Evolution

Evolution in vier Dimensionen

Aus: fachbuchjournal Ausgabe 1/2018

Eva Jablonka / Marion J. Lamb: Evolution in vier Dimensionen. Wie Genetik, Epigenetik, Verhalten und Symbole die Geschichte des Lebens prägen. Hirzel Verlag, Stuttgart 2017, 566 Seiten, 70 s/w-Abb., 3 Tabellen, illustriert von Anna Zeligowski, übersetzt von Martin Battran und Sabine Grauer, gebunden, ISBN 978-3-7776-2626-0. € 42,00

Die moderne Biologie gilt gemeinhin als Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts, und es ist durchaus angemessen, sie als einflussreichste Wissenschaft überhaupt zu bezeichnen, da sie als Lebenswissenschaft nicht nur in atemberaubender Dynamik bahnbrechende Probleme vom Molekül bis zum Denken gelöst hat, sondern auch alle anderen Naturwissenschaften, die Geisteswissenschaften und selbst die Philosophie tiefgreifend befruchtet hat.

Im Zentrum dieser wissenschaftlichen Entwicklung steht die Idee der ‚Evolution‘, die ihre Wurzeln bereits bei Vordenkern in der Antike hat. Aber erst die Naturforscher Jean-Baptiste de Lamarck (1744–1829), Alfred Russel Wallace (1823–1913) und Charles Robert Darwin (1809–1882) verhalfen ihr zum Durchbruch. Sie gelten als ihre neuzeitlichen ‚Entdecker‘. Aber erst der Philosoph und Soziologe Herbert Spencer (1820–1903) machte mit seinem 1864 vorgestellten gesellschaftlichen Entwicklungskonzept des ‚survival of the fittest‘ das Paradigma des Evolutionismus und damit den Terminus Evolution „als Bezeichnung für alle Arten von Entwicklungsprozessen vom Einfachen zum Komplexen“ populär (S. 35). Während sich Lamarcks Evolutionstheorie von 1809, die meistens unzulässig auf das ‚Konzept der Vererbung erworbener Eigenschaften‘ verkürzt wird, wegen der Widersprüche zur Keimplasmatheorie von August Weismann (1834–1914) nicht hielt, wurde der Beitrag von Wallace schlichtweg marginalisiert. Letztlich setzten sich die grundlegenden Elemente von Darwins Theorie (Überproduktion von Nachkommen, Variabilität und Selektion) durch, jedoch erst nach Einbeziehung der Befunde der Genetik, Populationsgenetik, Paläontologie und Systematik.

Heute gilt die von Theodosius Dobzhansky (1900–1975), Julian Huxley (1887–1975), George G. Simpson (1902– 1984), Ernst Mayr (1904–2005) und weiteren Protagonisten zwischen 1937–1950 entwickelte Synthetische Evolutionstheorie (auch ‚Modern Synthesis‘) als Lehrmeinung. In der Werbung für populärwissenschaftliche Literatur wird der Begriff Evolution mit dem Eigennamen Darwin häufig synonym gebraucht, obwohl Charles Darwin das Wort ‚Evolution‘ erst in der 6. Auflage von The Origins of Species verwendete, während es in The Descent of Man (1871) zu seinem gängigen Wortschatz zählt.

Die Synthetische Evolutionstheorie (SET) ist bis heute Zielscheibe pseudowissenschaftlicher Angriffe von Kreationisten, die man wissenschaftlich – jedoch nicht gesellschaftlich − getrost ignorieren kann. Aufgrund des rapiden Erkenntnisfortschritts steht die SET auch immer wieder im Kreuzfeuer wissenschaftlicher Debatten. Zu den hartnäckigen Kritikern gehören die beiden Autorinnen des vorliegenden Bandes, Eva Jablonka (Professorin am Cohn Institut für Wissenschaftsgeschichte und -theorie der Univ. Tel Aviv) und Marion J. Lamb (pens. Senior Lecturer am Birkbeck College der Univ. of London). Salopp gesagt, handelt es sich also nicht um irgendwen; man sollte ihr Plädoyer für einen stärker entwicklungs- und systemorientierten Ansatz von Vererbung und Evolution deshalb schon ernst nehmen.

