Zeitgeschichte

Ein Staat gegen zwei Jugendliche

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 3/2023

Auf der Suche nach einem freien, selbstbestimmten Leben

Freitag, 10. April 1981: In Jena steigt der 23-jährige Matthias Domaschk in den Schnellzug nach Berlin. Er will zu einer Geburtstagsfeier. Doch er kommt nie an, denn der vollbesetzte Zug wird in Jüterbog gestoppt, Matthias und drei weitere Jenaer festgesetzt. Zwei Tage später ist er tot, nach einem Verhör in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt Gera. Was ist damals geschehen? Peter Wensierski erzählt das Drama der letzten Stunden im Leben eines jungen Mannes, der auf der Suche nach sich selbst und einer lebenswerten Gesellschaft ist. Wie Teile eines Puzzles lassen überraschende Rückblenden in sein Leben das Bild einer unangepassten Jugend in einer Diktatur entstehen. Der Blick hinter die Kulissen des autoritären Machtapparates offenbart Erschreckendes und zeigt, wohin die Spaltung einer Gesellschaft in Freunde und Feinde letztlich führen kann.

Matthias Domaschk in der Gartenstraße 7 im Sommer 1977, die Signatur: ThuerAZ-F-DW-057.35

Der Journalist und Autor Peter Wensierski hat das Leben und die letzten Tage von Matthias Domaschk minutiös rekonstruiert. Im Gespräch mit Dagmar Hovestädt, Leiterin der Abteilung Vermittlung und Forschung des Stasi-Unterlagen-Archivs im Bundesarchiv und frühere Kollegin in der ARD-Kontraste-Redaktion, gibt er Einblicke in seine aufwändigen Recherchen. Wir danken Dagmar Hovestädt für die Genehmigung, das Gespräch in Teilen im fachbuchjournal veröffentlichen zu können. Es handelt sich um einen bearbeiteten Auszug aus dem Podcast zum Stasi-Unterlagen-Archiv „111 Kilometer Akten“, F ­ olge 75 vom 14. Dezember 2022.

Transparent „Wie jedes Jahr zum 1. Mai sind wir für Losung Nr. 2“ an der WG Jahnstraße, Jena 1976; Quelle: Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“, Sammlung/Urheber Wolfgang Diete, Signatur: ThuerAZ-F-DW-030.03

 

Peter Wensierski, was war der Anlass, sich mit Matthias Domaschk zu beschäftigen?

Anfang der 80er-Jahre war ich als westdeutscher Journalist sehr oft in der DDR unterwegs. Ich kannte zwar Matthias Domaschk nicht, aber viele Jugendliche, die so wie er waren, die nicht mehr den Weg ihrer Eltern, den Weg der Anpassung an eine Diktatur gehen wollten. Sie versuchten auszubrechen aus einer engen, spießigen und verlogenen Gesellschaft. Sie haben sich an vielem gestoßen, was ich auch aus dem Westen kannte. Die Eltern, die Aufbaugeneration in beiden deutschen Staaten, kamen aus demselben Deutschland, dem Hitler-Deutschland der Nazizeit. Auch da hatten sich viele weggeduckt oder mitgemacht, die meisten waren zudem durch den Krieg traumatisiert. Nur: Die einen lebten mit Verdrängung und Lügen in einer Demokratie, die anderen in der Diktatur des Proletariats.

Warum kam der junge Peter Wensierski damals ausgerechnet in die DDR? War das für dich ein interessantes Berichterstattungsgebiet?

Es war ein Land, in dem es keine Pressefreiheit gab, Journalisten eigentlich nicht erwünscht waren, aus dem nicht kritisch berichtet werden sollte. Da Transparenz und Klarheit hineinzubringen, war für mich wichtiger, als in West-Berlin Journalist zu sein. So gehörte ich ab etwa 1978 zu den wenigen Westjournalisten in der DDR und traf auf zumeist sehr viel ältere Kollegen, die aus der DDR berichten durften. Ich war damals Anfang 20 und interessierte mich natürlich für meine Altersgenossen.

Auf gewisse Art und Weise bist du dafür prädestiniert, 40 Jahre später noch mal einzutauchen in die Geschichte rund um Matthias Domaschk. Trotzdem interessiert mich, warum es für dich so viel später noch mal eine Rolle spielt, da anzusetzen.

Natürlich habe ich damals, 1981, den Tod von Matthias Domaschk wahrgenommen und darüber im Spiegel und anderen Medien berichtet, etwa über die peinliche Beiseiteschaffung einer Gedenkskulptur. Ich habe mich damals intensiv mit der Jugendszene in der DDR befasst, Radiokommentare, Reportagen und Bücher geschrieben sowie einzelne Dokumentarfilme gemacht. Mitte der 80er-Jahre, als ich beim ARD-Magazin Kontraste arbeitete, holte ich den gebürtigen Jenaer Roland Jahn, der 1983 aus der DDR unter Zwangsanwendung rausgeschmissen worden war, in die Redaktion. Wir saßen uns jahrelang am Schreibtisch gegenüber und wollten es uns beide nicht nehmen lassen, weiter aus der DDR zu berichten. Natürlich sprachen wir auch über Jena – und über Matthias Domaschk. Das Thema war daher für mich immer wieder präsent. Vor drei Jahren bin ich von Freundinnen und Freunden von Matthias gebeten worden, mich der Sache anzunehmen. Da sagte ich mir: Gut, das ist jetzt der Punkt, wo ich alles ganz genau recherchieren will.

