Rudolf zur Lippe/Frank Hahn (Hg.) (2018): Mit und von einander Lernen der Kulturen – Für eine gegenseitige Aufklärung. Freiburg: Verlag Karl Alber. 208 S., kartoniert, ISBN 978-3-495-48856-0. € 34,00
Ende 2019 soll das Humboldt-Forum im Berliner Stadtschloss eröffnet werden. Dort werden dann die Exponate des Museums für Asiatische Kunst und des Ethnologischen Museums, die bis 2017 in Berlin-Dahlem ansässig waren, zu sehen sein. Das (teil-)rekonstruierte Stadtschloss nimmt dann den Platz ein, an dem von 1973 bis 2008 der ‚Palast der Republik‘ stand. Das Humboldt-Forum kann mehr sein als ein Museum über außereuropäische Kulturen. Es sollte ein lebendiger Ort interkultureller Begegnung werden. Genau dazu ist das von Rudolf zur Lippe, emeritierter Philosophieprofessor und bildender Künstler, und Frank Hahn, Autor und Essayist, herausgegebene Buch ein Diskussionsbeitrag. Es dokumentiert ein mehrjähriges ‚brain-storming‘ darüber, was interkulturelles ‚Mit und Voneinander Lernen‘ bedeutet. Sein vielgestaltiger Inhalt hat nichts mit ‚Multikulti‘-Ideologie oder feuilletonistischer Belehrung zu tun. Gerade weil das Thema ‚Dialog der Kulturen‘ inzwischen etwas breitgetreten und abgenutzt erscheint, ist der im Buch gewählte Ansatz weiterführend.
Neben denjenigen der Herausgeber enthält das Buch 21 Beiträge von Künstlern, Schriftstellern, Sozialwissenschaftlern, Philosophen, Politikern und Kuratoren. Zu den Autoren zählen der frühere UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali, die Philosophen Volker Gerhardt und Karol Sauerland, die Politikwissenschaftler Maria Todorova und Jacob Emanuel Mabe, der Schriftsteller Ilja Trojanow, die Sufi-Geistliche A. Nur Artiran oder der Filmemacher Wim Wenders. Mehrere Texte des Buches basieren auf Redebeiträgen einer Tagung, die von den Herausgebern am 30. Juni 2010 in Berlin veranstaltet wurde.
In der heutigen multipolaren Welt ist interkultureller Dialog eine eminent politische Frage. Man muss nüchtern feststellen, dass die veränderten Machtverhältnisse in der Weltpolitik sowieso eine neue kulturelle Sichtweise erzwingen werden – in und außerhalb des ‚Westens‘. Der ‚Eurozentrismus‘, d.h. die Wahrnehmung und Bewertung der Welt nach euro-amerikanischen Maßstäben, hat keine Zukunft. Die Frage ist also, ob Europa fähig ist, eine neue kulturelle Sicht- und Verhaltensweise zu entwickeln, die es ermöglicht, das globale Kulturverständnis im 21, Jahrhundert aktiv mitzugestalten. Dazu reicht eine (oft eher deklaratorische) ‚koloniale Vergangenheitsbewältigung‘ nicht aus, wenngleich sie sicher auch notwendig ist, wie die aktuelle Diskussion über die Restitution geraubter Kulturgüter aus den ehemaligen Kolonien zeigt. Vielmehr geht es weit tiefgehender darum, den Wert außereuropäischer Kulturleistungen zu erkennen und sie produktiv mit den eigenen europäischen Kulturleistungen in Beziehung zu setzen.
Dabei ist der Blick auf die vor-koloniale Weltgeschichte zielführend, denn sie zeigt, dass viele ‚rein europäische‘ Kulturleistungen tatsächlich erst durch die Begegnung mit außereuropäischen Kulturen hervorgebracht worden sind. Das beginnt schon mit Platos Inspiration durch die (alt-) ägyptische Philosophie. Ähnliches gilt für die ‚Wiederentdeckung‘ der aristotelischen Philosophie in Europa auf dem Weg über den arabisch-muslimischen Kulturraum. Auch die moderne Mathematik ist entscheidend von den mathematischen Durchbrüchen im indischen und arabischen Raum beeinflusst. Im besprochenen Buch wird auch auf den Einfluss der chinesischen Philosophie auf Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff hingewiesen. Es gilt also, aus der geschichtlichen Tatsache kultureller Konfluenz die richtigen Schlussfolgerungen für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen.