Ihr Aufruf zur Erweiterung des Verständnisses der Evolution auf der genetischen Ebene ist nicht ganz neu. Die amerikanische Erstauflage ihrer streitbaren Abhandlung erschien bereits 2005 bei MIT Press. 2014 folgte dann eine um zahlreiche Fußnoten und ein umfangreiches Kapitel (‚After Nine Years‘) ergänzte, revidierte Auflage von Evolution in Four Dimensions, die der deutschen Übersetzung zugrundeliegt. Die im Buchtitel angesprochenen vier Vererbungssysteme sind:

(1) die genetische Vererbung über die DNA, (2) die epigenetische Vererbung über zytoplasmatische Einflüsse und Umweltbedingungen, (3) verhaltensvermittelte Vererbung durch Prägung und Lernen sowie (4) die symbolische Vererbung über spezialisierte Kommunikationsmittel wie die menschliche Sprache. Nach Jablonka u. Lamb hat sich „das Verständnis von Vererbung und Genetik auf geradezu revolutionäre Art und Weise verändert“ (S. 13). Sie fordern deshalb eine Modifikation der SET, da sie folgende Thesen als bestätigt ansehen (vgl. S. 13):

(1) Biologische Vererbung umfasst mehr als nur Gene,

(2) Einige erbliche Variationen entstehen nicht rein zufällig,

(3) Einige Formen erworbener Information sind erblich, und

(4) der Artenwandel ist nicht nur das Ergebnis von Selektion, sondern auch von Instruktionen.

Die Forderung, die alte, Gen-zentrierte Vorstellung, dass jede erbliche Variation spontan und ‚blind‘ für irgendwelche Funktion entsteht, durch ein erweitertes Konzept zu ersetzen, das entwicklungsinduzierte erbliche epigenetische Veränderungen als Quelle neuer Variationen einschließt, ist provokant. Die Auffassung, dass Erfahrungen und aktive Leistungen der Organismen in die nächste Generation vererbt werden können, klingt nicht nur neolamarckistisch, sie ist von den sich zum Neolamarckismus bekennenden Autorinnen auch ausdrücklich so gemeint. Eva Jablonka ist nämlich Mitglied von Altenberg-16, einer internationalen AG von Evolutionstheoretikern, die sich 2008 für eine Erweiterte Synthese der Evolutionstheorie (EES) aussprach [zum Pro und Contra der EES siehe die dt. Übersetzung eines aufschlussreichen Nature-Beitrags [http://www.sepktrum.de/kolummne/brauchen-wir-eine-neue-evolutionstheorie/1320620]. Die Autorinnen tragen – nach ihrer Selbsteinschätzung – eine „etwas radikale Position“ (S.12) in eloquenter Wissenschaftsprosa vor, um die ‚vier Dimensionen der Evolution‘ dann in einem Exkurs über deren wechselseitige Beziehungen zu einem „großen Ganzen“ zusammenzuführen. Die Übersetzung liest sich zwar flüssig, setzt aber zum Verständnis einiges an Fachwissen voraus. Obwohl betont wird, dass sich dieses Buch „auch an die vielen naturwissenschaftlichen Laien [richtet], die sich für biologische Konzepte interessieren“ (S. 15), dürften Laien nach dem 1. Teil, einem Kompendium der Genetik, doch eventuell etwas überfordert sein. Aber vielleicht tragen die intensiv eingesetzten didaktischen Argumentationshilfen zum besseren Verständnis bei.

