosophie. Als Fremdsprache erlernte er damals Deutsch und entschied sich dann nach zweijährigem Deutschstudium für das Fachstudium Germanistik. Der „deutsche Dichter, Denker und Naturwissenschaftler Johann Wolfgang Goethe“ war und ist sein Forschungsschwerpunkt. In den letzten Jahren hat er sich mit Alexander von Humboldt beschäftigt und seine wichtigsten Werke ins Japanische übersetzt.

Mein geliebtes Deutsch – Die Sprache Goethes

Naoji Kimura hat in seinem über 500 Seiten umfassenden Buch eine große Anzahl Neugier weckender Essays versammelt. Ziel dieser Reihe Deutsch-Ostasiatische Studien zur interkulturellen Literaturwissenschaft (Band 9), die gemeinsam von Walter Gebhardt und ihm herausgegeben wird, ist es, eine fruchtbare Kooperation zwischen kulturregionalen Humanwissenschaften in Ost und West zu fördern. Wie er selbst schreibt, wird für den nicht deutschen Germanisten Philologie umfassender als Kulturwissenschaft im Sinne von cultural studies verstanden. Dies zeigt sich an der Themenvielfalt seiner Essays zur deutschen wie japanischen Kultur, die er in diesem Band vereinigt hat. So hat Kimura seine Vorträge und Veröffentlichungen unter Themen wie Zum ambivalenten Begriffspaar Natio­nal- und Weltliteratur (Fragwürdigkeit des Begriffs „Nationalliteratur“ bei Goethe), Goethes Faustdichtung im Zeitalter der Globalisierung, Die Entstehung eines nati­onalen Geschichtsmythos in der Meiji-Zeit, Japans verspäteter Weg in die Moderne oder Deutsche Wissenschaft im Modernisierungsprozess Japans zusammengefügt. Besonderes Augenmerk hat er auf die unterschiedlichen Kunst-, Ethik- und Naturauffassungen im Wechselspiel der westlichen und östlichen Kultur gelegt. Dies zeigt sich an Aufsätzen über Die Entdeckung des Torsos: Komplementarität in der Kunst, Wahnsinn-Darstellung bei Goethe und im Nô-Theater, Ethische Grundlagen der ja­ panischen Kultur oder Natur- und Geisteswissenschaften im Dialog.

Über wichtige Mentoren während seiner Münchener Studienzeit (1959–1961) schreibt Kimura im Vorwort zu seinem Buch, besonders viel Anregung habe er vonseiten des berühmten Theologen des Ökumenismus Michael Schmaus erhalten, der mich persönlich am meisten ge­ fördert hat. So war ich denn auch in aufgeschlossenen katholischen Kreisen in Deutschland gut aufgehoben. Da ich schon vor meinem Germanistikstudium an der von den deutschen Jesuiten gegründeten Sophia-Universität, Tokyo, durch die Lektüre japanischer Übersetzungen Goetheaner geworden war, war ich keiner Gefahr aus­ gesetzt, in konfessionelle Engpässe des Christentums zu geraten, obwohl es mir heute noch schwerfällt, deutsch­ sprachige Kultur mit ihrer konfessionellen Problematik als Einheit zu begreifen.

Aus Anhänglichkeit am europäischen Mittelalter und an der christlichen Klassik studierte er damals in München katholische Theologie als Nebenfach bei Professor Schmaus.

Als Germanist bin ich dann durch eine glückliche Fü­gung Herrn Prof. Dr. Wolfgang Frühwald wie kaum ein anderer zu großem Dank verpflichtet. Bei dieser Gelegenheit erlaube ich mir zu erwähnen, daß er sich damals als Oberassistent meines Doktorvaters Hermann Kunisch um mich gekümmert hat. Zu jener Zeit, schrieb Kimura, sei er DAAD Stipendiat gewesen, der noch wie die Generation seit Fukuzawa Yukichi (Erzieher und Autor 1835–1901) in der Meiji-Zeit eine erlebnisreiche, beeindruckende Seereise über ganz Südostasien nach Europe durch den Suez Kanal hin- und zurück machen durfte.

