Zeitgeschichte

Nein, so war es nicht!

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 6/2023

Renate Ellmenreich zu Peter Wensierskis Buch „Jena-Paradies“

Im fachbuchjournal (3/2023 S. 42ff.) habe ich dem 2023 im Ch. Links Verlag erschienenen Buch „Jena-Paradies“ von Peter Wensierski unter der Überschrift „Auf der Suche nach einem freien, selbstbestimmten Leben. Ein Staat gegen zwei Jugendliche“ breiten Raum eingeräumt. Das Thema war und ist mir wichtig. Es geht um den Tod des 23-jährigen Matthias Domaschk im April 1981 in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt Gera. Nachdem ich nun Renate Ellmenreich, die Lebensgefährtin von Matthias Domaschk und Mutter der 1976 geborenen gemeinsamen Tochter, kennengelernt habe und sie eine andere Sicht auf das Geschehen von damals hat als Peter Wensierski, möchte ich sie hier zu Wort kommen lassen. Renate Ellmenreich war gemeinsam mit Matthias Domaschk in der systemkritischen Jungen Gemeinde in Jena aktiv. Auch nachdem viele der Mitglieder der Gruppe verhaftet und sie selbst von der Stasi überwacht wurde, opponierte sie weiter gegen das System; eine authentische Zeitzeugin. Sie lehnt die Deutung des Autors vom Selbstmord Matthias Domaschks ab.

Renate Ellmenreich ist Pfarrerin i.R. und lebt in Beirut und Nürnberg. Sie hat den Text „Nein, so war es nicht!“ in der Anhörung am 25. August 2023 vorgetragen, die in Jena von der Thüringer Staatskanzlei und dem „ThürAZ Matthias Domaschk“ im Vorfeld der Enthüllung einer Plakette an ihrem ehemaligen Wohnhaus in Jena veranstaltet worden war. Wir geben ihn hier stark gekürzt1 wieder. (ab)

Im März 2023 erschien das Buch „Jena Paradies“ von Peter Wensierski, zu dem ich ihn drei Jahre zuvor angeregt hatte. Die Absicht damals war, ein Buch über das Leben von Matthias Domaschk zu schreiben, nachdem die vom Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow eingesetzte „Arbeitsgruppe zum Tod von Matthias Domaschk“ ihren Abschlussbericht im Augst 2019 vorgelegt hatte. Darin waren die Ergebnisse dreijähriger Recherchearbeit von Dr. Henning Pietzsch und RA Wolfgang Loukides zusammengefasst worden. Sie erhärteten die erheblichen Zweifel an der vom MfS dokumentierten These vom ­Suizid Matthias Domaschks. […] Peter Wensierski baut das ganze Buch so auf, dass alles zwangsläufig und unwidersprechbar auf einen ­Suizid hinauslaufen muss. Warum? War es seine Absicht, die Unmenschlichkeit und Härte und Falschheit des „realexistierenden Sozialismus“ und seiner Machtorgane aufzuzeigen? Die Absicht ist löblich, aber das Leben und den Tod von Matthias Domaschk dafür zu verzwecken ist Missbrauch. War es dagegen seine Absicht, dem Leben von Matz, zu dem auch sein Tod gehört ein Andenken zu setzen, dann hat er sträflich vernachlässigt, was viele Menschen schon vor ihm dazu beigetragen haben. […] Es gibt seit nun über 30 Jahren viele Forschungsergebnisse zum Tod von Matz (Matthias Domaschk, d. Red.), die er mit seiner Deutung des Geschehens abwertet und ausschließt. Ich will hier nur ein Beispiel erwähnen. Schon 1982 gab es erste öffentliche Mitteilungen, die die Stasiversion eines Suizids widerlegten. Ich zitiere aus den Akten des BND (51C/51CA-2B): „Professor Kurt Pitzler berichtet über seinen Kollegen und Jagdfreund Dr. Manfred Disse, der ihm folgendes erzählte: „Er sei nachts wegen eines Todesfalls in das Untersuchungsgefängnis des MfS GERA gerufen worden. Bei dem Toten handelte es sich um den DDR-Bürger DOMASCHK. DISSE wurde erklärt, dass DOMASCHK Selbstmord durch Erhängen verübt habe. DISSE überführte den Toten in das gerichtsmedizinische Institut JENA und nahm dort die Obduktion vor. Seine Untersuchung ergab, daß aufgrund der Würgemale am Hals ein Suizid durch Erhängen mit Sicherheit auszuschließen sei. Vielmehr deuteten die Merkmale eindeutig auf Erwürgen hin, wobei der Täter hinter DOMSCHK gestanden haben musste. DISSE legte diese Erkenntnis in einem Untersuchungsbericht nieder. Der Untersuchungsbericht ging u.a. an die MfS-Dienststelle GERA. Einen Tag später wurde DISSE von MfS-Angehörigen aufgesucht und aufgefordert, seinen Untersuchungsbericht auf „Tod durch Selbstmord“ abzuändern. DISSE lehnte das ab. Daraufhin wurde ihm der Fall durch seine Vorgesetzte, Frau Professor KERDE, entzogen. DISSE wurde mit dem Fall nicht mehr konfrontiert, nahm aber an, daß in einem neuen Protokoll die Todesursache gem. Wunsch des MfS niedergelegt wurde.“

Am 9. April 2011 bekräftigte Dr. Disse in einer öffentlichen Veranstaltung des ThürAZ in Jena noch einmal, dass er nicht auf Selbstmord plädiert habe und eine andere Todesursache möglich gewesen sei. 2019 kommt auch der Pathologe Dr. Tsokos nach Besichtigung der Fotos in der Todesakte zu dem Schluss: „Zusammenfassend ergeben sich aus rechtsmedizinischer Sicht an der Todesursache Erhängen einige Zweifel. Als weiterer todesursächlicher Mechanismus kommt eine andere Form der Strangulation in Betracht, nämlich ein Erdrosseln von hinten.“ (zitiert nach: Henning Pietzsch, Matthias Domaschk 2.0, Suizid oder Mord in Stasi-Haft 81, S. 103)

Warum besteht Peter Wensierski – quasi unisono mit den MfS-Offizieren – darauf, dass Matthias Domaschk sich selbst erhängt habe? Soll damit jede weitere Untersuchung dieses Falles überflüssig und unmöglich werden? Das werde ich nicht akzeptieren.

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1 Vollständig ist der Text nachzulesen in der stacheldraht Nr. 8/2023 S. 10/11. E-Mail: der-stacheldraht@uokg.de. Weitere Informationen: Thüringer Archiv für Zeitgeschichte, www.thueraz.de

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