Ethik

Grundlinien einer islamisch-theologischen Tierethik

Aus: fachbuchjournal-Ausgabe 5/2021

Asmaa El Maaroufi, Ethik des Mitseins. Grundlinien einer islamisch-theologischen Tierethik (falsafa. Horizonte islamischer Religionsphilosophie Band 4). Freiburg/München: Verlag Karl Alber, 2021. 236 S., geb., ISBN 978-3-495-49227-7. € 49,00.

    Ein drittes Mal begegne ich beim Lesen für das fachbuchjournal Ahmad Milad Karimi (zuletzt fbj 1 | 2020 83-85 im Gespräch mit Anselm Grün, davor als Verfasser von „Die Blumen des Koran oder: Gottes Poesie“ 2 | 2016 19-21), diesmal indirekt durch eine muslimische Deutsche, der er, auf Deutsch lehrend, zu einer Gelehrten zu werden mitverhalf. Er gibt die Reihe, in der das Buch erschienen ist, heraus. Das Wort ‚falsafa‘ ging aus dem Griechischen – ‚philosophieren‘ – ins Arabische ein.

    Die Autorin, 1989 geboren, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Kalˉam, Islamische Philosophie und Mystik, des Zentrums für Islamische Theologie der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Im Vorwort (13) dankt sie zuallererst Karimi, der sie „unermüdlich als Lehrer begleitet und inspiriert“ habe. Dieses Buch ist, „für den Druck geringfügig überarbeitet“, ihre Dissertation. Sie arbeitet an ihrer Habilitation zur „Theologie der Nachhaltigkeit“ im islamisch-theologischen Kontext und ist Mitglied des Arbeitskreises „Religionen für biologische Vielfalt“ und des Ethiknetzwerks Christentum und Islam (Verlagsinformation).

    Angesichts des in der Forschungslandschaft aufgekommenen animal turn, der das Tier als relationale Agency zwischen den jeweiligen Lebewesen in „Human-Animal-Studies“ (Seite 154f) in den Blick nimmt, stellte die Verf. sich der Frage (17): „Hat die islamische Theologie zu einer Tier­ ethik überhaupt etwas beizutragen […]?“

    Sie erklärt einleitend den „Gang der Arbeit“ (25-28). Der erste ihrer drei Hauptteile hat die Überschrift „Zur Grundperspektivierung der islamischen Ethik“ (29-70). Die Koran-Offenbarung in arabischer Sprache an den Propheten Muhammad geschah in den Jahren 620 bis 632, aber islamische Geistesgeschichte reicht über die Spätantike des 7. Jahrhunderts, auf dem Wege des Übersetzens ins Arabische, bis die klassische Antike der Griechen und Römer zurück. Der zweite Hauptteil, „Das Tier als ethisches Moment“ (71-159), beobachtet in Koran-Suren die tierliche – um ‚tierisch‘ zu vermeiden – ethische Relevanz bei Interaktionen. Der dritte Hauptteil, „Zur Ethik des Mitseins“ (160-205), betrachtet „– vor allem ausgehend von Martin Heidegger (†1976) und Jacques Derrida (†2004) –“ den Begriff Mitsein. Abschließend (206-220) werden vier arabische Begriffe genannt, die als „Wegmarken einer islamischtheologischen Tierethik“ beim Neu-Überdenken des praktischen Umgangs mit Tieren würden dienen können, etwa in der Massentierhaltung, im Schlachthaus, bei Opferungen oder Laborversuchen (21, 220). Danach folgt das Literaturverzeichnis (221-236). Es ist erstaunlich, worauf und auf wen in wie vielen Sprachen sich Asmaa El Maaroufi eingelassen hat. Mir fiel ein Mithalten deutlich schwer. Die Verf. benutzt für den theos, der in der Wissenschaft Theologie zu Wort, Logos, kommen soll, keinen arabischen, sondern den deutschen Ausdruck Gott. Dass die Gott-Mensch-Beziehung Tiere zu Untergebenen der Menschen macht, scheinen auch Muslime für gewiss zu halten (16).