Im Laufe der Jahre habe er von Wolfgang Frühwald nicht nur aus zahlreichen Sonderdrucken, sondern auch durch persönliche Gespräche sehr viel gelernt und es sogar manchmal ohne Quellenangabe zitiert, was ihm als Philologe ein etwas schlechtes Gewissen bereite. So habe er einmal mit seinem Mentor Frühwald über die Flugblätter der Weißen Rose diskutiert, in denen neben der Bibel (Der Prediger Salomo) Augustinus, Goethe, Schiller, Novalis, Aristoteles und Laotse zitiert waren. Ich wunderte mich, daß ausgerechnet Laotse statt Konfuzius genannt wurde. Da wies mich mein Mentor darauf hin, dass Theodor Haecker in seinem seinerzeit bekannten Buch „Was ist der Mensch?“ (1933) einmal bemerkt hatte: „Ich kann mir gut vorstellen, dass einer ein kleines Buch schriebe: Laotse, Vater des Morgenlandes.“ Das war bewußt im Hinblick auf sein antifaustisches Buch „Vergil, Vater des Abendlandes (1931)“ gesagt. (…) In seinen „Tag- und Nachtbüchern 1939–1945“, deren Manuskript bei der Hausdurchsuchung beinahe entdeckt worden wäre, no­ tierte er (in Anspielung auf den Widerstand der Geschwister Scholl während der Nazizeit) in der Tat am 9. Juni 1944: „Manche ‚gute‘ Menschen, Helfer, Tröster, durch ihr Sein und ihr Tun! Scholl!“

Zugleich heißt es bei Kimura: Wie die nichtchristlichen Japaner sich eifrig für Europa vor und nach der Reformation interessieren, müßten die europäischen Christen sich noch mehr mit den großen Kulturtraditionen in Indien, China und Korea beschäftigen, um ohne Mystifizierung des japanischen Zen in einer wirklich „universalen Kirche“ (ecclesia catholica) geistig angesiedelt zu sein. (…) Im Zeitalter der Globalisierung spielt der Westen al­ lein, oder der Osten allein keine Rolle mehr. Wie jener aus Europa und Amerika im weitesten Sinne besteht, muß dieser freilich in Nah-, Mittel- und Fernost dif­ferenziert werden, um dann erneut mit der kulturellen Seidenstraße verbunden zu werden. Dafür ist ein reger Kulturaustausch, vor allem geistiger Austausch auf dem Weg der sprachlichen Verständigung notwendig. Damit sind aber nicht nur mündliche Kommunikation in einigen Weltsprachen, sondern auch Schriftverkehr im kulturwissenschaftlichen Sinne einschließlich der Übersetzung gemeint.

Kimura hebt besonders hervor: Ostasiatische Germanis­ten haben glücklicherweise Deutsch als gemeinsames Verständigungsmittel entdeckt. Im Jahre 2000 ist es meinem chinesischen Freund Prof. Dr. Zhang Yushu, Pe­ king, gelungen, mit seinem Chinesisch-deutschen Jahr­ buch für Sprache, Literatur und Kultur eine sogenannte „Literaturstraße“ anzubahnen, und im Juli 1992 hat mein älterer koreanischer Freund Prof. Dr. Byong-Ock Kim ein Institut für Übersetzungsforschung zur deutschen und koreanischen Literatur in Seoul gegründet.

Goethes Sprache als Werkzeug der Vernunft

In dem Aufsatz Mein geliebtes Deutsch schreibt er, wenn man sich wie er fünfzig Jahre mit der Goethezeit beschäf-tigt hat, weiß man einigermaßen, worin die Eigentümlichkeit der Goetheschen Sprache besteht: Schlichtheit des Ausdrucks bei größter Sinntiefe. (…) Der alte Goe­ the (…) schreibt (…) zwei Monate vor seinem Tode: „Die deutsche Sprache ist zu einem so hohen Grad der Ausbildung gelangt, daß einem jeden in die Hand gegeben ist, sowohl in Prosa als auch in Rhythmen und Reimen sich dem Gegenstande wie der Empfindung gemäß nach seinem Vermögen glücklich auszudrücken.“ Für Goethe sei Sprache im Grunde genommen ein natürliches Werkzeug, das aus der Verstandes- und Vernunfttätigkeit des Menschen entstanden ist, und das man zweckmäßig und willkürlich gebrauchen kann, so daß „man sie ebensogut zu einer spitzfindig-verwirrenden Dialektik wie zu einer verworren- verdüsternden Mystik verwenden kann.“ (Maximen und Reflexionen)

