Anthropologie

Günter Rager: Mensch sein. Grundzüge einer interdisziplinaren Anthropologie

Manch einer hat ein großes Feuer

Günter Rager (2017): Mensch sein. Grundzüge einer interdisziplinären Anthropologie. Freiburg/München, Verlag Karl Alber, ISBN 978-3-495-48917-8, 208 Seiten, € 24,00

Anthropologie wird im deutschen Sprachraum vor allem als Naturwissenschaft verstanden, als physische Anthropologie oder mit dem Aufstieg der Biologie als Leitwissenschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts auch umfassender formuliert als evolutionäre Anthropologie. Für evolutionäre Humanisten bedarf es keiner über die Naturwissenschaft hinausgehenden Erklärung, das naturalistische Weltbild ist ihnen vielfältig und faszinierend genug. Christliche Humanisten hingegen messen der Philosophie und der Theologie ebenso viel Verantwortung zu wie den Naturwissenschaften und fordern daher das Gespräch zwischen den Fakultäten, um die Sinnhaftigkeit der menschlichen Existenz neu zu denken.

Der vorliegende Band des Mediziners, Neurowissenschaftlers und Philosophen Günter Rager versucht durch einen interdisziplinären Blick auf das „Mensch sein“ einer einseitigen naturalistischen Sichtweise zu entgehen, „ein umfassendes Bild vom Menschen zu gewinnen“ (S. 17). Und wer wäre für den Versuch eines Brückenschlags zwischen den Disziplinen geeigneter als der doppelt promovierte Autor und Ehrendoktor der Theologie (Freiburg/Brsg.)? Günter Rager (*1938) ist Emeritus des Instituts für Anatomie und spezielle Embryologie an der Universität Fribourg/ Schweiz und war von 1999 bis 2006 Direktor des 1957 gegründeten Instituts für interdisziplinäre Forschung der Görres-Gesellschaft. In deren Satzung von 2016 heißt es in § 1: „Die „Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft“ will in Bewahrung ihres im katholischen Glauben wurzelnden Gründungsauftrags wissenschaftliches Leben auf den verschiedenen Fachgebieten anregen und fördern und die Gelegenheit zum interdisziplinären Austausch bieten“ (s. https://www.goerres-gesellschaft.de/gesellschaft/satzung. html).

Dass die ‚Görres-Gesellschaft‘ unter den Nachwirkungen eines „radikalen Biomechanismus“ aufgrund folgenschwerer post darwinischer Irrtümer (wie Sozialdarwinismus, Biologismus, Behaviorismus) und ideologischer Instrumentalisierungen (Rassismus, Ethnozentrismus, Rassenhygiene, Eugenik) gegründet wurde, um einer erneuten Krise des Menschenbildes vorzubeugen, ist wissenschaftshistorisch durchaus nachvollziehbar. Aber gelten diese Bedenken auch in unserer Zeit der großen Entdeckungen der Wissenschaften vom Leben? Rager bejaht diese Frage nachdrücklich und unterstreicht die Dringlichkeit seiner Forderung nach einem neuen Menschenbild, indem er in der Einleitung auf problematische Begriffe wie Zellhaufen anstatt des embryologisch deskriptiven Begriffs Blastomerenstadium hinweist oder den Begriff humangenetisches Keimmaterial anprangert, der „suggeriert, dass man es nicht mit einem sich entwickelnden Menschen zu tun hat, sondern mit einem Material, aus dem irgendwann ein Mensch entsteht“ (S. 15). Allein an den beiden zitierten Beispielen wird deutlich, dass angesichts der engen Vernetzung anthropologischer Themen der Natur- und Lebenswissenschaften mit denen der Geistes-, Kultur-, Sozial- und Rechtswissenschaften die Frage nach dem Wesen des Menschen eine neue Dringlichkeit erfährt. Auch die Fülle weiterer Publikationen zu „Aufbrüchen“ und „Grundzügen“ einer neuen Anthropologie signalisieren angesichts bahnbrechender Forschungsergebnisse und Handlungsmöglichkeiten [z.B. in der Reproduktionsmedizin, Transplantationsmedizin, Gentechnik (CRISPR/Cas), Enhancement] Handlungsbedarf, so dass Ragers Band aktuellen Informationsbedürfnissen Rechnung trägt. Die Auffassung, Menschenbilder seien nur bloße Beschreibungen des Gattungswesens Mensch aus unterschiedlicher Perspektive, trügt, denn sie sind appellativ, normativ und damit handlungsanleitend. In sechs großen Themenbereichen werden philosophische und naturwissenschaftliche Aussagen zunächst separat vorgestellt und dann so gegeneinandergestellt, dass sie „sich nicht widersprechen, sondern ergänzen. Dieses Vorgehen soll uns helfen, ein umfassendes Bild vom Menschen zu gewinnen“ (S. 17). Aus der Einsicht, dass es einem einzelnen Autor wegen des ungeheuren Wissenszuwachses nicht gelingen kann, eine systematische und vollständige Anthropologie vorzulegen, beschränkt sich Rager auf einzelne Themen seiner Kernkompetenz, beginnend mit den uns alle angehenden Fragen zu „Person und Bewusstsein“, nach Individualität und Personalität des Menschen, nach dem Embryo als Individuum und als Person und sittlichem Objekt. Sodann gibt er differenzierte Antworten auf die Fragen „Was ist Bewusstsein?“ und „Gibt es neuronale Korrelate des Bewusstsein?“, um dann aus unterschiedlichen Perspektiven nach dem Ich, dem Selbst und der Seele zu fragen, wobei er kontroverse Positionen von Aristoteles bis zu führenden Wissenschaftlern der Gegenwart einbezieht, und „einen vorsichtigen Brückenbau zwischen Biologie und Philosophie“ (S. 62) versucht. Anschließend geht es um das wichtige Verhältnis zwischen „Wissen und Wahrheit“, über das sich schon der Vorsokratiker Heraklit (544–484 v. Chr.) und weitere griechische Philosophen sowie 700 Jahre später der große Kirchenlehrer Augustinus (354-430 n. Chr.) und später auch Albertus Magnus (1200–1280) und Thomas von Aquin (1225-1274) grundlegende Gedanken gemacht haben. Günter Rager fasst deren Grundgedanken meisterlich zusammen. Er wägt sie gegen die ontologische Untersuchung der Wahrheit des zu Unrecht als „Zermalmer der Metaphysik“ (S. 74) gescholtenen Immanuel Kant (1724-1804) ab, um dann das „Wissen in den Neurowissenschaften“ kompakt zu umreißen und deutlich zu machen, dass es „ein verhängnisvoller Fehler“ wäre, „die Frage nach der ontologischen Wahrheit und dem Sinn des Lebens lasse sich auf neuronale Prozesse reduzieren,…“ (S. 87). Ragers Wahrheitssuche ist die der Vorsokratiker, die nach der «Unverborgenheit des Seins». „Diese Suche ist die Triebfeder der ganzen Geschichte der Philosophie wie auch unserer je eigenen Bemühungen“ (S. 89).