So endet jedes Kapitel mit längeren Dialogen zwischen einem fiktiven Advocatus Diaboli, der Kommentare gibt und kritische Fragen stellt, und den Autorinnen, die wortreich um klärende Antworten bemüht sind. Auch die bereits aus Animal Traditions (von Eytan Avital & Eva Jablonka 2000) bekannten ‚Tarbutniks‘, eine fiktive Nagerpopulation, an der ausgefeilte verhaltensgenetische Modelle durchgespielt werden, fehlen nicht. Ja, und dann sind da noch die erläuternden, schrulligspaßigen Zeichnungen von Anna Zeligowski. Hier ist kein Raum für dezidierte Kritik an den vorgebrachten Argumenten für die Erweiterung der SET, aber einige Punkte seien angesprochen. Sichtet man die Begründungen, so ist zwar zu konzedieren, dass die SET mit den Jahren zu einem engen Korsett wurde, aber sie passte letztlich auch nach der Entdeckung der DNA-Struktur des Erbmaterials (Watson u. Crick 1953), der Punktualismus-Debatte (Eldredge u. Gould 1972), dem Entwurf der Theorie der Verwandtenselektion (Maynard Smith u. Hamilton 1964) und der soziobiologischen New Synthesis (E. O. Wilson 1975). Auch die Evolutionäre Erkenntnistheorie (Vollmer 1975), Das egoistische Gen und die Mem-Diskussion (Dawkins 1976) sowie die Theorie der Selbstorganisation (Eigen 1979) und die Theorie neutraler Mutationen (Kimura 1983) sind mit der SET vereinbar, ja sie bestärkten sogar Darwins Grundidee von Variation und Selektion. Mit der Entdeckung der Hox-Gene gelangte die evolutionäre Entwicklungsbiologie zu neuer Bedeutung. Die heute als EvoDevo bezeichnete Disziplin untersucht u.a. den von James M. Baldwin (1896) beschriebenen evolutionären Mechanismus, wonach angeblich ein ursprünglich durch Lernen erworbenes Merkmal durch natürliche Selektion innerhalb mehrerer Generationen durch ein genetisch bestimmtes analoges Merkmal ersetzt wird (auch Baldwin-Effekt sensu G.G. Simpson 1953). In diesem Kontext etablierte sich auch die Epigenetik, jene Disziplin, die mitotisch und meiotisch vererbbare Veränderungen der Genfunktion analysiert, die nicht durch Veränderungen der DNA erklärt werden können. Sie fokussiert u.a. auf die von Conrad Hal Waddington (1905-1975) initiierte Forschung zu den Themen epigenetische Landschaft, Kanalisierung und genetische Assimilation. Die Relevanz dieses Faches zeigt sich an seiner Diversifizierung „in neue Fachgebiete wie Verhaltensepigenetik, ökologische Epigenetik und kulturelle Epigenetik, bei denen Ökologie und Verhalten mit Entwicklungs- und Zellbiologie verknüpft werden“ (S. 400). Jablonka u. Lamb haben die jüngsten Befunde akribisch gesichtet, und obwohl bislang keine gesicherten Beweise für die Vererbung erworbener Information vorliegen oder dafür, dass der Artenwandel nicht nur das Ergebnis von Selektion ist, sondern auch von Instruktionen, sind die Autorinnen dennoch von der Gültigkeit ihrer neolamarckistischen Thesen überzeugt (oder sollte man besser sagen, sie glauben fest daran). Aber solange kein valider Nachweis vorliegt, dass durch nachhaltiges Umlegen und immer wieder neu erfolgende Verfestigung von epigenetischen Schaltern eine Veränderung des genetischen Codes erfolgt, – selbst wenn es auch nur die Mutationsrate und damit die Variabilität bestimmter Gene betrifft –, ist das ‚Dogma‘, wonach Information nur vom Gen zum Protein fließt und nicht umgekehrt, bislang (!) ungebrochen. Was die im Kapitel Verhaltensspezifische Vererbungssysteme thematisierten evolutionären Phänomene betrifft, so wundere ich mich. Es hat sich doch längst die vielfach begründete Auffassung durchgesetzt, in der biologischen Evolution zwischen einer biogenetischen Evolution und einer tradigenetischen Evolution (sensu Vogel 1974) zu unterscheiden. Die angeführten Beispiele zur ‚Nischenkonstruktion‘, zur ‚Vorliebe für Wachholderbeeren und Karottensaft‘, zum ‚Öffnen von Milchflaschen‘ und ‚Abblättern von Kieferzapfen‘ u.v.a. sind doch solange problemlos unter Tradigenese und damit nicht-genetische Vererbung zu subsumieren, was auch für die im Kapitel Symbolsysteme der Vererbung diskutierten Phänomene zur ‚kulturellen Evolution‘ gilt, wie das oben erwähnte Dogma Gültigkeit hat. Wo bleibt da eigentlich die Revolution? Fazit: Die von Eva Jablonka und Marion Lamb vorgetragenen Argumente für eine neolamarckistische Modifikation der SET überzeugen mich nicht. Aber ich empfehle dieses eigenwillig konzipierte und herausfordernde Buch nachdrücklich all denen, die sich über laufende Probleme der Evolutionstheorie eine eigene Meinung bilden wollen. (wh)