Ein wirklicher interkultureller Dialog, wie Lippe in seinem Beitrag ausführt, bedarf der ‚Aufklärung der Aufklärung‘. Für den ‚Westen‘ bedeute dies, dass die Kulturleistung der europäischen Aufklärung nicht auf Markwirtschaft, demokratischen Wahlmodus und monolineare Fortschritts- und Perfektibilitätsvorstellungen reduziert werden dürfe. Um auf das weit umfassendere Potenzial der europäischen Aufklärung zugreifen zu können, bedarf es der ‚wechselseitigen Aufklärung‘ mit den außereuropäischen Kulturen. Erst wenn wir aufhören, die Errungenschaften außereuropäischer Kulturen zu übersehen (und zu überhören), wird es möglich, das Ausblenden eigener Potenziale zu erkennen und dies zu korrigieren. Wilhelm und Alexander von Humboldt oder Johann Wolfgang von Goethe haben genau diese Position vertreten – und sie waren sicher keine Vertreter des naiven Wunschdenkens.
Einen besonders interessanten Beitrag zur wechselseitigen, interkulturellen Aufklärung macht Karol Sauerland. Er verweist auf den polnisch-jüdischen Wissenschaftstheoretiker und Biologen Ludwik Fleck. Für diesen findet Wissensproduktion stets im Rahmen von ‚Denkkollektiven‘ statt, deren Mitglieder (meist unbewusst) einen gemeinsamen ‚Denkstil‘ haben. Innerhalb von Denkkollektiven kann es aber eine ‚Denkbereitschaft‘ geben, über den bestehenden Denkstil hinaus zu denken. Dies führt zur Herausbildung neuer Denkkollektive mit neuen Denkstilen, die mit innovativer Wissensproduktion einhergehen können. Zum gleichen Ergebnis kann auch der ‚interkollektive Denkverkehr‘ führen, wenn die Denkbereitschaft vorhanden ist, über den eigenen, gewohnten Denkstil hinaus zu denken. Die gegenseitige Aufklärung zwischen westlicher und außereuropäischer Kultur wäre dann im Sinne Flecks ein ‚interkollektiver Denkverkehr‘ mit der Bereitschaft, über den eigenen Denkstil hinaus zu denken und so ein umfassenderes und zugleich tieferes Kulturverständnis im globalen Rahmen zu erlangen.
In mehreren Beiträgen des besprochenen Bandes wird auf die westliche Nichtwahrnehmung bzw. Marginalisierung der vielfältigen und als völlig andersartig empfundenen Ausdrucksformen außereuropäischer Kulturen hingewiesen. Besonders relevant dabei ist die Haltung gegenüber der oralen Kulturtradierung: Was nicht (vorzugweise in einer europäischen Sprache) schriftlich fixiert ist, wurde und wird immer noch ignoriert oder abschätzig behandelt. In weiten Teilen Asiens, Afrikas und Südamerikas sind bis in die Gegenwart Religion, Philosophie, Kunst, Musik, medizinische und technische Fähigkeiten mündlich tradiert. Für außereuropäische Kulturen mit Tradition oraler Überlieferung sollte mindestens gelten, was westliche Pharmakonzerne seit geraumer Zeit tun: Sie durchforschen die überlieferten Rezepturen indigener Völker in Asien, Afrika und Südamerika, um daraus moderne (und natürlich für sie profitable) Pharmaprodukte zu entwickeln. Auch die religiöse Dimension des interkulturellen Dialogs wird in dem hier besprochenen Band thematisiert. Interessanterweise geht es dabei nicht um die etablierten Großreligionen, sondern um die kulturell enorm wirkmächtige Sufi-Tradition im Islam und den Schamanismus in Zentra lasien, denen bislang weit weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde.
Das von Lippe und Hahn herausgegebene Buch ist unakademisch und unbelehrend. Es richtet sich an neugierige und weltoffene Leser, die bei der Lektüre vielfältige Anregungen, Verwunderungen, Ideen und Einsichten gewinnen können. In diesem Sinne ist in dem besprochenen Buch so etwas wie ein ‚Humboldtscher Geist‘ präsent. (ml) ˜
Dr. Michael Liebig ist Politikwissenschaftler
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