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich viele Menschen mit dem Fall Matthias Domaschk beschäftigt. Als du vor zwei Jahren zu uns ins Stasi-Unterlagen-Archiv kamst, haben wir die Recherche noch mal ganz neu angelegt. Was war für dich denn wichtig im Zugriff auf die Unterlagen? Wo hast du angefangen, und wie hat sich das Feld möglicherweise verändert im Laufe der Recherche?

Die Stasi-Akten sind schon ein ziemlich heftiges Archivmaterial, man kann zwar manchmal auch lachen über die Schreib- und Tippfehler, die Formulierungen und das Unwissen mancher Offiziere, aber es ist ein Trauerspiel, was da vor einem liegt. Doch die Dokumente sind sehr nützlich zur Erkenntnisgewinnung und ein Schatz, ein seltener Fundus, um aus der Geschichte zu lernen. Ich habe nicht erwartet, der Weisheit letzten Schluss allein aus Stasi-Akten zu ziehen. Für mich waren die Gespräche mit den Zeitzeugen extrem wichtig. Ich sprach mit immer mehr Freunden und Freundinnen von Matthias Domaschk, die ich zum Teil überhaupt erst mal ausfindig machen musste. Und auch mit MfS-Mitarbeitern. Allerdings sind Zeitzeugenaussagen allein auch problematisch. Jeder hat andere Erinnerungen, es wird sich mitunter falsch erinnert. Auch in den Stasi-Akten stehen fehlerhafte Sachen, vor allem in den IM-Berichten.

Erst die Kombination von Zeitzeugengesprächen, von alten Fotos und anderen persönlichen Dokumenten, von MfS- und vielen anderen Akten ergibt dann ein Gesamtbild. Deshalb suchte ich auch in Archiven der Volkspolizei, der Transportpolizei, in Staats- und Landesarchiven, im Archiv von Carl Zeiss Jena, in polnischen und tschechischen Archiven.

Die Kerngeschichte ist, dass Matthias Domaschk in Stasi-Haft umgekommen ist und bis heute nicht so richtig klar ist, unter welchen Umständen. War das ein Ehrgeiz für dich, das mit dieser erneuten Recherche herauszufinden?

Ich wollte vor allem aus dem Leben von Matthias und dem seiner Freunde erzählen, denn das ist mir bisher zu kurz gekommen. Was war das für ein Jugendlicher, wovon träumte er, was wollte er? Was haben er und seine Freunde eigentlich genau gemacht? Mich interessierte der Ausbruch aus dem Reich der Eltern, der Aufbruch zu neuen Ufern. Ende der 70er-, Anfang der 80er-Jahre ging es vielen jungen Menschen im Westen wie im Osten um eine Veränderung der jeweiligen Gesellschaft. Jena war in der DDR ein besonderer Kristallisationspunkt, eine Stadt der Jugend, mit Universität und Tausenden in den Lehrlingsund Jungarbeiterwohnheimen. Hier entstanden schon Mitte der 70er-Jahre legendäre Wohngemeinschaften. Das waren in den Augen der Ordnungshüter unkontrollierbare Treffpunkte.

Die Jugendlichen versuchten, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, sie hatten Spaß am Zusammensein, an Kunst, Kultur, Büchern, Musik, Filmen. Sie trampten kreuz und quer durchs Land, zu Bluesfestivals, bis nach Polen, Bulgarien, Rumänien. Matthias interessierte sich sehr für die politischen Entwicklungen, als in Polen gestreikt wurde und die Solidarno´s ´c entstand. Da hatten sie den Westdeutschen einiges voraus.

Ein Stück weit hast du das auch in den Akten nachvollziehen können?

Man muss sich Zeit nehmen für die Archivarbeit. Und gerade bei Stasi-Akten muss man nach Gegenüberlieferungen und Zusammenhängen suchen, aus einer IM-Akte allein geht zu wenig hervor. Die Recherche nahm teilweise kriminalistische Züge an. Dann war es auch sehr wertvoll, dass ich mit ehemaligen MfS-Mitarbeitern sprechen konnte, die natürlich auch Zeitzeugen sind. Nun gelten StasiLeute nicht als die Glaubwürdigsten, aber wenn sie was erzählen, kann man das abgleichen mit Akten, mit den Erinnerungen anderer Zeitzeugen, auch mit den Erzählungen anderer Stasi-Offiziere. Das lohnt und ist seit 30 Jahren zu wenig gemacht worden.

Als Journalist muss man bei einer Recherche ja immer mit möglichst vielen Leuten sprechen, die unterschiedlichsten Quellen nutzen. Von Betroffenen bis zu möglichen Tätern und Experten.