    Was ist eigentlich das vom Menschen als Tier Bezeichnete? Im Koran findet sich 18mal das Wort dˉabba. Seine Wurzel d-b-b verweist auf „laufen, kriechen oder robben“ oder auch „schwimmen“ oder „fliegen“. (96f) Gemeint ist also ein Sich-Fortbewegendes, im Unterschied zu Gewächs, dessen Selbstveränderung in ortsfestem Wachsen besteht. Pflanzen und Tiere sind Lebewesen. Das Lebendige, griechisch ausgedrückt zoo’ón, das sich von Ort zu Ort bewegt, lässt sich unterteilen danach, wo es sich bewegt, ob im Wasser, in der Luft oder auf festem Grund. Die auf Festem sich Fortbewegenden unterscheiden sich in der Zahl ihrer dazu benutzten Gliedmaßen. Die Untergruppe der zweifüßigen Landgänger ist wiederum unterteilt in gefiederte (Laufvögel) und ungefiederte (Menschen). So etwas Spielerisches steht nicht in diesem Buch, geschweige im Koran, sondern bei Platon (†-347) im Dialog Politikos 266d. Ein Spezifikum der Ungefiederten laut Platons Dialog Kratylos 339c spielt Friedrich Schleiermacher (†1834) beim Übersetzen nach: „der zusamMENSCHaut, was er gesehen hat“. Mensch reflektiert. Auf diese Stelle wird im Buch (80) hingewiesen. Ich las weiter im Politikos 272b-c: Im Urzeit-Leben unter Kronos pflegten die Lebewesen untereinander vernünftigen Umgang, in Unterredungen von jedem erforschend, ob es ein Vermögen innehabe, das von dem anderer verschieden sei, zur Vermehrung der Einsicht. – Im neuzeitlichen Leben unter Zeus herrscht das Selbstverständnis, den anderen überlegen zu sein. Die Verf. zitiert zweimal (107 und 156) Worte von Muhammad Iqbal. Er rühmt: „Wie anders ist da doch der Geist des Koran, der in der bescheidenen Biene eine Empfängerin göttlicher Inspiration sieht […].“ Den Kontrast bildet „die erstaunliche Tatsache, daß die griechische Philosophie, während sie die Sicht der muslimischen Denker verbreiterte, ihre Vision des Koran verdunkelte. Sokrates konzentrierte seine Aufmerksamkeit einzig und allein auf die Menschenwelt. Für ihn war eine hinreichende Studie des Menschen eben der Mensch und nicht die Welt der Pflanzen, Insekten und Sterne. Wie anders…“ Gegen diese Einschätzung des Sokrates erhebt sich Protestgebell. In Platons Dialogen verstärkt Sokrates Aussagen öfters durch „nä ton küna“: beim Hunde! Er würdigt dieses physisch bestausgestattete Wächter-Wesen, in dem Entgegengesetztes, Kampfmut und Sanftmut, eins sind (Politeia 375d). Dass Vernunft das Vermögen sei, „die Einheit der sich notwendig ausschließenden Gegensätze zu denken“, zitiert im Buch (36 Anmerkung 33) die Verf. von Karimi („Hingabe“, 2015, Seite 194). Unentbehrliche paradoxe Weisheit.

    Ebenfalls zweimal wird das von Jacques Derrida geäußerte Verdikt Dummheit zitiert („L’ Animal que donc je suis“; auf Deutsch „Das Tier, das ich also bin“, 2016, Seite 58): „Jedesmal wenn ‚man‘ ‚das Tier‘ sagt […] und dabei behauptet, auf diese Weise alles Lebende zu bezeichnen, das nicht der Mensch wäre […], nun, jedes dieser Male sagt das Subjekt dieses Satzes, dieses ‚man‘, dieses ‚ich‘ eine Dummheit.“ (101) Eine der „größten – und systematischsten – Dummheiten“ der Menschen (177). Es ist dumm zu wähnen, man sei nicht, als was man miterschaffen ist.

    Angeregt durch die in diesem Buch zusammengetragenen Gedankengänge legte ich mir zurecht: Ethik verantwortet die Frage, was für ein Verhalten eines lebenden Seienden zu anderem Seienden diesem gerecht wird / gut tut / wohlgefällig ist. Wie bewerkstelligt das ein Wesen, das vom Schöpfer beauftragt ist, halifa (Kalif) zu sein? Diese Beauftragung rechnet die Verf. zu den „Wegmarken“ künftigen Weiterdenkens (215-217). Man vergleiche die in der Bibel, Genesis 1,28, überlieferte Bestimmung, auf der untertan gemachten besiedelten Erde zu herrschen „über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht“. Herrschen ohne Überhebung.

    Im Unterschied zu Platons Werken, die beim Lesen neben mir standen, waren Koran-Ausgaben nicht zuhanden. Gern hätte ich darin offenbarte Tierbegegnungen unter Anleitung von Asmaa El Maaroufi neu betrachtet. Sie zieht das Fazit (220): „Nur mit dem Tier ist Sein. Wer zu Gott daher will, kann nicht ohne das Tier.“ (it)

    Ilse Tödt (it), Dr. phil., Dr. theol. h.c., seit 1961 ­nebenamtlich Kolle­giums­mitglied der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) Heidelberg.

    itoedt@t-online.de

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