Im Weiteren geht es um „Evolution. Die Stellung des Menschen in der Natur“. Dabei zeigt Rager zunächst die unüberbrückbaren weltanschaulichen Konflikte zwischen Vertretern der Evolutionstheorie sowie des Kreationismus und des Intelligent Design, um dann die Geschichte und die Probleme der Evolutionstheorie und der Hominisation, insbesondere der Entstehung ethischer und sozialer Fähigkeiten und der kulturellen Evolution, zu erörtern. Vertretern der synthetischen Evolutionstheorie wirft er Grenzüberschreitungen vor, da sie eine „naturwissenschaftliche Weltanschauung“ propagieren würden. Er plädiert für eine „bleibende methodische Differenz“ zwischen „Evolutionstheorie und Welterfahrung“ (S. 118), um „der Vernunft wieder ihre ganze Weite [zu] eröffnen“ (S. 119).

In drei weiteren Kapiteln thematisiert der Fribourger Emeritus drei aktuelle Problemfelder, beginnend mit Fragen zur „Freiheit der Person“. Dem heftig kritisierten Libet-Experiment und den Befunden der modernen Hirnforschung stellt er die christliche Position der Einheit von Leib und Seele und die sich daraus ergebenden Handlungsweisen entgegen. Anschließend geht es um „Verantwortung und Liebe“. Der konzise Diskurs über Verantwortungsethik geht auf medizinische Problemfelder wie die Stammzellforschung und Genmanipulation ein, aber auch auf Liebe als Emotion oder als Gefühl. Rager fragt, ob sich Liebe aus sich selbst (nicht-reduktionistisch) verstehen lässt und erläutert natürlich auch die christliche Liebe.

Der Band schließt mit einem konzisen Kapitel über „Sterben und Tod“, den medizinisch-biologischen Aspekten sowie den Wegen zu einem lebensweltlich-philosophischen Zugang. Ragers mit profunden Quellenangaben gespickter Anthropologie-Band will kein Lehrbuch sein, „also nichts Definitives“ (S. 19). Indem er aus den unterschiedlichen Perspektiven von Naturwissenschaft, Philosophie und Theologie das „Mensch sein“ beleuchtet, macht es blinde Flecken jeder einzelnen Wissenschaft deutlich und schafft die Grundlagen für eigene Reflexionen und vielfältige Diskussionen. Kann eine interdisziplinäre Anthropologie mehr leisten? (wh)

Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke (wh) war bis 2010 Akadem. Direktor am Institut für Anthropologie, Fachbereich 10 (Biologie), der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er ist Mitglied der Leopoldina – Nationale Akademie der Wissenschaften und der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin. henkew@uni-mainz.de

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