An welche Experten hast du dich bei deiner Recherche zu Matthias Domaschk gewandt?

An Gerichtsmediziner, Psychologen, Historiker und Polizisten. Wer einen Tod aufklären will, muss sich mit Themen rund um den Tod beschäftigen. Trotzdem galt mein Interesse in erster Linie dem Leben dieser Jugendlichen um Matthias. Im Nachhinein bin ich erschüttert, wie schnell sie zu Staatsfeinden erklärt wurden. Wieso hatten Stasi und Polizei immer diesen Blick: Das sind feindlich-negative, dekadente Jugendliche. Ich habe versucht zu verstehen: Warum machen Leute diesen Job beim MfS? Wie kommen sie zu ihren Ansichten? Mein Interesse ging aber noch weiter: Ich wollte verstehen, warum es immer wieder Menschen gibt, die sich zum Werkzeug einer Diktatur machen und davon überzeugt sind, dass sie auf der richtigen Seite stehen und etwas zutiefst Gerechtfertigtes tun. Was sind das für Menschen, was ist mit denen los? Warum werden Menschen historisch betrachtet zu Tätern? Gibt es irgendwas, was man daraus lernen kann, wie man das durchbrechen kann?

 

Peter Wensierski: Jena-Paradies. Die letzte Reise des Matthias Domaschk. Berlin: Ch. Links 2023, Hardcover mit SU, Abb., 368 S., ISBN 978-3-96289-186-2. € 25,00. 

Das System funktionierte nicht nur, weil es die ­Stasi und die Partei gab, sondern weil eine Menge Leute mehr akzeptierten, dass es so funktionieren sollte, wie die, die an der Macht waren, es verlangten.

Ja, das war für mich überraschend, als ich bei der Recherche feststellte, dass der Apparat nur funktionieren konnte, weil er mit den »Kräften des gesellschaftlichen Zusammenwirkens« zusammenarbeitete: mit den Leuten vom Rat des Kreises, der Volkspolizei, deren freiwilligen Helfern, den Abschnittsbevollmächtigten, Hausbuchführern, Kontaktpersonen aller Art, Lehrerinnen und Lehrern und, und, und. Kurzum: Sie alle haben sich an der Unterdrückung ihrer Mitbürger beteiligt. Das ist in den letzten 30 Jahren seit dem Fall der Mauer kaum thematisiert worden. Die Stasi wäre eigentlich machtlos gewesen, hätte sie nicht diesen Rückhalt im eigenen Land gehabt.

Du hast eine enorme Vielzahl an Archivakten, an Überlieferungen, an Zeitzeugenerinnerungen gesammelt, zudem alles eingesehen, was bislang veröffentlicht wurde. Das ist eine riesige Menge an Material.

Wie wird daraus ein Buch?

Gute Frage! Ich habe vor einem 50.000-Teile-Puzzle gesessen und musste das zusammenfügen, damit ein Bild entsteht. Das dauert seine Zeit. Ich bin dabei aber auch zu neuen Erkenntnissen gelangt. Vieles ist, wenn man genau recherchiert, doch anders, als es auf den ersten Blick erscheint. Es gibt Augenzeugenberichte, Protokolle, Gedächtnisprotokolle. Da ließ sich viel mehr aufgrund von Fakten rekonstruieren, als ich anfangs dachte. Das Buch spielt auf einer Ebene nur an wenigen Tagen, also an jenem Freitag, Samstag und Sonntag im April 1981. Dennoch sind auf einer anderen Ebene all die Jahre vorher darin beschrieben, weil ich in Rückblenden ganz viel aus dem bunten Leben von Matthias und seiner Freunde erzähle. Und noch eine dritte Ebene: Da steigen zwei in den Zug nach Berlin, freuen sich auf eine Geburtstagsfeier, währenddessen baut sich im Hintergrund ein wahnsinniger Apparat des Staates auf. Darum springe ich zwischen der Perspektive von Matz, seinem Freund, Spitzname Blase, und der MfS-Kreisdienststelle in Jena, der Bezirksverwaltung Gera, den Fahrern eines Barkas oder der Transportpolizei in Jüterbog abwechselnd hin und her.

Man muss sich das mal vorstellen: Die stoppen einen Schnellzug, der von Thüringen nach Berlin unterwegs ist mit Hunderten Insassen an Bord, nur um zwei Leute, die zu einer Geburtstagsfeier fahren wollen, herauszuholen, weil sie ganz andere Vermutungen, man könnte auch sagen: Wahnvorstelllungen von einer Bedrohung haben. Denn in Berlin beginnt gerade der X. Parteitag der SED, und es gibt eine Direktive von Erich Mielke, keinerlei Störungen während des Parteitags zuzulassen. Überall im Land wurden Einsatzstäbe gebildet, damit bloß kein Zwischenfall passiert. Und dann fahren am Abend des 10. April 1981 praktisch zwei Züge aufeinander zu … ein Staat gegen zwei Jugendliche.

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