Kimura verbindet seine Anmerkungen mit einer generellen Kritik am Niedergang der Geisteswissenschaften, was gerade in der heutigen Zeit von Bedeutung ist. So schreibt er an einer Stelle: Es ist gleichwohl z. Zt. etwas besorg­niserregend, zuzusehen, wie die Geisteswissenschaften, besonders Philologie, Religions- und Ostasienwissen­ schaften, an den deutschen Universitäten zugunsten der Naturwissenschaften geringgeschätzt und vernachlässigt werden (…) Als Deutschland das Land war, wo Kunst und Literatur, Philosophie und klassische Philologie blühten, haben alle Intellektuellen von Europa, Amerika und Rußland in Deutschland studieren wollen. Er fordert daher: Wir brauchen jetzt auf dem Weg zum 21. Jahrhundert die Wiederbelebung der Geisteswissenschaften, um nicht geistig und kulturell zu verkommen. Denn Geisteswissenschaften bedeuten nichts anderes als Wissenschaften vom Mensch, also Humanwissenschaften. Wer die Geisteswissenschaften vernachlässigt, schätzt den Menschen gering und macht die zur Überwindung ihrer Krise hervorgerufenen Kulturwissenschaften selbst gegenstandslos. Überhaupt müsste man einmal ernsthaft danach fragen, ob es sich bei der Hinwendung zu den sogenannten. Kulturwissenschaften nicht um eine Modeerscheinung in der deutschen Germanistik handele, die, wie in den letzten Jahrzehnten, hervorgebracht wird, um nach gewisser Zeit wieder durch eine andere ersetzt zu werden, während die Philologie über eine jahrhundertealte Tradition im Abendland verfüge. Vielleicht müsste Schiller mit seiner Idee der ästhetischen Erziehung des Menschen für eine bessere Zukunft der Menschheit wieder Goethe zur Seite stehen.

Alexander von Humboldt als Exponent der Sinologie

Ausführlich hat sich Kimura im Laufe seiner Forschungen mit Alexander von Humboldt beschäftigt, dessen 250. Geburtstag in diesem Jahr weltweit gefeiert wird. Kimura nimmt in seinem Buch Bezug auf ein Humboldt-Kolleg, das von ihm 2005/2006 in Zusammenarbeit mit dem Institut für die Kultur der deutschsprachigen Länder an der Sophia-Universität, Tokyo organisiert worden war. Als Organisator des Kollegs und Goetheforscher, der lange mit Goethes Gedankenwelt vertraut ist, sei damals nichts natürlicher gewesen, als auf die deutsche Wissenschaftsgeschichte zurückzublicken und das Generalthema des Humboldtkollegs Die deutsche Tradition der Universal­wissenschaften festzulegen. Es umfasste vier Hauptbereiche:

1. Forschung und Lehre in der Wissenschaft,

2. Universalismus in der Goethezeit,

3. Kosmopolitisches Denken in der Gesellschaftslehre,

4. Philosophierende Naturwissenschaftler.

Natur- und Geisteswissenschaften im Dialog

Das Buch Kimuras gibt auch einen Einblick in den Dialog zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. So nimmt er in Kapitel 6 an einer Stelle Bezug auf einen Vortrag Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft, den der deutsche Naturwissenschaftler Max Planck im November 1941 im Goethe-Saal des Harnack-Hauses der Kaiser-WilhelmGesellschaft zur Förderung der Wissenschaften zu Berlin hielt. Wie Kimura anmerkt, war Plancks Vortrag eher philosophisch als naturwissenschaftlich. Planck zitierte aus Goethes Gedicht Allerdings einen Vers wie selbst­verständlich folgendermaßen: „Das metaphysisch Reale steht nicht räumlich hinter dem erfahrungsmäßig Gegebenen, sondern es steckt ebenso gut auch in ihm mit­ tendrin. ‚Natur ist [hat] weder Kern noch Schale, alles ist sie mit einem Male.“(Goethe). Das Wesentliche ist, daß die Welt der Sinnesempfindungen nicht die einzige Welt ist, die begrifflich existiert, sondern dass es noch eine andre Welt gibt, die uns allerdings nicht unmit­telbar zugänglich ist, auf die wir aber nicht nur durch das praktische Leben, sondern auch durch die Arbeit der Wissenschaft immer wieder mit zwingender Deutlichkeit hingewiesen werden.“

Kimura kommentiert den Vortrag Plancks: Es gehört in der Tat zum auffallenden Wesenszug der neueren deut­schen Wissenschaft, daß sich die Physiker seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit der Philosophie intensiv be­schäftigten.

Jedem, den die Aufgeregtheiten in der Kulturdebatte beunruhigen, ist dieser Sammelband von Naoji Kimura als wahre Schatztruhe des „Spiegelbilds der Kulturen“ empfohlen.

Elisabeth Hellenbroich ist Philologin und schreibt als freie Jour­ nalistin für lateinamerikanische Publikationen und eine italie­ nische Webseite.

elisabeth.hellenbroich@t-online.de

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