 

Renée Schroeder mit Ursel Nendzig: Die Erfindung des Menschen. Wie wir die Evolution überlisten, Residenz Verlag, Salzburg, Wien, 2016, 224 Seiten, 12 Abb., ISBN 9783701733767. € 22,00

Das Vorwort dieser ‚Autobiografie des Menschen‘ beginnt mit dem Versprechen, dass „Sie […] es nicht bereuen [werden], dieses Buch in die Hände genommen zu haben“. Und die selbstbewusste Begründung dazu lautet: „…dass Sie, wenn Sie das Buch zu Ende gelesen haben, eine wohltuende und allgemeine Leichtigkeit verspüren, wenn Sie Ihren Platz und den Stellenwert des Menschen im Universum begriffen haben“ (S. 11).

Diese so leserheischend formulierte Zusicherung weltverbessernder Botschaften klingt wie ein Textbaustein aus dem Werbeflyer für ein Esoterikbuch. Doch weit gefehlt! Es handelt sich um das österreichische Wissenschaftsbuch des Jahres 2017 in der Kategorie Medizin/Biologie. Hauptautorin ist die Universitätsprofessorin Renée Schröder, die seit 2005 die Abt. für Biochemie und Zellbiologie an der Univ. Wien leitet und für ihre wegweisende molekularbiologische Forschung vielfach ausgezeichnet wurde (2002 Österreichs Wissenschaftlerin des Jahres; 2003 Wittgenstein-Forschungspreis; 2011 Eduard Buchner-Preis, u.v.a.m.).

Renée Schroeder betreibt aber nicht nur Spitzenforschung, sondern hat den sprichwörtlichen Elfenbeinturm der Wissenschaften seit langem verlassen. Die populärwissenschaftliche Aufklärung ist mittlerweile ihr „liebstes Hobby“, das sie „inzwischen nicht mehr bleiben lassen [kann]“ (S. 12). Ihr schriftstellerisches Engagement dient der intensiven Fortsetzung der Aufklärung gemäß dem Leitspruch „Sapere aude!“. Aufklärung ist für sie eine immerwährende Herausforderung im Kampf gegen „Aberglaube, Fanatismus und autoritäre Ideologie“ (S. 191); offenbar wird sie nicht müde, „Geschichten aus den Naturwissenschaften so zu erzählen, dass sie Teile einer großen Übung werden: der Erklärung des Universums“ (S. 12).

‚Die Erfindung des Menschen‘ ist schon der dritte Band, den die Wiener Molekularbiologin gemeinsam mit Ursula Nendzig geschrieben hat. Wegen des in Ich-Form verfassten Textes, stellt sich die Frage, worin genau der Beitrag der jüngeren Ko-Autorin, einer studierten Wirtschaftswissenschaftlerin und freien Journalistin, besteht; vermutlich in der modernistischen Umsetzung in einen zielgruppenkonformen Duktus. Die leicht verdauliche Vermittlung von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, die pointiert, plakativ und bisweilen auch provokant-aggressiv verpackt wird, kommt offenbar gut an. Das vorliegende Buch ist eine weitere Anstiftung zur Rettung der Welt, „ein Plädoyer für Bildung, für das Entstehen-Lassen von Ideen und Vielfalt“ (S. 14). Schroeders Aufklärungsoffensive gründet auf der nun ja keineswegs neuen Erkenntnis, dass der Homo sapiens als kulturfähiges Wesen zum Gestalter seiner eigenen Evolution geworden ist. Seit rd. 70.000 Jahren, aber m.E. vermutlich schon weit länger, hat der Mensch seine eigene Nische durch Erfindungen geprägt, d.h. durch Dinge, die es ohne den Menschen nicht gäbe, aber auch solche, die es noch nicht gibt und vielleicht auch nie geben wird, also Erdachtes, Kreatives, kurz: Kultur als Summe aller Erfindungen. Da der Mensch die Fähigkeit besitzt, seine Zukunft zu planen, und ihm heute mehr Mittel denn je dafür zur Verfügung stehen, sollte er sich „im Klaren darüber sein, was er will“ (S. 192), denn „[o]hne Aufklärung werden wir es nicht schaffen, die Evolution zu überlisten“ (S. 205).

Die Abhandlung beginnt mit der Erklärung komplexer Systeme aus einfachen Elementen und des sich selbst ordnenden Systems Leben. Schroeder erläutert die Hauptsätze der Thermodynamik, erklärt die Boltzmann‘sche Formel und beschreibt das Maxwell’sche Gedankenexperiment zur Deutung des Dilemmas der Entropiezunahme im Universum. Das ist anspruchsvoll, lehrreich und unterhaltsam zugleich. Aber leider verflacht das Niveau bei der Schilderung der Chronologie des Universums, des Lebens und der Menschheit. Der anthropologische Abriss ‚Was ist ein Mensch?‘ ist arg anspruchslos und oberflächlich. Dass Elaine Morgans längst widerlegte Wasseraffentheorie Wiederauferstehung feiert, ist offenbar nicht den wissenschaftlichen Fakten geschuldet, sondern der persönlichen Sympathie mit der amerikanischen Feministin. Doch es geht offenbar noch beliebiger; das Kapitel ‚Kulturevolution‘ gerät zu einem Potpourri aus Errungenschaften (z.B. ‚Sprache‘) und Erfindungen, wie ‚Schrift und Geld‘, ‚Mythen und Religionen‘, ‚Perversionen als Ergebnis von Religionen‘, ‚Rassismus und Faschismus‘ sowie ‚Gerechtigkeit, Pietät, Barmherzigkeit‘. Weitere Themen sind ‚Das Thermometer, die Wettervorhersage – und der Klimawandel‘, ‚Die Antibabypille‘ und die ‚Genomeditierung mit CRISPR/CAS9‘. Eigentlich sind diese nur flüchtig angerissenen Themen doch viel zu wichtig, um nur plaudernd, subjektiv wertebeladen und ohne wissenschaftlichen Tiefgang abgehandelt zu werden. So geht Wissenschaft ultralight! Cui bono?

Von der Wahrnehmung unserer eigenen Existenz handelt der Abschnitt „Ich, die beste Erfindung des Menschen“. Eigentlich ein spannendes Thema, das aber gar nicht hinreichend in den aktuellen evolutionspsychologischen und neurobiologischen Diskurs eingebettet wird, sondern sich sehr bald in Schilderungen des Selbstbildes der Verfasserin verliert, die sich u.a. auch als „zukünftige Bäuerin“ (S. 91) sieht. In den Kapiteln über das ‚Humangenom‘ und das ‚Epigenom, ein Manifest des Ichs‘ bewegt sich Renée Schroeder schließlich wieder auf ihrem ureigensten Forschungsfeld. Die bioethisch engagierte Biochemikerin vermittelt einen soliden aktuellen Einblick in die Thematik, bevor sie ‚Das Ende der genetischen Krankheiten‘ prognostiziert. Das Heilsversprechen, mit der Genschere zukünftig Genomchirurgie betreiben zu können und genetische Krankheiten auszumerzen, ist zweifellos verlockend, aber solange die Heilungs- und Therapiemethoden noch in den Kinderschuhen stecken und die möglichen Langzeitfolgen von Eingriffen in die Keimbahn noch nicht ausgelotet sind, teile ich den Zukunftsoptimismus der Autorin nicht. Was unsere archaischen Fähigkeiten, die wir als Jäger und Sammler/innen erworben haben, betrifft, so können wir diese nicht einfach ablegen, obwohl sie sich in modernen Zeiten als maladaptiert erweisen. Daher appelliert Renée Schroeder dafür, diese weise zu nutzen. Ein guter Rat angesichts unseres exzessiven Konsum- und Ernährungsverhaltens und einiger epidemiologischer Folgen (Typ-2-Diabetes und Folgeerkrankungen; Herzinfarkt; Schlaganfall u.a.).

Den ‚Feminismus‘, den Schroeder als positiv konnotierten Begriff verstanden wissen möchte, sieht die engagierte Feministin als „eine Strategie zur Verbesserung der Menschenrechte“ (S. 163). Dieses Anliegen ist aufgrund der weltweiten Benachteiligung von Frauen uneingeschränkt zu unterstützen, hätte aber die Diversität gegenwärtiger Gesellschaftssysteme intensiver einbeziehen können.

‚Willkommen im Anthropozän‘ lautet der Titel der kritischen Analyse unseres unverantwortlichen humanökologischen Verhaltens, die einige elegische Gedanken über unseren unvermeidbaren Artentod in (hoffentlich erst) fernen Zeiten enthält.

Das Schlusskapitel ‚Die zweite Aufklärung‘ ist ein resümierendes Plädoyer für eine „globale Aufklärung“ und „gnadenlose Aufklärung“. Da es uns nun einmal gibt, „haben [wir] den Luxus, etwas aus dieser Tatsache machen zu können. Vieles ist möglich.“ (S. 205). Das klingt für mich optimistischer, als es ist, denn wir sind zur Innovation Getriebene ohne kollektiven Plan.

In populärwissenschaftlichen Büchern werden die verwendeten Literaturquellen nur noch selten zitiert, um den Lesefluss nicht zu stören. Fairerweise haben die Autorinnen deshalb eine ‚HeldInnengalerie‘ (S. 207-219) angelegt, darin werden „AkteurInnen“, „die imstande waren und sind, Neues zu schaffen…“ (S. 207) und deren Namen im Fließtext in Fettdruck hervorgehoben sind, mit Kurzbiografien auflistet. Aufgeführt sind neben Jeanne d’Arc, Hanna Arendt, Emmanuelle Charpentier sowie Charles Darwin, Carl Djerassi, Galileo Galilei, Hegel, Hume und Kant u.v.a., darunter die fast schon vergessenen Pussy Riot und Edward Snowdon, was die Wertschätzung der Autorinnen für gesellschaftlichen Protest, Unangepasstheit und Zivilcourage indiziert. Fazit: Eigentlich verbreiten Schroeder und Nendzig nichts, was andere nicht bereits gedacht und zu Papier gebracht haben. Was ihr Buch auszeichnet ist die Kompilierung und leicht verständliche, komprimierte Umsetzung aktueller evolutionsbiologischer Inhalte für interessierte Laiinnen und Laien. Das ist durchaus verdienstvoll, denn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tragen eine besondere gesellschaftliche Verantwortung. Die Wissensvermittlung gelingt den Autorinnen insbesondere dann, wenn es um die spezifische Forschungsthematik von Renée Schroeder geht. In den anderen Wissenschaftsbereichen offenbaren sich jedoch deutliche inhaltliche Schwächen, was auch der ausufernden thematischen Breite geschuldet sein dürfte, die auf Kosten einer angemessenen inhaltlichen Tiefe geht.

Was die Religionskritik betrifft, frage ich mich, warum die so aggressiv-atheistisch formuliert werden muss? Das geht doch durchaus souveräner. Und was schließlich die eingangs erwähnte „wohltuende und allgemeine Leichtigkeit“ betrifft, so müssen Sie selbst beurteilen, ob Sie diese nach der Lektüre verspüren, wenn sie begriffen haben, dass das Universum uns nach unserem Artentod keine Träne nachweint und dass wir uns darum kümmern müssen, dass dieser Zeitpunkt in möglichst weiter Ferne liegt. Als Naturalist kann ich seit langem gut damit leben, zahle aber seltsamerweise brav meine Kirchensteuer. (wh)

Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Direktor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

henkew@uni-mainz.de

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